Residenztheater Zur Mittagsstunde von Neil LaBute


 

 

Wenn es an Moral mangelt

Es geschah zur Mittagsstunde. Ein Mann im Militarylook, bewaffnet mit Maschinenpistole und Messer, betrat die Büroräume einer Firma, in der er selbst vor kurzem noch angestellt war. Er eröffnete das Feuer und erschoss annähernd 40 Mitarbeiter. Einer Kollegin, die sich tot gestellt hatte, um dem Massaker zu entgehen, schnitt er die Kehle durch. John Smith, er hielt sich ebenfalls in den Räumen auf, versuchte zu fliehen, als er plötzlich eine Stimme, die Stimme Gottes, hörte, die ihm befahl, sich nicht von der Stelle zu rühren. Dann würde er errettet. Tatsächlich überlebte er als einziger das Massaker. Der Amokläufer richtete sich selbst.

John Smith, ein farbloser, unauffälliger, sich durch nichts auszeichnender Zeitgenosse, war Gott begegnet und wusste, dass er sein Leben ändern musste. Er wollte von nun an gut sein und von Gottes Güte Zeugnis ablegen. Er fühlte sich als ein Berufener, ein Erwählter. Als ein Messias gar? Nein, so stellte es sich nicht dar. Zweifel kamen auf, als bekannt wurde, dass er in höchster Gefahr ein Foto vom Tatort machen konnte, welches den Täter und einige Teile der Opfer zeigte.

Norman Hacker präsentierte dem Publikum über lange Zeit einen Smith, der glaubhaft seine Epiphanie vermittelte. Smith suchte einen Anwalt auf, und präsentierte diesem das Foto. Arnulf Schumachers Anwalt war verschlagen, feist, ordinär im Denken und von korrupter Gesinnung, einer der sofort Witterung aufnahm nach der Farbe des Geldes, als er das blutrünstige Bild sah. Nun, es kann ja wohl nicht schaden, wenn man bei einer göttlichen Mission finanziell gut ausgestattet ist. Darin herrschte Einigkeit. Und ein warmer Dollarregen ging nieder auf den Erleuchteten.

Doch bereits der erste Versuch, ein guter Mensch zu sein, scheiterte. Smith hatte ein Grundstück gekauft und offenbarte seiner Ex-Ehefrau Ginger, dass er an dieser Stelle, mit der sich romantische Erinnerungen verbanden, ein Haus bauen wolle, worin die Familie wieder zusammenkommen sollte. Katrin Rövers Ginger holte Smith nüchtern und bestimmt auf den Boden der Realitäten zurück. Und diese Realitäten besagten, dass John ein beziehungsgestörter Lügner war. Sie beendete die Farce sehr selbstbewusst und verschwand. In diesem Sinn setzte sich die Geschichte fort. Smith versuchte seine Ex-Geliebte Jesse, gestaltet von einer flippig-bissigen Andrea Wenzl, auf seine Seite zu ziehen, um einen Neuanfang unter veränderten Vorzeichen zu wagen. Doch Jesse hatte John längst durchschaut. Auch sie ließ ihn abblitzen und Smith fiel im Zustand der Erregung auffällig oft in seine zynisch verachtende Diktion zurück.

Es war schwer für John Smith, gut zu sein, obgleich er mit dem Brustton der Überzeugung das Gegenteil predigte. So versuchte er auch Gigi, eine Prostituierten und die Tochter der gemeuchelten Kollegin zu einem gottgefälligen Leben zu überreden. Friederike Ott, deren Laszivität immer wieder an den Klippen nüchternen Semantik in der Beschreibung und Darstellung ihrer Profession zerbrach, kreierte ein bedauernswertes Geschöpf. Gigi, die ihren wirklichen Namen angstvoll verleugnete, da sie sich schamhaft ertappt fühlte, war dünnhäutiger, als sie zu vermitteln versuchte. So wurde sie letztlich devotes (und bezahltes) Opfer der verbalen Unterwerfung durch Smith.  

Das eigentliche Desaster hatte Smith allerdings in der Talkshow von Jenny erlitten. Michaela Steigers Jenny, war eine typische Vertreterin einer wahrhaft zynischen Medienwelt, in der die Gäste lediglich als Stichwortgeber für die profilierungssüchtigen und selbstverliebten Moderatoren engagiert werden. So landete seine messianische Botschaft auf recht erbärmliche Weise im Orkus der Lächerlichkeit. Als der Polizeiinspektor, schneidend scharf von Sierk Radzei gegeben, ihm schließlich versprach, ihn und seine Lügen zur Strecke zu bringen, sollte man meinen, Smith gebe auf. Weit gefehlt, wie das letzte Bild verdeutlichte.
 
  mittagstunde  
 

Norman Hacker

© Hans Jörg Michel

 

In dieser Welt bahnen sich vornehmlich die absurdesten Ideen und Figuren ihren Weg durch den Dschungel der Orientierungslosigkeit. Das Schlimmstmögliche wird nicht selten das Wahrscheinliche. Oder, wie Oliver Stone über G.W. Bush sinngemäß sagte: Ein Exalkoholiker, der zu Gott gefunden hat, ist das Schlimmste, was uns passieren konnte. (Der Regisseur entstammt einer guten alten republikanischen Familie!)

Regisseur Wilfried Minks erzählte die Geschichte um den Erleuchteten und zum Berufenen aufgestiegenen John Smith schnörkellos und bedrückend nüchtern. Das vom Regisseur geschaffene Bühnenbild war ausschließlich funktional, und in der utilitaristischen Reduktion beeindruckend wie alte  japanische Architektur. Landschaften wurden großflächig projiziert. Wie alle Stücke von Neil LaBute, hat auch dieses einen starken Plot. Auf den verließ sich Regisseur Minks und steuerte seine Inszenierung sicher ans Ziel.

Eine sehenswerte Aufführung, die sehr nachdenklich macht in Zeiten neu aufkeimender Religiosität, die auf allen Seiten in Fundamentalismus zu münden droht. In Zeiten der Orientierungslosigkeit und des Werteverfalls sind moralische Aufhänger gefragt. Es spricht nicht unbedingt für die Spezies Mensch, dass überwiegend religiöse, also scheinbar von Gott (oder Göttern) formulierte Moralgesetze obsiegen. Diese werden als absolut und verbindlich angesehen. Durch demokratische Parlamente erarbeitete Gesetze, die auf der Basis der Vernunft fußen, werden inzwischen von den christlichen Taliban ebenso verleugnet wie von den moslimischen.

Empfehlenswert wäre, ehe wir neuerlich von Erleuchteten zum „wahren Glauben“ und zur „wahren Moral“ erweckt werden, mal wieder in die Heiligen Schriften zu schauen, um zu begreifen, wie widersprüchlich, ignorant und dümmlich versucht wird, Menschenmassen vom Denken abzuhalten. Auslöser für LaBute war die Geschichte der Wandlung des Saulus, der zahllose Christen getötete hatte, zum Paulus, der dann als moralische Instanz das Wort Gottes verkündete. Eine beeindruckende Geschichte, ausgerechnet einen Schlächter zu erwählen. Aber in der selben Heiligen Schrift wird beispielsweise auch die Geschichte von Lot erzählt, der einzige (!) von Gott ausgemachte gute Mensch in Sodom, der mit seiner Familie den Untergang der Stadt überlebte. Nachdem zwei männliche Engel die Behausung Lots besuchten, um ihm zu offenbaren, dass er die Stadt schnellstens verlassen müsse, da sie dem Untergang geweiht sei, rotteten sich die Bürger vor Lots Wohnstatt zusammen. Sie forderten von Lot: „Wo sind die Männer, die zu dir gekommen sind diese Nacht? Führe sie heraus zu uns, damit wir uns über sie hermachen.“ (1. Mose 19,5) Was antwortete der Mann, der von Gott als der einzige moralische Mensch ausgemacht wurde? „Ach, liebe Brüder, tut nicht so übel! Siehe, ich habe zwei Töchter, die wissen noch von keinem Manne; die will herausgeben unter euch, und tut mit ihnen, was euch gefällt; aber diesen Männern tut nichts, denn darum sind sie unter den Schatten meines Daches gekommen.“ (1. Mose 19,7-8)

Es sei noch einmal darauf hingewiesen: Es gibt Menschen, die nehmen die Heiligen Schriften wörtlich, denn ihnen wird von „heiligen Männern“ garantiert, dass es sich um Gottes Wort handelt. John Smith, ein Nobody, glaubte von sich, so ein heiliger Mann zu sein. Wehe dem, der ihm glaubt.

 
Wolf Banitzki
 
 

 


Zur Mittagsstunde

von Neil LaBute

Norman Hacker, Friederike Ott, Sierk Radzei, Katrin Röver, Arnulf Schumacher, Michaela Steiger, Andrea Wenzl

Regie: Wilfried Minks