Teamtheater Tankstelle Eurydike von Sarah Ruhl




Poesie vs. Dramatik

Kaum ein antiker griechischer Mythos wurde so häufig und erfolgreich adaptiert, wie der von Orpheus und Eurydike. Das liegt sicherlich daran, dass es eine Liebesgeschichte ist, die in ihrer Konsequenz weiter geht als alle anderen. Eurydike kommt, jung verheiratet mit Orpheus, zu Tode. Der Sänger Orpheus betört mit seinem Gesang den Herrscher der Unterwelt, steigt ins Totenreich hinab und bekommt die Chance, Eurydike mit sich zu nehmen. Bedingung ist: Er darf sich nicht nach ihr umschauen. Orpheus schaut sich um und verliert das geliebte Wesen ein zweites Mal. Daraufhin wird er zum Misogyn, wendet sich von den Frauen ab und wird schließlich von einer Rotte Mänaden bei lebendigem Leib zerfetzt. Es ist eine Geschichte über die andere Seite der Liebe, die tödliche.

Die griechischen Mythen, sie bilden den Hintergrund der europäischen Kultur, sind Folien menschlicher Verhaltensweisen. In ihnen sind alle Grundkonflikte niedergelegt, mit denen sich der Mensch seit Anbeginn seiner Geschichte auseinander zu setzen hatte. Nur eines leisten die Mythen in ihrer archaischen Gestalt nicht; sie verraten nichts über die wirklichen Motive oder über die Psyche der handelnden Personen. Der Mythos erzählt lediglich die Handlung. Und genau das ist der Ansatz, der ihn für Dichter aller Zeiten so interessant machte. Die Mythologie ist ein wahrer Steinbruch von Geschichten.

Die amerikanische Dichterin Sarah Ruhl (Jahrgang 1974) erzählt ihre ureigene Fassung der Geschichte des vielleicht bekanntesten Liebespaares, märchenhaft und realistisch zugleich. Sie Dichterin zu nennen ist keinesfalls übertrieben, denn sie erzählt den Mythos in modernem Gewand auf sehr lyrische Weise. Dabei geht sie sehr großzügig und locker mit den Personen und den mythologischen Sachverhalten um.

Als Eurydike zu Beginn der Geschichte von einem „Mann“ in ein Penthaus in luftiger Höhe gelockt wurde, hatte man das Gefühl, es handle sich um einen pathologisch veranlagten Vergewaltiger. Im Mythos ist dieser Mann kein geringerer als Aristạịos, Sohn der Nymphe Kyrene und des Apollon. Später, wenn Orpheus die brünstige Mutter des Königs des Totenreiches befriedigen muss, handelt es sich bei der Dame um Rhea, die Mutter des Zeus. Des weiteren wurde viel über einen Fluss gesprochen, der das Erinnerungsvermögen manipulieren konnte. Gemeint war Lẹthe (griechisch: Vergessen). Im Mythos war der „Fluss des Vergessens“ fester Bestandteil der Unterwelt. Aus ihm mussten die ins Totenreich kommenden Verstorbenen trinken, um die Erinnerung an ihr früheres Leben zu vergessen.

Über die Herkunft Eurydikes erfuhr nur der Betrachter etwas, der, dank einer guten humanistischen Bildung, schon eingeweiht war. Als Orpheus in Sarah Ruhls poetischem Drama in Erinnerungen schwelgte, beschrieb er, dass Wasser aus dem Kopf, den Haaren der Geliebten floss. Eurydike dazu: „Schwerkraft ist sehr zwingend.“ Sie war eine Wassernymphe und dieses Bild war eine sehr gelungene Metapher für die Menschwerdung des Feenwesens. Für den Unkundigen blieben solche Bilder, so schön sie auch sein mochten, kryptisch.

Aber sei es drum, entscheidend war letztlich, was diese Fassung uns über uns sagen konnte. Sarah Ruhl lieferte in poetischen Bildern eine nachvollziehbare Liebesgeschichte, die vornehmlich durch eines bestach, durch die gelegentliche Banalität des Seins. Nichts an der ganzen Geschichte ist spannender als der Grund, warum sich Orpheus wider die Abmachung mit Hades nach der Toten umschaut. Der Grund sei hier allerdings verschweigen. Nur soviel, er war glaubhaft.

Die Darsteller fühlten sich in der Geschichte ganz augenscheinlich wohl. Es wurde munter drauflos gespielt, mit großem körperlichen und stimmlichen Einsatz. Katharina Friedl gab eine bodenständige Eurydike, mädchenhaft und ausgelassen, was die traurigen Momente, und derer gab es viele, deutlich kontrastierte. David Scholzs Orpheus war eine Künstlernatur, den Blick zumeist nach Innen gerichtet, und unentwegt seiner Arbeit als Musiker zugetan. Darüber hinaus zeigte er einige artistische Einlagen, die Orpheus als gesunden jungen Mann charakterisierten. (Im Mythos war er zeitweise Argonaut!) Oliver Scheffel hatte wohl den anspruchsvollsten Part. Er spielte den „Mann“, der den Tod Eurydikes verursachte, wie bereits erwähnt mit pathologischen Zügen. Später stolzierte er in Herrscherpose überlebensgroß als Hades einher. Zwischendrin verwandelte er sich gemeinsam mit Antoinette Wosien und Walter von Hauff zu Steinen, sprechenden weisen Steinen. Walter Hauff gab den Vater Eurydikes, selbstquälerisch - aber plausibel in seiner Liebe zur Tochter. Er schlug, wenn er aus der Vergangenheit sprach, Töne an, die an das Amerika von John Ernst Steinbeck erinnerten. Antoinette Wosien, erinnerungslose Großmutter Eurydikes und brünstige Mutter von Hades, fiel besonders in der zweiten Rolle auf. Dies nicht zuletzt wegen des fantasievollen Kostüms von Kati Kolb.

Regisseurin Corinna D’Angelo ließ in diese mühelos anmutende Inszenierung ihre Erfahrungen als Tänzerin einfließen. So waren einige Szenen mehr choreographiert als eingerichtet. Dieser Ansatz unterstützte die zahlreichen poetischen Momente. Ohne Zweifel muss man der Regie gute und überzeugende Einfälle attestieren, auch ließ die Inszenierung in punkto künstlerischer Geschlossenheit und Schauspielerführung wenig zu wünschen übrig. Die sehr gute Lichtregie von Hans Peter Boden und nahezu perfekte Musik waren unüberseh- und hörbar. Bodens Bühnenbild war in seiner Kargheit mehr dem Tanztheater verpflichtet, was die Enge des Teamtheaters überwinden half.

Dennoch gipfelten die Bemühungen aller Beteiligten nicht in der Begeisterung der Zuschauer, die sie verdient hätten. Der Text wies über weite Strecken zuviel Lyrik und zu wenig Dramatik auf, was die unmittelbaren Gefühle beim Betrachter ausbremste oder in andere Bahnen lenkte. Es war eine sehenswerte Arbeit, die jedoch unterm Strich in ihrer sprachlichen Dramatik dem Gegenstand der Geschichte nicht gerecht wurde – nicht gerecht werden konnte.


Wolf Banitzki

 

 


Eurydike

von Sarah Ruhl

Katharina Friedl, Antoinette Wosien, Walter von Hauff, Oliver Scheffel, David Scholz


Regie: Corinna D’Angelo