Residenztheater Der Kirschgarten von Anton Tschechow


 


Aufwendige Ödnis

Seit der Eurokrise denken Politiker laut, manche auch lauthals, darüber nach, wie es mit Europa weitergehen wird, soll und muss. Es mehren sich die Stimmen, dass Griechenland ob seiner Schulden, die offensichtlich auch durch einen Fiskalpakt nicht überwunden werden können, besser aus der Eurozone austreten soll. Am Anfang war der Gedanke von einem geeinten solidarischen, multikulturellen, befriedeten Europa. Am Ende stehen die Buchhalter und verweisen auf rote Zahlen. Nichts ist mehr wichtiger als Geld. Aufgemerkt: Europa ist ein Kulturraum, vielleicht der bedeutendste der Welt. Diese Idee scheint kein Gewicht mehr zu haben, denn sonst würde man nicht leichtfertig auf Griechenland, der Wiege der europäischen Kultur verzichten wollen, das Land, das der Welt wie kein anderes das Verständnis für eine menschliche Gesellschaft geschenkt hat. Die Buchhalter organisieren die Zukunft, sich darauf verlassend, dass die Gesetze der Ökonomie es richten werden. Genau diese Geschichte erzählt Tschechow. Dabei kann man dem Kaufmann Lopachin, im Gegensatz zu den heutigen Politikern, seine Kulturlosigkeit nicht einmal vorwerfen. Er ist in sie hineingeboren worden, verschuldet durch die Herrschaft, denen er ihren Besitz nimmt. Lopachin hat nie am Kulturraum „Kirschgarten“ partizipiert, durfte in diesem nicht wachsen und gedeihen. Er zahlt es denen heim, die ihn ausgeschlossen hatten, um den Preis, dass der Kulturraum vernichtet wird.

Nun ist Tschechows „Der Kirschgarten“ schon an sich hochaktuell und jeder würde vermutlich die Aktualität sehen. Ist es nun mangelndes Vertrauen in das Publikum von Seiten der Regie, wenn Lopachin zur Hauptrolle avanciert und der Nebenstrang der Geschichte, das unaufhaltsame Abgleiten ins finanzielle Soll, die eigentliche, feingesponnene und poetische Geschichte vom moralischen und menschlichen Niedergang einer sozialen Schicht ersetzt? Oder ist es einfach nur Anmaßung Tschechow und dem Publikum gegenüber? Vielleicht ist es aber auch künstlerische Hybris, die über Werk und auch das Publikum hinwegschreitet, den ewigen Ruhm im Auge? Sicher ist, dass wieder einmal Tschechow draufstand und kein Tschechow drin war. Sicher ist auch, dass die Inszenierung am Residenztheater weit hinter den Möglichkeiten zurückblieb, die potenziell im Stück und den Darstellern stecken. Und sicher ist ebenso, dass diese Inszenierung die Bedürfnisse des Publikums nicht befriedigt, schon gar nicht, wenn das Publikum das Werk kennt.

Der Regisseur Calixto Bieito gehört zu den hochgehandelten Künstlern, denen offensichtlich jeder Kredit eingeräumt wird, obgleich seine Inszenierung oft „umstritten“ sind, was häufig nur eine Umschreibung für Scheitern ist. Der ästhetische Extremismus mit Neigung zum Monumentalen ist Markenzeichen des Katalanen, wobei der Sinn zumindest „Im Kirschgarten“ weitestgehend auf der Strecke bleibt. Warum wurde unter der Federführung Bieitos aus der Gutsbesitzerin Ranewskaja (Sophie von Kessel), eine jenseits von der Realität lebenden Frau, die eine parasitäre Hochkultur repräsentiert, eine partygeile, von depressiven Schüben geplagte Furie? Und wen oder was sollte der Bruder Gajew vorstellen, wenn der großartige Manfred Zapatka selbst rollentechnische Orientierungsprobleme hatte und hilflos vor sich hinknatterte? Warum konnte man über die clownesken Figuren Simenow-Pischtschik (Gerhard Peilstein) und Iwanowa (Ulrike Willenbacher), wie Bieito sie in seiner Inszenierung angelegt hatte, nicht lachen? Warum ist der Student Trofimow, die obligate utopistische Figur, wie es sie fast immer in Tschechows Stücken gibt, nicht nur unglaubhaft, sondern lächerlich-peinlich. Lukas Turtur gab bestimmt sein Bestes. Und warum fiel es so schwer, dem Diener Firs zuzuschauen? Ob Jürgen Stössinger wirklich wusste, was er tat?
 
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Sophie von Kessel, Gerhard Peilstein, Ulrike Willenbacher, Lukas Turtur, Katrin Röver, Franz Pätzold

© Matthias Horn

 

Wie ist es möglich, dass ein Stück wie „Der Kirschgarten“, eigentlich eine sichere Bank für jeden halbwegs begabten Regisseur, zu einem derartigen Desaster geraten konnte? Vielleicht, weil Regisseur Calixto Bieito Tschechows Geschlossenheit der Vorlage konsequent ignorierte und sich herausgeklaubt hat, was sich bildtechnisch gut verbraten ließ? Die Spielweise fast aller Darsteller ließ sich am ehesten mit hysterisch bezeichnen. Deutlichkeit, etwas was Bieito wegen seiner sprachlichen Prägnanz (?), insbesondere im Umgang mit Klassikern nachgesagt wird, kam nicht auf. Alles was im Umfeld des berserkerhaften Lopachin (Guntram Brattia) passierte, blieb Grauzone.

Calixto Bieito bevorzugt in seinen Inszenierungen Bildgewalt. (Hier drängt sich der Gedanke an die rüde Gewalt von „Bild“ auf.) Zu der verhalf ihm Bühnenbildnerin Rebecca Ringst. Nachdem der Prospekt mit der schönen Außenansicht der Villa gefallen war, bot sich dem Zuschauer ein Bild, das an ein aufgebrochenes Segment des KDF-Bades Prora erinnerte. Diese seelenlose Architektur verfiel nach und nach donnernd und krachend. Warum die Darsteller ebenfalls Hand anlegten und ihrerseits das Zerstörungswerk fortführten, blieb ebenfalls das Geheimnis des Regisseurs. Der Bespielbarkeit der Bühne war der Schutthaufen mit aufgerissenen Böden nicht dienlich. Was hier als Bildgewaltigkeit angedacht war, blieb Ödnis mit großem Aufwand.

Insbesondere den jungen Theaterbesuchern sei in aller Deutlichkeit mit auf den Weg ins Residenztheater gegeben, dass „Der Kirschgarten“ ein Werk des Regisseurs Calixto Bieito ist, zu dem er bei Tschechow Anleihen genommen hat. Tschechow ist ein Dichter der leisen Töne, Bietio eher ein hemmungsloser, überlauter, nicht selten nervender Orgiast. Lesen wäre da ein gute Alternative. Normalerweise ist im Buch auch Tschechow drin, wenn Tschechow draufsteht.

 
Wolf Banitzki

 


Der Kirschgarten

von Anton Tschechow

Guntram Brattia, Thomas Gräßle, Sophie von Kessel, Franz Pätzold, Gerhard Peilstein, Katrin Röver, Friederike Ott, Marie Seiser, Jürgen Stössinger, Lukas Turtur, Ulrike Willenbacher, Manfred Zapatka

Regie: Calixto Bieito
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