Residenztheater Das weite Land von Arthur Schnitzler


 

 

Du sollst nicht begehren …

Warum Arthur Schnitzlers „Das weite Land“? Nun, erst einmal, weil dieses vielgespielte Drama heuer 100 Jahre alt wird und in jedem Fall eine Huldigung verdient. Zudem ist dieser Text, wie die Inszenierungsgeschichte zeigt, eine sichere Bank, bestens geeignet für die Antrittsinszenierung eines neuen Intendanten. Martin Kušej, in der Vergangenheit nicht immer unumstritten, weil unbequem und auch nicht konsequent dem „guten Geschmack“ verpflichtet, landete mit seiner Inszenierung elegant und weich in München und machte seinen „Woyzeck“, mit dem er sich am 21. Juni 2007 am Münchner Residenztheater vorstellte, weitestgehend vergessen. Ein Kritikerkollege konstatierte derzeit: „Kušej wandelt an den Schmutzrändern der Kunst.“ Natürlich ist es nicht gerecht, einen Künstler nur an einer Arbeit zu messen. So darf man auch gespannt sein, was Martin Kušej weiterhin anzubieten hat. Die Herzen des Publikum konnte er mit „Das weite Land“ immerhin schon erobern und seinen Kreditrahmen großzügig abstecken.

„Das weite Land“ ist Schnitzlers erfolgreichstes und wohl auch repräsentativstes Stück. Der Mann, der als Übersetzer der Freudschen Lehren in die Kunst gelten kann, war auch Freund des epochalen Psychoanalytikers. Der Kotau, den er vor dem Wissenschaftler vollführte, wurde von diesem auf gleiche Weise erwidert. Und so kann man von einem symbiotischen Werk sprechen, bei dem Schnitzlers Stücke exzellente Illustrationen der Freudschen Lehren abgeben.

In „Das weite Land“ wird die Geschichte des Fabrikanten Friedrich Hofreiter erzählt, der, verheiratet mit Ehefrau Genia, nicht umhin kann, sämtliche attraktive weibliche Zweibeiner zu hofieren und zu erobern. Die Geschichte beginnt mit dem Selbstmord des Pianisten Korsakow und endet mit dem Mord (vorsätzliche Tötung im Duell) an einem jungen Offizier namens Otto. Beide waren Rivalen des Alphamenschen Hofreiter. Beide bezahlten ihre Zuneigung zur Frau des Fabrikanten mit dem Leben. Ungeklärt bleibt dabei, welchen Rolle Hofreiter bei der Selbsttötung spielte. Im Verlauf des Stückes erobert Hofreiter die junge Erna Wahl, um die sich der Freund Dr. Franz Mauer bemüht, womit Hofreiter seine gesellschaftliche Isolation vollkommen macht, denn Mauer war ihm bis dahin der einzige echte Freund.
 
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Juliane Köhler, Tobias Moretti

© Hans Jörg Michel

 

Martin Kušej erklärte im Vorfeld der Premiere, dass ihm männliches Verhalten wie das von Hofreiter überaus zeitgemäß erscheint und damit lag er zweifellos richtig. Die psychologischen Strategien des Verführens und des Lügens sind heute ebenso authentisch wie in dem vor einhundert Jahren geschriebenen Stück. Es kann wohl getrost von einer genetischen Verankerung gesprochen werden, wenn es um das Urteilsvermögen von Männern in Bezug auf Ehebruch geht. Was Mann sich selbst unter Aufbietung freiheitlich-liberaler Floskeln zugesteht, wird Frau noch längst nicht bewilligt. Und wenn der Fall eintritt, dass Frau auf Abwegen wandelt, wird der aufgeklärte, freiheitliche Mann zum Höhlenmenschen. So trefflich wie Schnitzler dies herausarbeitete, so deutlich transportierte die Inszenierung von Martin Kušej diese Einsichten. Selbstverständlich kann seine Interpretation die Schlüsselfrage, die Frage nach dem Warum des permanenten Drangs zum Ehebruch, nicht letztgültig beantworten, tat Schnitzler dies in seinem Drama doch auch nicht. Der Dichter rettete sich in zwei indifferente Ausreden: Der Mensch sei ein „kompliziertes Subjekt“ und seine Seele „ein weites Land“. Und doch ging der Regisseur Kušej mit seiner Lesart einen wichtigen Schritt über die Analyse Schnitzlers hinaus. Er rückte die soziale und gesellschaftliche Determination der Protagonisten dezent, aber deutlich in den Fokus. Die dargestellte Gesellschaft lebte ganz augenscheinlich ohne zwingende Verpflichtungen in selbstgefälligem Müßiggang. So traten die Beschäftigung mit sich selbst an die Stelle von gesellschaftlichen Aufgabenstellungen. Besonders deutlich wurde dies in den Tennismatches, die stets mit Blutvergießen einhergingen. Was normalerweise Freizeitbeschäftigung ist, wurde blutiger Wettstreit. Regisseur Kušej schreibt einige wichtige Gründe des destruktiven Handelns der Tatsache zu, dass die Gesellschaftsschicht von Hofreiter und Co. eine weitestgehend sinnentleerte Gesellschaft ist, die mit Egomanien aller Couleurs aufgeladen wird. Bei näherer Betrachtung der heutigen Gesellschaft entpuppte sich diese Lesart als eine sehr sinnvolle. Hofreiter selbst ist zwar ein überaus unternehmerischer und aktiver Mann, doch in seiner Philosophie dominiert auf jeder Ebene das Besitzergreifen.

Auf Martin Zehetgrubers Bühne dominierten in den unterschiedlichen Bildern drei Elemente: Ein dichter Vorhang aus Trauerweiden, der gleichsam ein Dickicht schuf und die Spielfläche auf der Vorderbühne begrenzte; ein Vorhang aus Wasser, durch den die Darsteller mussten, um in das Spiel zu gelangen und eine gewaltige, die gesamte Bühne einnehmende Gerölllandschaft, welche die Dolomiten vorstellen sollte. Die einfach und deutlich angelegten Strukturen schufen Hintergründe für Figurenkompositionen, die beeindruckten. Ebenso klar wie das Bühnenbild war auch die Einrichtung des Spiels, wobei die Zuschauer erstmals viele neue Darsteller erleben konnten, die Intendant Kušej an das Residenztheater verpflichtet hatte.

Allen voran Tobias Moretti, der diesen Abend zu einem außerordentlichen machte. Morettis Präsenz war so dominant wie die Rolle Hofreiters selbst. Sein Spielgestus war dezent, dabei präzise und eindringlich und frei von Manierismen. Mit einem Wort: fesselnd! Moretti gab einen Hofreiter, dem schwer zu widersprechen war, selbst wenn die Logik Kapriolen schlug oder er sich in einem Satz mehrfach selbst ad absurdum führte. Neben Tobias Moretti blieben alle anderen Rollen Nebenrollen. Dennoch erlebte der Zuschauer einen Mannschaftsspieler, der anspielte und abgab. Den größten Raum konnte sich Markus Hering erspielen, der im Drama den moralischen Gegenpol einnahm und zugleich der einzige Verbündete Hofreiters war. Obgleich sein Part im Stück geringer ausfiel als der von Hofreiters Ehefrau Genia, war sein Spiel facettenreicher und komödiantischer, als das von Juliane Köhler. Ihre Darstellung der Ehefrau sollte im Stück vielleicht die Amoral ihres Gatten entlarven, lieferte auf der Bühne allerdings einige (aus männlicher Sicht nachvollziehbare) Gründe für dessen Ehebruch. In ihrer Gequältheit als Betrogene, in ihrem geradezu hysterischer Umgang mit der Wahrheit in Zeiten der Unschuld (auch sie machte sich des Ehebruchs schuldig) schuf sie ein Bild von einer Frau, das vornehmlich eines vermissen ließ: weibliche Anziehungskraft. Um so verständlicher erschien, dass sich Hofreiter mit Frau Natter amüsiert hatte, die vollbusig und unmittelbar erotisch von Katharina Pichler gegeben wurde. Ebenso nachvollziehbar war, dass er sich von Erna Wahl angezogen fühlte. Britta Hammelstein spielte sie frisch und unbefangen mit viel natürlicher Erotik. Du sollst nicht begehren … Leicht gesagt. Vielleicht war es ja auch beabsichtigt und Regisseur Kušej wollte beim (männlichen) Publikum Verständnis und Mitgefühl für Hofreiter erzeugen, der wohl in jedem männlichen Wesen steckt?
Unbedingt erwähnenswert war das Spiel von Barbara Melzl, die in der Rolle der Frau Wahl auf recht grelle Weise die dekadenten Züge der Gesellschaft beschrieb. Viel Applaus erhielt am Ende auch Eva Mattes. Dieser Applaus galt sicherlich der großen Schauspielerin, als die man sie kennt und verehrt. In der sehr kleinen Rolle der Schauspielerin Anna Meinhold-Aigner hatte sie kaum Gelegenheit, eine wirkliche Kostprobe ihres Könnens zu geben. Es war vielmehr eine warmherzige Begrüßung.

Nun ist der erste Vorhang der Spielzeit im Residenztheater aufgegangen und er gab nicht nur den Blick auf eine gelungene Inszenierung frei, sondern verhieß mit neuen Gesichtern, neuen Spielweisen und neuen Lesarten einen Neuanfang. Man kann gespannt sein.

 
Wolf Banitzki

 

 


Das weite Land

von Arthur Schnitzler

Gunther Eckes, Thomas Gräßle, Britta Hammelstein, Markus Hering, Juliane Köhler, Shenja Lacher, Eva Mattes, Barbara Melzl, Tobias Moretti, Gerhard Peilstein, Katharina Pichler, August Zirner

Regie: Martin Kušej