Residenztheater Erpressung von Pippo Delbono
Pippo Delbonos Theater ist ein sehr individuelles, geboren aus seiner ureigenen Persönlichkeit und deren Besonderheiten. Der HIV infizierte Regisseur führte in seinem Leben einen existenziellen Überlebenskampf, den er auf einer spirituelle Ebene schließlich gewann. Die Veränderungen, die ihm die Tatsache seiner Erkrankung abverlangten, waren sehr ungewöhnlicher Natur. Um die Bodenhaftung nicht zu verlieren, tat er sich mit Bonò zusammen, einen taubstummen Mann, den er in der Psychiatrie von Aversa kennen lernte. Bonò saß dort 45 Jahre ein, abgeschieden von der Welt, denn niemand beschäftigte sich ernsthaft mit ihm. Seither verbringen die beiden Männer das Leben gemeinsam.
Pippo Delbonos Rezeption der Realität ist auf das Detail gerichtet, das verräterische, das entlarvende Detail. Seine künstlerische Spiegelung ist gleichsam die Darstellung, das Erzählen scheinbar unbedeutender Geschichten, hinter denen sich ein größtmöglicher Subtext verbirgt. Die Themen sind allemal die größtmöglichen, sie sind menschlich und sie sind politisch. Wo dem Menschen Schmerzen zugefügt werden, muss der Mensch politisch werden, um zu überleben. Darum ist das Theater von Pippo Delbono politisches Theater. Doch es ist weit mehr als das, wie eine Geschichte belegt, die im Programmheft abgedruckt ist. Eines Tages traf der Regisseur im Theater einen sonderbarer Junge, der ihm erzählte: „Ich habe alle deine Aufführungen gesehen, sie haben mich sehr getroffen, verstanden hatte ich sie niemals wirklich. Danach erlitt ich einen Unfall, ich lag anderthalb Monate im Koma. Dann wachte ich auf, jetzt verstehe ich dein Theater.“ (Pippo Delbono, Programmheft zur Inszenierung im Residenztheater)
Damit wären wir wieder beim individuellen, aus den Besonderheiten der Persönlichkeit resultierenden Theater des Italieners und sofort drängt sich die Frage auf, wie allgemeinverständlich kann dieses Theater, in deutlicher Entfernung zu den Konventionen, sein. „Theater sollte jenseits der Konventionen etwas in unserem Unterbewusstsein anrühren.“ (Ebenda) Wichtigstes Mittel dabei ist der „theatrale Körper“. Dieser Körper ist ein universaler, nicht konkret - aber deutlich, ein kindlicher, ein unverbildeter, wie Pippo Delbono meint. Folglich liegt die Theatralik Delbonos in der Geste, auch in der Pose, in der Bewegung, im Rhythmus der Bewegung und erst dann im Wort.
Inspiriert von Pina Bausch, qualifiziert Delbono das Unterbewusstsein zum eigentlichen Schöpfer. Dabei entsteht ein „Performer“, Jerzy Grotowski suchte ihn lebenslang, als universaler, von jedem Betrachter verstandener Archetypus des Darstellers, der zugleich ein kultureller Analphabet (ein unverdorbener Bobò) ist. Dass dies erst einmal nur ein Wunsch sein kann, liegt auf der Hand. Und so ist jede Inszenierung Pippo Delbonos ein Wagnis für die Künstler und die Zuschauer gleichermaßen. (Geht es schief, müssen beide die Suppe auslöffeln.)
In „Erpressung“ stellte sich der Italiener einer Welt, die er als Diktatur der Heuchelei begreift, als eine der denkbar schlechtesten, gegen die es zu opponieren gilt. Und da die Heuchelei und deren Tyrannei in alle Fasern der Realität Einzug gehalten hat, gab es kein eigentliches Generalthema. Jedes schien willkommen zu sein, denn jedes ist ergiebig: Die Frau wird erklärt, - nicht wie sie ist, sondern wie sie sein soll. Der Mann erklärt sich ungewollt selbst als Ausgangspunkt von Heuchelei, z.B. in der Leugnung von Geschichte (der gelbe Judenstern wird zum Sheriffstern). Um so bedrückender werden die Bilder vom einstigen Konzentrationslager. Die Uniform, der möglicherweise älteste und konstanteste (männliche) Archetypus, ist vielleicht die lächerlichste und zugleich erschreckendste Erscheinung der Weltgeschichte. Und sie ist präsent, keine Diktatur funktioniert ohne sie. Geradezu wollüstig wird sie ad absurdum geführt. Die größte aller Heuchelein findet in Bezug auf Freiheit statt, ein philosophisch definierter Idealzustand, den es dem Wesen nach in der Realität gar nicht gibt. Trotzdem wird diese Chimäre immer wieder beschworen, vornehmlich, um die Diktatur zu rechtfertigen. Und dann sind da noch die Medien, die es geschafft haben vom Bildungsauftrag weg, hin zur reinen Unterhaltung und zur Quote zu gelangen. Die Medien sind wohl für den einigermaßen gesunden Menschen die peinlichste aller modernen Errungenschaften. Der schlechte Geschmack kennt inzwischen kein Maß mehr. Dabei gibt es doch im bürgerlichen Recht den Straftatbestand der Volksverhetzung. Ist vorsätzliche Volksverblödung nicht ein ähnlich schlimmes Delikt?
Marie Seiser, Jürgen Stössinger, Gunther Eckes, Guntram Brattia, Robert Niemann, Dascha Poisel, Arthur Klemt, Wolfram Rupperti © Hans Jörg Michel |
Pippo Delbono geht hart ins Gericht mit der Welt. Und um das tun zu können, schafft er erst einmal eine. Seine Bevölkerung reicht vom goldglitzernden Entertainer bis hin zum schwulen Paar. Die vorgestellte Welt hat keine innere Ordnung, lediglich eine Choreografie. Und so wird der Betrachter eingeladen zu einer Reise durch das Chaos. Jede Szene ist dabei ein „Finger-in-die-Wunde-legen“, manchmal bedrückend, manchmal komisch, verstörend allemal. Nicht alles erschließt sich auf Anhieb. Manches will mitgenommen werden, einiges lohnt sich nicht. Letzteres war auch schon mal der Tatsache geschuldet, dass Pippo Delbono die Perspektive des kulturellen Analphabeten wählte, dabei schon mal Plattitüden verbreitete und es inhaltlich nicht über die eigene ästhetische Messlatte schaffte. Zwischen wunderbaren Szenen mit Offenbarungscharakter schlich sich auch schon mal sprachliche Bedürftigkeit ein. Sinn machte zweifelsohne alles, nur erging er sich manchmal in indifferenten Andeutungen. Damit lieferte sich das Gesamtwerk beliebigen Interpretationen aus, oder aber einer rigorosen Ablehnung, wie sie neben den euphorischen Bravos nach der Premiere deutlich zu hören war.
„Zusammenhanglos, banal, überästhetisiert“, war zu hören. Dem kann weder uneingeschränkt zugestimmt, noch widersprochen werden. Es war die natürliche Reaktion auf einen künstlerischen Akt, der von individueller Subjektivität lebte und sie auch einforderte.
Pippo Delbono genießt inzwischen Kultstatus. Gemeinsam mit dem Violinisten Alexander Balanescu, der ihm viele Bühnenmusiken komponierte und auch interpretierte, schuf er eine klangvolle Bilderwelt, in der Zeit eine andere Rolle zu spielen schien, in der Bewegungen anders als erwartet abliefen, in der Innehalten mehr erhellte als Handeln. Gerade in der Ästhetik droht das vermeintliche kulturelle Analphabetentum aber auch zur Koketterie zu werden. Zu deutlich sind die Handschriften und Einflüsse anderer Künstler. Wie auch nicht, denn schließlich wird nicht erwartet, dass Pippo Delbono das Theater neu erfindet. Der wahrheitliche Glanz seiner Bilder rechtfertigen diesen (scheinbaren) Widerspruch allemal. Immerhin, die Bodenhaftung kann Delbono nicht abgesprochen werden, und darum geht es ihm wohl in erster Linie. Und trotzdem: Anderssein ist nicht nur immer wiederkehrendes Thema in seiner Arbeit, es ist auch der eigene Anspruch. Denn jeder ist anders, er muss nur als solches begriffen werden.
Um diese Inszenierung annehmen zu können, braucht es Zeit. Sich kritisch zu verhalten, insbesondere. Was Eindruck machte, muss immer wieder benannt werden, damit sich das Bewusstsein bildet. Da war zuallererst das Bühnenbild von Anneliese Neudecker. Vom Portal bis in den hintersten Winkel der Bühne schlängelte sich ein betonfarbener Kanal, der wie bei einer Schleuse siebenfach abgeteilt war mit schieberartigen Wänden. Eindringen in Tiefe wurde zu einem sinnlich wahrnehmbaren Vorgang. Dabei erzeugte allein das Heben der Schleusenwände ein Spannung, wie sie neugierigen Kindern eigen ist. Was wird sich jetzt in der Tiefe offenbaren? Z.B. das Gesicht Pippo Delbonos, der mit dem Publikum das Plaudern anfängt, es entspannt, erheitert und fasziniert mit dem weichen Klang seines italienischen Singsangs.
Vorn an der Front agierte Artur Klemt als TV-Entertainer. Er hatte das schwerste Los gezogen, denn seine Geschichten war die über die Medienwelt. Wie will man die Trivialblödheiten des Mediums künstlerisch brechen, ohne dabei Gefahr zu laufen, sie zu wiederholen? Und wie will man etwas als Volksverblödung und geistige Bevormundung charakterisieren, was längst zum alltäglichen Selbstverständnis geworden ist? Marie Seiser hatte es da etwas leichter, die Frau als (vom Mann) designtes Objekt zu verkaufen. Dieses Thema war diffiziler angelegt, denn schließlich fallen selbst Frauen auf den Unsinn herein, den sie selbst ausbrüten, wie Quotenforderungen oder unbewusste geistige Travestie als Ausdruck von Gleichberechtigung der Geschlechter. Blaustrümpfig erklärte Frau Seiser, was der Frau zu Gesicht steht und was nicht. Es muss allerdings befürchtet werden, dass hier und da im Publikum innerlich genickt wurde. Entstellte Mütterlichkeit demonstrierte Dascha Poisel, als sie mit dem Kleid gleichsam das darin befindliche Mädchen bügelte. Guntram Brattia und Gunther Eckes hinterließen großen Eindruck mit ihrem Dialog zwischen Romeo und Julia (Es war die Nachtigall und nicht die Lerche, / Die deinem Ohr ins bange Innre drang;). Wie anders klingen Shakespeares Verse doch, wenn sie von einem homosexuellen Paar gesprochen werden!
Gunter Eckes Offizier erinnerte an die uniformierten Potentaten dieser Welt. Sie sind eine der gefährlichsten Spezies unter den machtgeilen Alphagesellen, denn das Berufsethos des Soldaten wiederspricht allen humanistischen Grundregeln. In der Werbung des Residenztheaters war zu lesen, dass diese Inszenierung auch unter dem Eindruck des arabischen Frühlings entstand. In der Rolle von Gunter Eckes wurde dieser Ansatz sehr konkret. Als Jürgen Stössinger die Geschichte vom Kolkraben erzählt hatte, der sich als Warner entpuppte, entstand eine etwas kafkaeske Stimmung, vergleichbar mit der Geschichte „Vor dem Gesetz“. Doch als in der nachfolgenden Videoprojektion Bobò seinen sensiblen Blick über den Hof des Konzentrationslager streichen ließ, untermalt von krächzenden Artikulationen des Stimmlosen, bekam der Kolkrabe ein menschliches Gesicht. Diese Bilder waren von intensiver Suggestion. Auf der Bühne erfuhr Bobòs immaterielle Existenz durch den jungenhaften, fragilen Robert Niemann eine Fleischwerdung.
Es war ein Abend mit gewöhnlichen und ungewöhnlichen Bildern. Welche davon größeren Eindruck machten, soll unentschieden bleiben. Vielleicht war der Abend auch dazu angetan, die eigene seherischen Fähigkeit zu hinterfragen. Wer genau hinhörte, nahm das Krächzen des Kolkraben war und wer genau hinschaute, sah seine Schönheit. Das Publikum mag zwiegespalten gewesen sein, doch kaum jemand wird leugnen können, den Flügelschlag des Warners gespürt zu haben.
Wolf Banitzki
UA Erpressung
von Pippo Delbono
Guntram Brattia, Gunther Eckes, Arthur Klemt, Robert Niemann, Dascha Poisel, Wolfram Rupperti, Marie Seiser, Jürgen Stössinger Regie: Pippo Delbono |