TamS Fragen Sie Ihre linke Hand, wem sie gehört von Jean Tardieu


 

 

Vögel haben Flügel

Als Jean Tardieu im Januar 1995 starb, schrieb eine deutsche Zeitung: „Er war der letzte lebende Revolutionär der französischen Literatur.“ Tardieus Hochzeit fiel in das "Zeitalter des Misstrauens", wie Nathalie Sarraute die von extremer Skepsis und künstlerischen Neuerungen geprägte Nachkriegsära nannte. Die literarische Anarchie, von Dichtern wie Beckett, Tardieu, Audiberti, Michaux, Obaldia, Ionesco losgetreten, atmete erfrischende geistige und gestalterische Freiheit. Dabei wurde so ziemlich alles demontiert, was es an überkommenen Werten gab: Mit Tradition wurde gebrochen und Ordnung aufgehoben, Sprache auf ihre kommunikative Tauglichkeit hinterfragt und die Gesellschaft in ihrer Absurdität dargestellt, Gott (und mit ihm die Kirche) wurde geschlachtet und der Begriff Vaterland erzeugte nur mehr ein müdes Lächeln. Die Dichter produzierten hellsichtigen Unsinn, unsinnigen Tiefsinn und gelegentlich auch schieren Wahnsinn. Das Durchbrechen von Denkmustern erreichte bis dato ungekannte Ausmaße. „Wie stellen Sie sich einen abwesenden Fisch vor?“ Die Theatermacher und Poeten des Absurden stellten Fragen, auf die es keine Antworten geben konnte. Aber allein schon die Fähigkeit, derartige Fragen zu stellen, beweist, wie begrenzt die geistige Existenz bis zum Augenblick der Fragestellung war. Die Entgrenzung war eingeläutet.

Literarische Figuren wie Professor Froeppel, ein Verwandter des Monsieur Teste von Paul Valéry, betraten die Weltbühne und gerierten sich als personifiziertes Fragestellung. Froeppels fanatische Sprachsuche gipfelte immer wieder in der Erkenntnis, dass die sedimentierte Hochsprache tot und erledigt sei. Er nannte es: „Blabla, tralala plums!“ Seine Forschungen galten der Geheimsprache von Kindern und Verliebten, und er konnte mit Pflanzen reden: „Rechte Blätter rechtsum, linke Blätter linksum! Universum vorwärts marsch! Pampam, parampampam!“ Froeppel war auf der Suche nach dem Urgestammel.

Tardieu hinterließ einen urkomischen Kosmos, der sich einer endgültigen Erforschung erfolgreich widersetzt. Sein Credo: „Die Worte fliegen von Mund zu Mund und von Ohr zu Ohr. Sie vibrieren, sie fliegen durch die Luft wie Mücken. Und ist nicht jeder Kopf, selbst der leerste, wie ein Wörterbuch angefüllt mit Worten, die bereit sind, sich nach allen Winden zu drehen?“ Es bleibt zu hoffen, dass sich auch zukünftig Regisseure von dieser Erkenntnis animieren lassen, die schrägen Figuren aus Tardieus „Kammerstücken“ auf die Bühne zu bringen. Das wunderbare am Theater des Absurden ist: Es wird sich immer wieder aufs Neue ein Sinn offenbaren. Nur weiß man nie, welcher das sein könnte. Im übrigen bedarf es beim Theater des Absurden nicht unbedingt und in jedem Fall, ähnlich wie bei surrealistischen Bildern, einer Ausdeutung. Es muss nur stimmig sein und dazu höre man auf seinen Bauch.

Hilde Schneider hatte sich daran gewagt, ein von ihr erarbeitetes Konzept aus unterschiedlichsten Tardieu-Stücken auf die Bühne des TamS zu bringen. Kern des dramatischen Textes ist „Der Schalter“, ein Zweipersonenstück, in dem es um die absurde Einrichtung Bürokratie geht. In einer eher tristen Auskunftei mit hölzernen Sitzbänken, grauen Felddecken und Katalogen als kurzweilige Lektüre fanden sich nach und nach einige Figuren ein. Die Auskunftei erkannte man an einem gläsernen Auskunftsschalter und vielen Ausgängen. (Bühne Claudia Karpfinger) Die Eingetretenen warteten. Worauf? Man erfuhr es nicht. Vielleicht auf Godot? Ein älteres Fräulein (Alexandra Riechert) glaubte in jedem Ankommenden ihren Verlobten zu erkennen. Sie hatte das richtige Kleid nicht an, was aber nicht von Bedeutung war, da die Beziehung ohnehin schon längst … Ein junges Mädchen (Isabel Kott) zog sich in den Schalter zurück, um sich mittels Perücke und Schuhen zu verwandeln. Sie hatte eine Menge Schuhe dabei. Allerdings von jedem Paar nur einen … Herr Wort (Zoltan Sloboda) repetierte Wörter aus seiner Zeitung. Es waren nicht selten Unwörter (des Jahres) … Ein Mann und eine Frau schienen in der Auskunftei zu stranden. Selbst ihre mitgeführten Taschenlampen konnten ihnen den Weg nicht erhellen. Man fragte sich, wie man sich von einem nichtexistenten Hindernis, trotz hinreichende Intelligenz, aufhalten lassen konnte. Schließlich fügte man sich in das Unabänderliche, und die Frau (Barbara Altmann) tat sich mit Herrn Wort zusammen, um gemeinsam mit erstauntem Ausdruck Wörter auszutauschen. Der Mann (Lorenz Claussen) entpuppte sich schließlich als das Orakel der Auskunftei…

Bleibt noch der Fragesteller (Achim Hall), der einige Male die Auskunftei mit seinem Navi durchquerte, ehe er sich bewusst wurde, dass er einige Fragen auf dem Herzen hatte. Zu dieser Einsicht verhalf ihm allerdings erst der Beamte, der gleichsam Informationen zu allen Bereichen des Lebens des Fragers einforderte. Der wurde gänzlich „gläsern“. Nun durfteer fragen. Er erkundigte sich nach Abfahrtszeiten von Zügen, der Frau seines Lebens, den Ursprung der Welt und nach einer noch zu wählenden Utopie. Naturgemäß wurden Antworten gegeben, die mit den Fragen wenig zu tun hatten, oder in denen die Fragen an sich ad absurdum geführt wurde. Unbehagen schlich sich ein. Voller Verzweiflung bekannte der Frager: „Ach, wenn die Vögel  Flügel hätten, flög ich mit ihnen davon“. Hoppla, Vögel haben Flügel, erinnerte sich der Beamte immerhin noch. Die Konversation war elegant, aber sinnlos. Nein, nicht sinnlos, vielmehr führte sie zu nichts. Selbst als die letzte aller Fragen gestellt wurde: Wann und wo werde ich sterben? hieß es: Draußen vor der Tür und gleich. Doch dann folgte darauf nicht sonderlich logisch: Auf Wiedersehen!

Warum Theater des Absurden? Weil die Realität bei näherer (und gesunder) Betrachtung allzu oft absurd ist, Tendenz zunehmend. Folglich schafft man Realität, wenn man das Absurde darstellt. Und Realität wurde sichtbar im Spiel. Beispielsweise der Akt bürokratischer Unterwerfung und Erniedrigung des Bürgers. Aber auch die zunehmende Lust an der Selbstunterwerfung des Fragers. Nebenher entstand eine Gruppendynamik bei den Mitspielern, die sich in verhaltener Häme und Schadenfreude äußerte. Warum soll es irgendeinem Menschen besser ergehen als ihnen selbst? Ist das nicht eine sehr reale und gleichsam absurde Form von Demokratie? Beobachtete man Herrn und Frau Wort bei der Zeitungslektüre und hörte man die Unwörter, konnte einem durchaus die öffentliche politische Kommunikation  absurd erscheinen. Die Unwörter ließen sich problemlos in den Wort- und Gedankensalat des orakelnden Beamten untermischen, dessen Befund schon mal lautete: „Sie sind nicht mehr hier, noch anderswo. Sie sind nirgendwo!“ Dabei hat Bürokratie schon etliche Male dazu geführt, dass leibhaftige Menschen nicht mehr existent waren. Dem Treiben auf der Bühne war einiges abzugewinnen, vorausgesetzt, man konnte sich darauf einlassen.

Hilde Schneiders Bemühungen waren durchaus lobenswert und ebenso mutig, angesichts der Abstinenz von Theater des Absurden in den heutigen Spielplänen. (Dabei müssten Tardieus literarischen Kostbarkeiten rauf- und runtergespielt werden.) Atmosphärisch war die Inszenierung dank des Bühnenbildes und den trefflichen Kostümen von Katharina Schmidt  sehr stimmig. Leider mangelte es der szenischen Umsetzung jedoch an witzigen Einfällen, Schabernack, Ulk oder auch Slapstick, um den Zuschauern auch zu bedeuten, dass gelacht werden darf. So wurden die Abgründigkeiten nicht immer sichtbar. Mit ein wenig Fantasie schaute man in den Abgrund des Daseins an sich. Das war wenig abwechselungsreich. Ein monotoner Ernst zog sich durch die gesamte Inszenierung. Es gab eine Menge Momente im Stück, in denen sich darstellerische „Verrenkungen“ angeboten hätten, um den Text deutlicher zu konterkarieren. In jedem Fall aber ist die einstündige Inszenierung eine Rarität und wer Tardieu, resp. seinen Werken, noch nie begegnet ist, der sollte sich die Chance nicht entgehen lassen.

 
 
Wolf Banitzki

 

 


Fragen Sie Ihre linke Hand, wem sie gehört

von und nach Jean Tardieu

Barbara Altmann, Lorenz Claussen, Achim Hall, Isabel Kott, Alexandra Riechert, Zoltan Sloboda

Konzept & Regie: Hilde Schneider