Theater Halle 7 Villa Dolorosa von Rebekka Kricheldorf
Eine Gesellschaft die auf der Stelle tritt – Veränderung, doch wie, wohin, wozu? Nirgends stellt sich so deutlich die Frage nach dem Sinn, wie in den Augenblicken an denen man an seinen Abgründen steht. Die moderne Gesellschaft steht an Grenzen und die Menschen finden sich zu Gruppen zusammen, zu Sippen und suchen nach Freiräumen, suchen ihre Möglichkeiten, ihre Anlagen zu leben. Alle Wege sind offen und doch scheint keiner gangbar, was bleibt ist der Kompromiss als Lebensprinzip an dem man verzweifelt. Der Alltag, die kleine Realität, siegt immer. „Aufstehen, sich waschen, leben, schlafen, sich waschen, leben, schlafen, aufstehen ...“ Der Alltag kümmert sich nicht um ideologische Gesellschaftsprinzipien oder persönliche Lebensideen, er führt sein unmittelbares Eigenleben.
Nahtlos geht ein Geburtstag in den nächsten über, als wäre ein Tag wie ein Jahr und die Zeit eine Illusion. Der Weg auf der Via Dolorosa wird seit zweitausend Jahren gepflegt und gegangen. Er mündet nun in der Villa Dolorosa, in einen äußeren statischen, vom Verfall bedrohten Zustand in dem im Gegenzug das Innere des Menschen an einen Laufsteg genagelt, präsentiert wurde.
Irina feiert Geburtstag, drei missratene Geburtstage in Folge – feiern, reden, reden, scheitern – dazwischen dringen die Veränderungen durch. Sie sucht ihren eigenen Weg, hängt ab im Bett, wie die Liste der Seminare an der Wand hängt und reflektiert jeden Tag zwischen sieben Uhr morgens und Mittag. Ein sensibles nach Sinn suchendes Leichtgewicht verkörperte Eva-Maria Kapser, welche von launig lebenshungrig bis starr verweigernd viele Facetten spiegelte. Irinas letzte Hoffnung, nach den abgebrochenen Studien der Philosophie und der Mikrobiologie ist Jens. Er ist öde, doch sie hat beschlossen sich auf ihn einzulassen und die Konsequenz Ehe einzugehen. Doch: Die Möglichkeiten übertreffen bei weitem die Möglichkeiten, die der Vorstellungen übertreffen die der äußeren Umstände, welche wiederum die reduzieren die im Menschen angelegt sind, und so bleibt nur das Kreuz, oder der Laufsteg auf den Irina sich genagelt fühlt am dritten Geburtstag, an dem Jens mit Susanne ihrer Einladung folgt und sie „ihre letzte Hoffnung“ an der Türe abweisen lässt.
Olga, die Älteste lebt die Vorgaben von Eltern und Gesellschaft, sie ist Lehrerin und zielstrebig. Sie wird Direktorin, „weil kein Besserer da ist“ und vereinsamt völlig. Sie ist sich der Vereinsamung bewusst und geht dennoch einfach weiter. Resolut, bestimmend und innerlich erstarrt, das waren die am deutlichsten hervortretenden Eigenschaften, welche Gabriele Raab der Figur Olga gab.
Mascha die jüngste, unternimmt erst gar nicht den Versuch dem naturgegebenen Modell etwas entgegenzusetzen außer dem Widerstand gegen die Fortpflanzung, die Fortsetzung desselben. Sie hat sich schon früh arrangiert und Martin geheiratet, einen Kollegen Olgas, doch sie nimmt heimlich die Pille um die Vermischung der von ihr erkannten Gene und Anlagen zu verhindern. Arbeit ist für sie „Schweiß und Brote backen“. Anna Maceda figurierte abgeklärte Zurückhaltung, brachte scheinbare Farblosigkeit zum Klingen. Dann begegnet Mascha der Liebe, dem verheirateten Georg und erstarrt in Angst vor der Konsequenz. Maximilian Schweninger stellte den Freund Andrejs vor, aufstrebend, gebildet und doch erkennbar mit dem Kreuz seiner Ehe beladen.
„Was für eine öde Party ... dieses Sitzen, Trinken, Reden ... diese Partys.“ Die Bühne wurde von dem Grundriss des Hauses eingenommen, einzelne Säulen ragten wie Grundpfeiler aus dem Boden, Treppen verbanden den Laufsteg Flur mit dem Außen und den Räumen. Fast konnte der Zuschauer vergegenwärtigen vor einer Ausgrabungsstelle zu sitzen, oder einer Ruine. Frank Campoi gestaltete die Flächen zudem mit Styropor, machte Weichheit und Verletzlichkeit sichtbar dadurch. Die drei Schwestern erschienen in intellektuelles Schwarz gekleidet oder in den zunehmend alkoholgeschwängerten somnambulen Momenten in leichten weißen Nachthemden. „Was für eine öde Party ... dieses Sitzen, Trinken, Reden ... diese Partys.“ Da ist nichts zu ändern, da trinkt man lieber Wodka denn Whiskey, sucht und erkennt verbindend Gemeinschaftliches in einem ehemals östlich des 15 Längengrades praktizierten Prinzip. Regisseur Rouven Costanza inszenierte konsequent und führte die Darsteller, jeden für sich und alle gemeinsam, zu einem in sich geschlossenen Kosmos, der in sich die Gratwanderungen zwischen Lebenslust, Agonie, Hysterie und Selbstzerstörung veranschaulichte. So stand Irina im Türrahmen, trat einen Schritt vor, stieß an, trat einen Schritt zurück, stieß an, trat vor ... trat zurück. Galt es doch die Ausweglosigkeit aufzuzeigen und/oder über Ekstase der Mittelmäßigkeit zu entfliehen. Es gelang ihm nicht nur mit der Vielzahl von einprägsamen Bildern den Spannungsbogen über zweieinhalb Stunden zu halten. Eine sehenswerte vielschichtige bildreiche Inszenierung!
Anna Maceda, Martin Hagenguth, Gabriele Raab, Eva-Maria Kapser, © Astrid Ackermann |
Andrej, der Bruder der drei Schwestern, konzipiert einen Roman in dem er ein mögliches zukünftiges Gesellschaftsbild entwirft, bis er Janine begegnet. Martin Hagengut gab einen angepassten, sich den Realtitäten stellenden Andrej, dessen sichtbares Erlebnisspektrum von vergeistigt bis pragmatisch reichte. Kathrin Anna Stahl spielte glaubhaft die simple an Klischees orientierte junge Frau. Sie bringt, ihrer Herkunft gemäß, die einfachen Hobbys wie Nähen und die Gestaltung des Äußeren in die Hausgemeinschaft ein. Janine wird schwanger und die Prämissen ändern sich. Andrej geht einer Arbeit im Kulturamt nach, er führt eine gemeinsame Haushaltskasse ein und rechnet die Schulden hoch, wickelt die Kinder und baut einen überdimensionierten Sandkasten.
Komische Momente und Wortwitz erreichten das Publikum. Eine Komödie, deren tragische Momente zwar durchaus erheiternd wirken, doch damit letztlich nur die Verzweiflung offensichtlich machen. Genaue Beobachtungen, Analysen der Gesellschaft und deren Mechanismen zeichnen das Stück aus. Rebekka Kricheldorf, geboren 1974, macht auf der Bühne Veränderungen und Stillstand am Bild ihrer Generation sichtbar. Anton Tschechow, geboren 1860, schrieb das Stück „Drei Schwestern“ 1901 und hielt darin seine Sichtweise auf Einsamkeit, Selbstbehinderung und Lebensüberdruss fest. Kricheldorf aktualisierte dieses in Sprache und Inhalten. Es entstand eine gelungene Adaption eines klassischen Werkes. Und ist damit per se auch nur wieder ein Beispiel für die Möglichkeiten ... welche grundsätzlich dem Menschen offenstehen. Großes Theater!
Andrej, der sich als „Humus für die kommenden Genies“ zu begreifen begann, hält äußerlich mit familiärer Kleinbürgerlichkeit in „der guten alten Ordnung“, Stellung gegen alle Individualansätze und lässt damit die inkonsequenten Versuche der Schwestern schon im Ansatz scheitern. Das ist Alltag, praktizierter Alltag, welcher Abläufe regelt, reale Grenzen aufzeigt, Konsequenz sichtbar macht. Der Alltag, die kleine Realität, siegt immer und dennoch trägt er die lebendigen Gedanken des Einzelnen. „Aufstehen, sich waschen, leben, schlafen, sich waschen, leben, schlafen, aufstehen ...“ oder denken, reflektieren, entwickeln, versuchen, scheitern, aufstehen, sich waschen, denken, schlafen, reflektieren, leben, versuchen ... Der Alltag kümmert sich um ideologische Gesellschaftsprinzipien und Lebensideen, er überführt sie in sein unmittelbares Eigenleben.
Villa Dolorosa
von Rebekka Kricheldorf
Drei missratene Geburtstage frei nach Tschechows „Drei Schwestern“ Eva-Maria Kapser, Gabriele Raab, Anna Maceda, Martin Hagenguth, Kathrin Anna Stahl, Maximilian Schweninger Regie: Rouven Costanza |