Theater Viel Lärm um Nichts  Die Irre von Chaillot von Jean Giraudoux


 

Melancholischer Abgesang zum Jahresende

Zu allen Zeiten, selbst in den schlimmsten, gab es Menschen, deren Vernunft so rein war wie Diamanten, deren Moral so unerschütterlich wie ein Fels und deren Intelligenz so scharf wie ein Rasiermesser war. Diese Menschen waren immer die Samen für eine gute Welt, die dereinst kommen wird! Und wer da sagt, das stimmt nicht, ist kleinmütig und verzagt. … Cut! Schluss mit Pathos. Zurück zur Realität. Zurück zur ruchlosen Denkungsart, wie Schopenhauer den Optimismus nennt. Seinen Argumenten kann man sich nur schwer entziehen: „Und dieser Welt, diesem Tummelplatz gequälter und geängstigter Wesen, welche nur dadurch bestehen können, dass eines das andere verzehrt, wo daher jedes reißende Tier das lebendige Grab tausend anderer und seine Selbsterhaltung eine Kette von Martertoden ist, ... dieser Welt hat man das System des Optimismus anpassen und sie uns als die beste unter den möglichen andemonstrieren wollen. Die Absurdität ist schreiend.“

In einer wohl ähnlichen Situation befand sich Jean Giraudoux (1882 - 1944), ein Mann von höchsten Tugenden, den eingangs beschriebenen Menschen durchaus ähnlich, der die Franzosen die Poesie und die Deutschen die Vernunft lehren wollte, als er sein Stück „Die Irre von Chaillot“ (La Folle de Chaillot) schrieb. Durch die deutschen Besatzer, keinem Volk fühlte er sich mehr verbunden als dem deutschen, in die innere Immigration genötigt, musste er erleben, wie Kriegsgewinnler, Spekulanten und Verbrecher aller Couleur an die Oberfläche gespült in einer Ochlokratie, den Ausverkauf aller Werte, der materiellen und der kulturellen, betrieben.

Zuerst verschwindet neben der Wahrheit auch die Schönheit. Letztere zurück zu erobern, ist das Anliegen der in die Jahre gekommenen „Gräfin“ Aurélie, genannt die Irre von Chaillot. Wenn Margit Carls als Aurélie die ganze Mischpoke aus Börsenspekulanten, Schiebern und Politikern auf eine todbringende Reise in die Pariser Kloake schickt und Paris auf diese Weise von einer wahren Seuche befreit, geschieht das nicht unter Jubel, sondern ist begleitet von einer majestätischen Melancholie, etwas, was Frau Carls meisterlich zu gestalten vermag. Diese Haltung ist durchaus angemessen, denn Menschen in den Tod zu schicken, verbietet sich für jedes zivilisierte Wesen. Der Tod ist wegen seiner Irreversibilität keine zivilisatorische Strafe, denn sie setzt die Unfehlbarkeit der Rechtsprechung voraus und ist somit eine Anmaßung.

Vermutlich hat sich Jean Giraudoux sehr schwer getan mit dem Schluss. Schließlich stellte er dem Urteil eine Gerichtsverhandlung voran, in der der Lumpensammler (Timo Alexander Wenzel) den Angeklagten gab. Er war sich seiner gesellschaftlichen Berechtigung mehr als sicher und legte in seiner Argumentation die Perfidie, die Menschen- und Kulturverachtung der Ritter des Geldes bloß. Das Gericht, neben Aurélie, der Irren von Chaillot, aus drei ebenso irrwitzigen Freundinnen bestehend, Constance (Claudia Schmidt), Gabrielle (Sven Schöcker) und Joséphine (Arno Friedrich), die „Irren“ von Passy, St-Sulpice de Paris und La Concorde, kommt am Ende zu dem Todesurteil. Dabei kann man dieses Urteil durchaus als Notwehr ansehen, denn die Verurteilten hatten nichts Geringeres vor, als ganze Stadtteile von Paris wegzubomben, um an Erdölvorkommen zu gelangen, die angeblich unter der Stadt lagerten. Die Kostprobe in der Kloake unter dem Haus von Aurélie wurde zur Vollstreckung des Urteils.

Es ist wieder einmal ein brandaktuelles Stück, von Margit Carls übersetzt und in eine, dem Spielort angepasste Fassung gebracht, das Regisseur Andreas Seyferth im Theater Viel Lärm um Nichts in der Pasinger Fabrik auf die Bühne brachte und sich dabei aller erdenklicher Theatermittel bediente. Immerhin mussten von acht Darstellern zweiundzwanzig Rollen realisiert werden. Eine wahre Revue an fantastischen Kostümen von Johannes Schrödl zog am Auge des Betrachters vorüber. Der Raum von Peter Schultze bot schier endlose Möglichkeiten, auf die Szene zu gelangen. Gespielt wurde selbst aus dem Publikum heraus und der finale Abstieg in die Unterwelt, höllisch rot illuminiert von Jo Hübner, war eine perfekte Illusion. Diese Inszenierung bewies einmal mehr, wie Theater Räume entgrenzen kann durch Licht und auch durch Klang (Kai Taschner).

Geboten wurde bestes Ensembletheater, in dem jeder auch seinen „großen Auftritt“ hatte, denn schließlich handelte es sich um eine Vorlage von Jean Giraudoux, dem Großmeister der Sprachpoesie, dem Dompteur des Surrealen, dem vorzüglichen Menschenkenner. Und jeder nutzte sie auf unverwechselbare Weise. Claudia Schmidt gab einen clownesken Taubstummen ebenso beredt wie die verrückte Constance mit praller Körperlichkeit und osteuropäischem Akzent. Arno Friedrichs Präsident hatte in seiner Anbetung des Goldenen Kalbes schon fast transzendentale Züge, ganz im Gegensatz zu seinem überaus menschlichen 2. Polizisten. Melda Hazirci fiel der Part der Irma zu, Geschirrwäscherin im Café „Chez Francis“. Ihre Philosophie: Man lasse die Küsse, die Berührungen, die … über sich ergehen, sage allerdings die berühmten drei Worte nur zu dem einzig Richtigen. Der hieß Pierre und wurde von Mario Linder gespielt, der zudem ein beinahe pantomisches Blumenmädchen als Sonnenblume mit pakistanischem Akzent verkörperte. (Der Einfachheit halber: Alle Blumenverkäufer kommen aus Pakistan! Oder Umgebung. – W.B.)

Sven Schöckers Prospektor war ein echter Bluthund, seine Gabrielle, die Irre von St-Sulpice de Paris, hingegen ließ das Bild von Conchita Wurst verblassen. Denis Fink war der Mann für die Szenen dazwischen, den Sänger, der keinen Text hatte, den Retter, der den zu Rettenden durch einen Knock out versehentlich von einem Bombenattentat abhielt, den Kloakenmann, der wie eine seltsam fremde Lebensform anmutete und mit einigen Klischees über die Unterwelt, also die Kloake aufräumte. Es gab durchaus Lehrreiches, wenngleich die errungenen Wissensinhalte kaum praxistauglich waren.

Vor allem aber gab es Momente der Besinnung darüber, in welchem Zustand sich die Welt befindet und damit schließt sich der Kreis zu Schopenhauer wieder. Der Untergang unserer Welt, zumindest einiger Inseln, ist bereits sichtbar geworden und wir würden gern gegenlenken. Allein der Wachstumsgott donnert uns vom Börsenparkett entgegen: „Änderungen bringen uns den Untergang! Seid optimistisch, wir werden es für Euch richten.“ Und die Welt glaubt ihm, dem tönernen Gott, dem die Zukunft schlichtweg egal zu sein scheint, noch immer seinen Optimismus. Warum? Schopenhauers Antwort: „Der Optimismus darf, als obligat, in keinem philosophischen System fehlen; denn die Welt will hören, dass sie löblich und vortrefflich sei.“

Gänzlich frei von billiger Ideologie und banalen Erziehungsversuchen, war der Premierenabend ein melancholischer Abgesang zum Jahresende. Er war keine Feierlichkeit zu einem großartigen Jahr, aber er war voller praller, lebensbejahender Komik und auch voller märchenhafter Schönheit. Er war das Lächeln Giraudoux´ über das André Gide sagte: „Keine Macht der Welt, außer der Barbarei, vermag dem Lächeln Giraudoux´ zu widerstehen.“

Wolf Banitzki

 


Die Irre von Chaillot

Eine romantische Satire von Jean Giraudoux

Arno Friedrich, Claudia Schmidt, Sven Schöcker, Melda Hazirci, Denis Fink, Mario Linder, Timo Alexander Wenzel, Margrit Carls

Regie: Andreas Seyferth

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