Residenz Theater Der Kissenmann von Martin McDonagh


 

 

Es war einmal ... oder wenn Märchen wahr werden

Ein fiktiver Dichter mit Namen Katurian K. Katurian wird in einem fiktiven Land von den fiktiven Polizisten Tupolski und Ariel zu einer fiktiven Untersuchung geholt und am Ende, des Mordes und der Anstiftung zum Mord überführt, hingerichtet. Natürlich ist auch diese Hinrichtung fiktiv. Nebenher werden einem kleinen fiktiven Jungen die Zehen abgehackt, einem fiktiven Mädchen als Vorspiel erst eine Dornenkrone aufgestülpt, dann die Beine gebrochen, um sie schließlich ans Kreuz zu nageln. Fiktive Eltern werden mit Kissen erstickt und zahllose fiktive Kinder durch den Kissenmann vorsätzlich in den suizidalen Unfalltod geschickt. Martin Donagh erspart dem Zuschauer wenig, wobei er sich fortwährend auf die Fiktion beruft. Doch ihm geht es nicht um das Massaker an sich, sondern um die Fiktion, und was sie auszulösen im Stande ist. Eine künstlerische Fiktion ist ad definitionem ein Vorgang, der zwar erfunden ist, doch ausreichend Realitätsbezug hat, um möglich zu sein. Und hier tritt der Zuschauer in die Realität ein, nämlich in eine Realität, die mehr und mehr von der (brutalstmöglichen) Fiktion, sintflutartig von den Medien produziert und vervielfältigt, beherrscht wird. Donaghs dramatischer Entwurf greift weit, doch leider nicht weit genug, um den Zuschauer kathartisch geläutert zu entlassen. Sein Kriminalstück ist exzellent gebaut und in jeder Situation voller Überraschungen. Er folgt in seinem zwischen (romantischer) Poesie, philosophischem Anspruch und künstlerisch überhöhter Alltagssprache wandelnden Text den besten Traditionen angelsächsischen Witzes. Selbst die Hinrichtung Katurians eignet sich dafür noch.
 
 

 
 

Oliver Nägele

© Thomas Dashuber

 

 

Das Bühnenbild von Alexander Müller-Elmau als karg zu bezeichnen, käme einer Untertreibung gleich. Vielmehr könnte es als Ausdruck für Sparzwang stehen, dem sicherlich auch das Residenztheater ausgeliefert ist. Doch das entschuldigt nicht, dass es zur künstlerischen Brechung des Vorgangs wenig oder gar nicht beitrug. Umso bemerkenswerter war das Spiel der Darsteller. Christian Nickel entwickelte die Figur des Katurian deutlich nachvollziehbar vom abgeklärten, gelegentlich opportunistischen Schriftsteller hin zum erkennenden, in seinen Grundfesten erschütterten Zeitgenossen, der in tiefster Verzweifelung seinen eigenen Tod in Kauf nimmt, um sein Werk zu retten. Die Rolle seines Bruders Michal, ein durch Folter zurückgebliebenes, unter Afterjucken leidendes Großkind, wurde von Michael von Au verkörpert. Von Au legte alle Facetten dieses monströs deformierten Charakters bloß, ohne den Menschen dahinter zu denunzieren. Seine Gestaltung erheischte beim Zuschauer Verständnis und Mitleid. Tupolski (Oliver Nägele) und Ariel (Marcus Calvin) verkörperten das Klischee vom guten und vom bösen Bullen, das jedoch als Klischee durch Oliver Nägeles Tupolski benannt und gleichsam aufgehoben wurde. Es hätte ohnehin nicht standgehalten, denn beide Darsteller durchleuchteten ihre Figuren so tief, dass alles plakative von ihnen abfiel. Regisseur Hans-Ulrich Becker dürfte wenige Probleme gehabt haben, die Figuren zu schaffen. Davor war Donaghs Text, der eine Fülle von Spielmaterial anbietet. Becker gelang es, die Vorlage in ihrer Vielseitigkeit mit Lust umzusetzen.

Die Antworten auf die sich auftuenden Fragen sind jedoch in der Inszenierung nicht zu finden. Eine dieser Fragen, sie verbirgt sich verschwommen hinter der Figur des Polizisten Tupolski, sollte wohl sein, ob die absolute Freiheit der medialen Meinungsäußerung bei fehlenden oder unterentwickelten Ethikauffassungen die Gesellschaft nicht gefährdet? Die absolute Freiheit zur medialen Äußerung ist eine heilige Kuh. Aber sie ist eben nur eine Kuh und will darum gehütet werden!
Wenig hilfreich für die Beantwortung dieser Frage sind die Auslassungen Herbert Selgs (Professor für Psychologie an der Universität Bamberg) im Programmheft. Er doziert über die Komplexität der Psyche des Menschen und der Gesellschaft, ohne auch nur ein Mal einen deutlichen Standpunkt zu beziehen. Und genau das ist es, was die Inszenierung leider auch nicht auszeichnet. Alle Fragen bleiben offen.

Dabei spricht dieses Stück von der Zukunft und die kann man sich, wenn man einigermaßen mit offenen Augen durchs Leben geht, an fünf Fingern abzählen, soweit diese noch nicht abgehackt sind. Eine nichtfiktionale Vater-Sohn-Geschichte soll an dieser Stelle erzählt werden. Erinnert sei an George Bush (Senior), der der Welt verkündete, den Mut (nach Nietzsche eine Unteroffizierstugend) zum ersten Golfkrieg erlangte er durch einen "Rambo"- Film mit Sylvester Stallone. Die inoffiziellen Opferzahlen (offizielle wurden bereits abgeschafft) waren sechsstellig. Sein Sohn W. agiert inzwischen völlig auf der Basis rein fiktiver Gründe ...

Immanuel Kant setzte vor die absolute Freiheit einen kategorischen Imperativ und niemand konnte ihn bisher glaubhaft widerlegen. Tröstlich in Bezug auf die Zukunft ist vielleicht der Satz von Konrad Lorenz, der, nach dem "missing link" zwischen Tier und Mensch befragt, antwortete: Wir sind das missing link.

Der Besuch dieser Inszenierung ist emotionale Schwerstarbeit für den Zuschauer, die aber immerhin einige wichtige Fragen aufwirft. Darum sei sie empfohlen.

 
Wolf Banitzki

 

 


Der Kissenmann

von Martin McDonagh

Oliver Nägele, Marcus Calvin, Christian Nickel, Michael von Au, Linda Hemmetzberger / Charlotte Savkin

Regie: Hans-Ulrich Becker
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