Residenztheater Die Ratten von Gerhart Hauptmann


 

 

Elend, Tod und die Ästhetik

Zwei Geschichten werden in Hauptmanns „Die Ratten“ erzählt, die immer wieder miteinander kollidieren und deren Protagonisten sich auf moralischer Ebene aneinander reiben. Ort der Handlung ist ein Berliner Mietshaus. Die erste Geschichte handelt von Frau John, deren Mann als Maurerpolier in Hamburg Altona arbeitet. Frau John, die erst kürzlich ihr Kind „Adalbertchen“ verloren hatte, überzeugt das schwangere und sitzen gelassene polnische Dienstmädchen Pauline Piperkarcka, die sich im Landwehrkanal ertränken will, davon, dass sie das Kind zur Welt bringt und in ihre Obhut gib. Das Kind erblickt auf dem Dachboden des Mietshauses die Düsternis der Welt, auf dem der ehemalige Theaterdirektor Harro Hassenreuter seinen Theaterfundus lagert. Das Kind ist ein Junge und erhält von Frau John wiederum den Namen „Adalbertchen“. Herr John, ihr Ehemann, der in dem festen Glauben ist, es sei sein Kind, kündigt seinen Job in Hamburg und kehrt endgültig nach Berlin zurück. Als Pauline Piperkarcka, von ihrem Gewissen geplagt, ihr Kind mit Nachdruck zurückfordert, schiebt Frau John ihr erst das Kind der heruntergekommenen Nachbarin Knobbe unter und als das nicht funktioniert, beauftragt sie ihren verwahrlosten Bruder Bruno Mechelke, sich der Sache anzunehmen. Der tötet das Mädchen und macht sich aus dem Staub. Als Frau John die Konsequenz ihres Handelns begreift, stürzt sie sich aus dem Fenster.

Verwoben ist diese tragödische Geschichte mit der des Theaterdirektors Harro Hassenreuter, einem deutschnationalen Mittelstandsbürger, und seiner Familie. Seine Ehefrau muss in der Gewissheit überleben, dass ihr Mann ein notorischer Fremdgänger ist, dessen Mätresse Alice Rütterbusch, Schauspielerin, schon beinahe fester Bestandteil der Familie ist. Seine Tochter Walburga erntet beim Vater nur Zorn, angesichts ihrer Versuche, selbstbestimmt und mit ihrem Geliebten, dem Theologiestundenten Erich Spitta, zu leben. Der wiederum hat sich entschlossen, Schauspieler zu werden. Zwischen Theaterdirektor Hassenreuter und Spitta entbrennt ein Streit über Fragen der Ästhetik auf dem Theater. Spitta entpuppt sich als ein Vertreter des Naturalismus und prangert die „idealistische“ Kunstauffassung Hassenreuters an, die er die „Schillerisch-Goethisch-Weimarische Schule der Unnatur“ nennt. Am Ende wird Hassenreuter erneut zum Theaterdirektor berufen und die Familie verlässt, inklusive der Geliebten, frohen Mutes Berlin.

Wann immer eine Inszenierung dieses Dramas ansteht, entbrennt zugleich auch eine fieberhafte Positionsbestimmung zum Naturalismus. Hauptmann war kein konsequenter Naturalist; davor war die kunstvolle Gestaltung der Sprache, seiner Figuren und auch seiner Dramaturgien. Otto Brahm meinte nach der Uraufführung von „Vor Sonnenaufgang“, dass Hauptmann viel zu poetisch daherkäme, um naturalistisch zu sein. Zum besseren Verständnis sei angemerkt, dass konsequente Naturalisten wie Arno Holz und Johannes Schlaf forderten, die Kunst radikal auf die Natur (vor allem der gesellschaftlichen Vorgänge) zurückzuführen. Der Anteil von Kunst im Werk solle gegen Null gehen, was bedeutete: Kunst ist gleich Natur. Ihren Ursprung hatte diese Auffassung in dem unbeschreiblichen sozialen Elend um die Wende zum 20. Jahrhundert und die daraus resultierenden sozialen und psychischen Deformationen. Hauptmann entschuldigte sein Abweichen vom Naturalismus beinahe schamhaft mit dem Satz: „Kann ich dafür, dass die Natur auch schön ist?“


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Michele Cuciuffo, Valery Tscheplanowa

© Andreas Pohlmann

 

Mit Yannis Houvardas nahm sich ein griechischer Künstler des Stoffes an. Das ist keineswegs weit hergeholt, denn Hauptmann bereiste 1907 Griechenland und verfasste von 1940 bis 1944 eine Atriden-Tetralogie, wie sie erstmals von Aischylos (Orestie, 458 v.Chr.) geschrieben worden war. Hauptmann war lebenslang ein Sinn-Suchender, um seine eigenen Tragödien zu verstehen. Dabei war es unausweichlich, dass er schließlich die Archaik mit ihren menschlichen Grundschemen streifte, mit der sich viel, nicht alles wohlgemerkt, erklären lässt. Als Erwin Piscator die Hauptmannsche „Orestie“ 1962 an der Berliner „Freien Volksbühne“ an einem Abend spielte, meinte er, im Werk Hauptmanns eine antifaschistische Haltung gefunden zu haben. Friedrich Luft bemerkte dazu: „Der gute, alte Erwin Piscator kann’s nicht lassen. Er möchte immer noch das Theater zu einem Platz politischer Schulung verengen.“ Und genau hier liegt die größte Gefahr im Umgang mit Hauptmanns Werk. Jeder Versuch, das Drama zu einem politischen Lehrstück zu machen, wäre einr Geringschätzung.

Yannis Houvardas meisterte diese Hürde und inszenierte ein Drama, das neben dem sich unweigerlich auftuenden Zeitbezug vor allem den Focus auf die Archaik menschlichen Handelns lenkte. Es liegt in der Natur der Dinge, dass sich verschärfende Widersprüche zu radikaleren Handlungsweisen führen. Gerade diese auseinander driftenden sozialen Positionen konterkarieren diesen Vorgang und es entsteht eine sonderbare Zusammenhanglosigkeit zwischen dem Milieu der „Kleinen Leute“, wie Zille sie nannte, und einer Kunst, repräsentiert von Hassenreuter, die sich bewusst und auf hypertrophe Weise darüber stellt. Es ist ein düsteres Stück und wenn die Szenen am beklemmendsten sind, entsteht eine Komik, die an Beckett erinnert. Houvardas rückt diese Komik nie in den Vordergrund, sondern verabreichte sie homöopathisch, damit die Geschichte den Zuschauer nicht überwältigte und erträglich blieb.

Valery Tscheplanowas Frau John war eine grazile, aber mental starke Frau, deren ursprüngliches Naturell verborgen blieb. Einzig die Verteidigung ihres verwahrlosten Bruders Bruno, animalisch, egoistisch und trotzdem zweifelnd von Tom Radisch gespielt, ließen frühe und verschütt gegangene menschliche Bindungen erahnen. Das Leben und die Verzweifelung an selbigem hatte sie hart gemacht und unerbittlich. Dabei war die Liebe zu dem Kind ihr wichtigster Handlungsantrieb, der sie schließlich in die Katastrophe schlittern ließ. So deutlich, wie sie sich für den Bruder einsetzte, so diffus blieben über weite Strecken die wahren Gefühle für ihren Ehemann. Michele Cuciuffo spielte diesen so gradlinig, wie Menschen nun eben sind, die einem harten und prägenden Handwerk nachgehen. In seinen Reflektionen, einem traditionellen und am Leben geschulten Wertesystem entspringend, bekamen die Vorgänge ihr grauenhaftes Antlitz. Das war Archaik pur.

Das Paralleluniversum, der bürgerliche Mittelstand, die Kunst und die Religion/Philosophie, speiste seine Gravitationskräfte aus dem Spannungsfeld zwischen dem selbstgefälligen, menschlich schwachen, aber beruflich gerissenen Harro Hassenreuter, wie Oliver Nägele ihn gab, und dem auf einem Selbstfindungstrip befindlichen, streitbaren und verzweifelten Erich Spitta, kongenial von Thomas Gräßle gestaltet. Angefeuert von seiner Liebe zu Marie Seiser als Walburga, Hassenreuters Tochter, tappt der idealistische Träumer in eben jene Realität, die seine Kunstauffassung geprägt hatte. Hinter dieser Rolle verbirgt sich übrigens der junge Gerhart Hauptmann höchstselbst.

Yannis Houvardas inszenierte mit disziplinierter Nüchternheit, was zu explosionsartigen Entladungen der Wahrheiten und der dadurch entfesselten Emotionen führte, die sehr viele Energien freisetzten. Bühnenbildnerin Katrin Nottrodt hatte die Hebebühne innerhalb der Drehbühne zu einem Wohngeschoss aus drei durchsichtigen Räumen gemacht. Von Anfang an wurden fahrbare Gitterkäfige vorgehalten, in welche die vom Schicksal und ihren eigenen Handlungen niedergestreckten Personen verschlossen wurden. So fanden alle Gescheiterten ihr letztes Zuhause im Gefängnis ihrer eigenen Taten. Ein gelungenes und sinnfälliges Bild mit großer Wirkung. Einziger, gezielt herbeigeführter ästhetischer Bruch war die Anwesenheit des Musikers Michael Gumpinger, der in der Maske und im Kostüm eines kurzbehosten, niedlichen (Schaufenster-) Knaben, vermutlich „das Gott-hab-ihn-selig-Albertchen“, das Geschehen von außen beobachtete und am Flügel musikalisch kommentierte.

Regisseur Houvardas enthielt sich jeglichen politischen Kommentars. Er beschränkte sich auf die künstlerische Umsetzung einer großen Tragödie, die so ihr Interpretationsspektrum nicht einbüßte und zum Philosophieren verführte. Das wäre sicher im Sinne Hauptmanns gewesen. Der aktuelle Text „Sozialdämmerung“ von Jürgen Borchert im Programmheft beschrieb, was sich längst als immer deutlicher werdendes Gefühl eingeschlichen hat. Man muss kein Apokalyptiker sein, um die darin angeführten Fakten über die Gesellschaft pessimistisch zu bewerten. Das Drama auf der Bühne des Residenztheaters machte in diesem Zusammenhang klar, dass die Politik, die im Stück nicht vorkam, nicht die Lösung, sondern das Problem darstellt, und dass die Fragestellungen über die Zukunft einfach eine Nummer größer sein müssen als die der heutigen Reformatoren, deren Streben einzig dem Bestandserhalt gilt. Ein starkes Stück Theater, das zu solchen Überlegungen verleitet!

 

Wolf Banitzki



 


Die Ratten
von Gerhart Hauptmann

Oliver Nägele, Ulrike Willenbacher, Marie Seiser, Thomas Gräßle, Sophie Melbinger, Michele Cuciuffo, Valery Tscheplanowa, Tom Radisch, Katharina Schmidt, Sierk Radzei, Hanna Scheibe, Sara Tamburini, Michael Gumpinger

Regie: Yannis Houvardas