Theater 44 Geschlossene Gesellschaft von Jean-Paul Sartre




Du bist, was dein Leben ist

"Umsonst wird keiner verdammt. Du bist, was dein Leben ist", sagt Ines. Sie sagt es zu ihren Mitgefangenen in der Hölle und deutet damit an, dass der Mensch sich selbst irgendwann stellen muss. Sie sind zu dritt. Garcian, der Deserteur, erniedrigte seine Frau seelisch, wann immer er konnte. Ines, brachte einer Frau wegen deren Ehemann zu Tode. Estelle, die oberflächlich Schöne, tötete ihr uneheliches Kind, um auf Luxus nicht verzichten zu müssen. Sie alle finden sich in einem Hotel wieder, auf ewig aneinander gekettet. Der Ort ist die Hölle, doch es gibt weder Folterknechte, noch ein ewiges Feuer, das ihnen die Verdammnis in die Körper brennt. Sie sind vom Schicksal zusammengebracht worden, um sich gegenseitig und selbst die Hölle zu bereiten. Ihre Feigheit vor der Wahrheit ist der wirkliche Folterknecht.

Sartre schrieb dieses Stück 1943/44, um Freunden eine Spielvorlage zu liefern, mit der sie durch Frankreich touren sollte. Dabei näherte er sich dem Thema als atheistischer Philosoph und verkündete darin Teile seiner existenzialistischen Weltanschauung in ihren Grundzügen: Der Mensch ist frei und für seine Taten verantwortlich. Zudem versucht der Mensch in seiner Feigheit, den Konsequenzen seines Handelns ausgeliefert, ständig ein Zerrbild von sich selbst zu schaffen. Im Urteil anderer Menschen jedoch findet er sein erbarmungslos wahrhaftiges Spiegelbild.

Die drei Protagonisten sind, um es zugespitzt zu formulieren, moralisch niedrige Geschöpfe. In ihrem Egoismus haben sie getötet, betrogen und zerstört. Nun müssen sie ihr eigenes Bild im Spiegel der jeweils anderen Mitverdammten zur Kenntnis nehmen. Sie können die offenen Augen vor ihrer Schuld nicht mehr verschließen, denn ein Lidschlag ist ihnen nicht mehr vergönnt. Der Rest ist tiefste Verzweifelung, die Hölle an sich.


Irmhild Wagner, Franz Westner, Angelika Fanai

© Hilda Lobinger


Horst A. Reichel verabschiedet sich mit diesem Stück als Intendant und Inhaber des Theaters 44, das in fünf Jahrzehnten dieses Stück fünf Mal auf die Bühne des kleinen Kellertheaters brachte. Das kann getrost als Zeichen genommen werden, wie sehr der Intendant, Regisseur und Schauspieler dem Thema verhaftet ist.

Die letzte Inszenierung des Dramas ist eine absolut minimalistische. Bühnenbildner Arno Scholz hatte die kleine Bühne in einen sterilen Raum verwandelt, ausgestattet mit drei weißen Quadern, einer diabolischen Maske an der Wand und einer Tür, in die man eintreten, aber nicht mehr entschlüpfen konnte. Als erster Verdammter betrat Garcian, hingerichtet und von zwölf Kugeln durchlöchert, den unverdächtig anmutenden Raum. Franz Westner spielte ihn mit großem emotionalen Aufwand. Er war ein von der eigenen Angst vor dem Urteil der Nachwelt getriebener Mensch, fahrig und permanent nach Auswegen suchend. Als der Kellner, völlig emotionslos und im Gestus mehr Uniform als Mensch von Martin Böhnlein gespielt, Ines in den Raum führte, war der höllische Reigen eröffnet. Irmhild Wagner gestaltete die Ines als eine innerlich völlig abgestorbene Frau, die sofort bereit war, Qualen zu bereiten. In ihrer innerlichen Erstarrung verhieß dieses Spiel immerhin noch gefühltes Dasein im Jenseits, auch wenn es ein quälendes war. Angelika Fanai gab eine sich sehr schnell in ihrer Oberflächlichkeit selbst entlarvende Estelle. Im zauberhaften Abendkleid eine berückende Erscheinung, stülpte sie langsam aber unaufhaltsam das Ordinäre und Niedrige ihres Wesens nach außer.

Horst A. Reichel unterließ es, äußerliche Bewegung ins Spiel zu bringen. Das unaufhaltsame Abgleiten in das von Angst gekennzeichnete zerstörerische Handeln war ein innerer Vorgang, mit feinen Nuancen in Mimik und Gestik angedeutet. Reichel, der sich gern selbst als Geschichtenerzähler bezeichnet, schlug im Zuschauer eine Saite an, die im heutigen Alltag allzu sehr zu einer von den Medien gesponserten theatralischen Kundgebung verkommt: Mitgefühl. Obgleich es sich um eine fiktionale Geschichte handelte, geriet der Zuschauer in einen Strudel, der ihn über das Geschaute hinaus in die eigenen Abgründe zog. Im Gegensatz zu den regelmäßig stattfindenden Betroffenheitskundgebungen mit Menschenketten und Lichtermeeren nach Amokläufen oder den vom Menschen provozierten Katastrophen, fand hier eine Katharsis statt, der man sich kaum jemand verschließen konnte.

Es war ein gelungener Abschied des Theaters 44 aus der Kulturlandschaft der Stadt München. Es heißt zwar, dass das Theater voraussichtlich weitergeführt wird, doch es kann wohl davon ausgegangen werden, dass es nicht mehr dasselbe sein wird. Das Theater 44 stand in seiner wechselvollen Geschichte für eine Kontinuität, die es in keinem anderen Theater Münchens mehr gibt. Es war vornehmlich den Klassikern der Moderne verpflichtet. Mit den Stücken von Dorst, Sartre, Frisch, Camus oder Anouilh setzte es sich stets über wunderbare, erschreckende und auch belehrende Stücke mit dem Thema Menschlichkeit auseinander. Es war nie ein Risiko, in dieses kleine intime Theater zu gehen; der Zuschauer wurde nie enttäuscht. Im Gedächtnis blieben auch die Inszenierungen zeitgenössischer, von großen Theater zumeist zu unrecht verschmähten Autoren wie beispielsweise Daniel Call. Zeitgenössische Komödien wie die von Dario Fo oder Willy Russell gingen stets weit über die pure Unterhaltung hinaus. In München hat die Familie Reichel, soviel ist sicher, Theatergeschichte geschrieben.

Es wäre also eine gute Gelegenheit, dem Intendanten, seiner Frau Irmhild Wagner und den Schauspielern der Inszenierung von "Geschlossene Gesellschaft" durch einen Besuch berechtigten Dank zu bekunden für ein Theater, das so nur noch selten anzutreffen ist und das in München fehlen wird, wenn es verschwindet. Auch für Horst A. Reichel gilt der Titel dieser Kritik: "Du bist, was dein Leben ist." Das Theater 44 und seine Protagonisten werden noch lange in guter Erinnerung bleiben.


Wolf Banitzki

 

 


Geschlossene Gesellschaft

von Jean-Paul Sartre

Irmhild Wagner, Angelika Fanai, Franz Westner, Martin Böhnlein

Regie: Horst A. Reichel

Theater 44 Auf dem Chimborazo von Tankred Dorst




Ein Klassiker mit Wirkung

Dorothea Merz erfüllt sich einen Wunsch. An ihrem Hochzeitstag, der selige Gatte ist bereits verschieden, erklimmt sie gemeinsam mit den Söhnen Tilman und Heinrich und der langjährigen Freundin Klara Falk einen Berg an der Grenze zur DDR, um dort ein Signalfeuer für die in der "Ostzone" verbliebenen Mitmenschen und Freunde zu entfachen. Selbst aus dem Osten eingewandert, haben sie es "geschafft".

"Geschafft" ist übrigens ein Wort, das seit einiger Zeit deutlich auf dem Rückzug ist, denn Wirtschaftskrise und politische Orientierungslosigkeit, sowohl auf individueller wie auch auf gesellschaftlicher Ebene, lassen an seiner metaphorischen Semantik zweifeln.

Dorothea Merz ist Idealistin, ein scheinbares Erbe der Fabrikantenfrau aus DDR-Zeiten. Die wahren Werte sind die inneren. Man fühlt sich zu einfachen Menschen hingezogen, benutzt Keramik statt Porzellan und hat keine Gardinen an den Fenstern, denn man hat ja nichts zu verbergen. Man, das ist "Frau Fürstin" nebst Anhang und die hat auch Probleme. Tatsächlich ist Dorothea Merz blind und taub vor lauter Selbstzufriedenheit. Doch nach dem Aufstieg auf den Berg haben sich die Druckverhältnisse verändert und es beginnen Wahrheiten zu entweichen, die die Selbstzufriedenheit und Lebenslügen kalt erwischen und die Streichhölzer für das Signalfeuer ausblasen. Dorothea Merz zieht unverrichteter Dinge und von der Wahrheit beleidigt von dannen.




Irmhild Wagner, Christa Pillmann, Marc Bernhard, Martin Böhnlein

© Hilda Lobinger


Diese Komödie, wie Tankred Dorst "Auf dem Chimborazo" klassifiziert, hatte 1973 unter der Spielleitung von Dieter Dorn am Schlosspark-Theater Berlin Uraufführung. Ein echtes Zeitstück, sollte man meinen. Doch die Tatsache, dass die Dorst-Stücke immer wieder ihren Weg in die Spielpläne finden beweist hinlänglich: Dorsts Stücke sind keine reinen Zeitstücke. In der heutigen Situation, in Zeiten von existenzieller Hinterfragung des Systems und Ostalgie erscheint die Aufführung als erstaunlich ketzerisch. Hatte Dorst so unglaubliche Weitsicht bewiesen? Vielleicht, doch vielmehr bewies er Nüchternheit, Freiheit von Ideologie. Geschichte erscheint wieder in realem Gewand und schleudert die gebräuchlichen, Schrecken verbreitenden Worthülsen in die Münder vornehmlich liberaler Politiker zurück, die sich nicht entblöden, den Realsozialismus als handfeste Drohung zu verkaufen. Dorsts "Auf dem Chimborazo" ist in Zeiten, in denen Lügen purzeln wie Fallobst erstaunlich aktuell.

Regisseurin Eva Niedermeier inszenierte das Kammerspiel ganz in der Ibsenschen Dramaturgie, in der Dorst es verfasste. Politische Einsprengsel waren nur sekundär von Belang, denn es ging um die ewig gleich ablaufenden menschliche Handlungsweisen, egal unter welchem politischen Vorzeichen. Was als Idylle begann endete in der Zerstörung derselben und in tiefer Ratlosigkeit.

Irmhild Wagners Dorothea Merz dominierte in der Selbstgefälligkeit dieser Figur die Szenerie von Anfang bis Ende. Sie parlierte auf der Höhe hin und her, ignorierte, was ihr zuwider war, beleidigte mit deplazierten Wahrheiten und schmollte, wenn man ihr zu nahe trat. Wenngleich völlig spiegelverkehrt, doch nicht unähnlich agierte Christa Pillmann als Klara. Die Leichen in ihrem Keller fielen ihrer Schwerhörigkeit ein zweites Mal zum Opfer. Die Kunst, ein körperliches Gebrechen zur wirkungsvollsten Lebenshilfe zu machen, erreichte in dieser Rolle olympische Höhen. Dass es sich hier um ein gesellschaftliches Phänomen handelt (Die Krankheit als persönlichkeitsbildendes Element - Vereint in Krankheit sind wir stark!), demonstriert Tilman, Dorotheas Sohn. Marc Bernhard gestaltete diese Rolle überaus facettereich. Er war ein Feigling der Mutter gegenüber, ein eingestandener Verlierer im täglichen Leben und ein Verräter denen gegenüber, die ihn liebten. Verteidigung erfuhr er von der Mutter, die immer wieder seine Krankheit ins Feld führte. Ob dies Ausdruck ihrer Liebe war, blieb ebenso umstritten wie die grundsätzliche Frage nach ihrer Liebesfähigkeit. Martin Böhnlein oblag es als Sohn Heinrich, die emotionale Katastrophe herbeizuführen. Anfangs getrieben von der Unerträglichkeit des Verschweigens stellte er Fragen. Schließlich brachte er das Dilemma auf den Punkt, das sich auch in seinem eigenen Versagen wiederspiegelte. Nichts fürchtet der Erfolgsmensch so sehr, wie der Mittelmäßigkeit bezichtigt zu werden. Böhnleins Heinrich war bekennender Mittelmäßiger und das sehr überzeugend.

Wieder einmal kam aus dem Hause Reichel ein Beitrag zur Münchner Theaterlandschaft, der nicht spektakulär war, der in seiner Solidität vielleicht von manchem Außenstehenden herablassend belächelt wird, weil er keinen ultimativen Kick brachte. Aber die Besucher, die sich auf den Weg in den patinierten Kellerraum gemacht hatten, erfuhren neuerlich, was Theater neben seiner Funktion als Tempel der Lustbarkeit auch sein kann, nämlich moralische Anstalt. Und Moral ist etwas, was wir momentan dringend brauchen.


Wolf Banitzki


 

 


Auf dem Chimborazo

von Tankred Dorst

Irmhild Wagner, Christa Pillmann, Marc Bernhard, Martin Böhnlein, Antonia Tinkhauser

Regie: Eva Niedermeier

Theater 44 Wege mit dir von Daniel Call




Plädoyer für die Liebe

Auf dem Weg ins Theater 44, zur Aufführung von "Wege mit dir", ein Stück über Alzheimer, hörte ich im Autoradio ein Gespräch mit dem letzten Interviewer von Walter Jens. Mit larmoyanter und Betroffenheit heischender Stimme, berichtete der Journalist, für den dieser Auftritt wohl die Stunde seines Lebens bedeutete, in welchem Zustand sich der Mann befand, der vierzig Jahre lang deutsche Literaturgeschichte begleitete und schrieb. Walter Jens ist ein sabberndes, kicherndes, heulendes Geschöpf, dass mit verwundertem Blick auf das Bild Theodor Fontanes über seinem Schreibtisch deutete und fragte: "Wer ist dieser Mann?" Es ist zum Heulen! Ja, auch dass Walter Jens sich in diesem Zustand befindet. Vielmehr aber ist zum Heulen, dass dieser Journalist die Gunst der Stunde nutzte, um ins Rampenlicht zu treten und diese Erbärmlichkeit zu begehen. Er gab vor, in einem freundschaftliches Verhältnis zu Walter Jens zu stehen. Wohlgemerkt zu einem Mann, der sich Advokat der Sterbehilfe nannte, der sein Leben auch durch eigene Hand ein Ende setzen wollte, um mit Würde und als Herr seiner eigenen Entscheidungen abzutreten. Freundschaft wäre gewesen, wenn er das Bild von Walter Jens vermittelt hätte, als dieser Geistestitan noch Walter Jens war.

Inge Jens, die Ehefrau von Walter, plädierte für den Diskurs über diese Krankheit und über Maßnahmen zur Hilfe für weniger privilegierte betroffene Menschen. Zweifellos sollte man das Thema öffentlich machen. Aber warum das Vergehen einer intellektuellen und literarischen Institution, deren Personifikation Walter Jens war, auf so banale Weise öffentlich machen und das Bild, das gleichsam ein Vorbild war, so demontieren? Ich schaltete wütend ab, ertrug es nicht mehr. Als Heiner Müller Anfang der 90er Jahre sinngemäß verlautbarte: Europa wird an mangelndem Totenkult zugrunde gehen, verstand ich nicht. Heute verstehe ich sehr wohl.

 


Gabriele Welker, Franz Westner

© Hilda Lobinger


Es war kein gutes Omen für eine Theatervorstellung, in der es um Alzheimer geht. Autor Daniel Call, Jahrgang 67 und wohl ähnlich alt wie genannter Journalist, versöhnte mich ebenso wie das Ensemble um Regisseurin Pia Hänggi. Fern von allen den billigen Voyeurismus bedienenden Medien schufen sie ein Werk, dass ausgewogener, intelligenter und menschlicher kaum sein kann.

Anna (Gabriele Welker) erzählte rückblickend die gemeinsame Geschichte von sich und Kaspar (Franz Westner). Sie trafen sich in einem Alter, "in dem sie sich nichts mehr zu beweisen hatten". Ihr Leben konzentrierte sich auf die wesentlichen Dinge. Die erste Begegnung fand bei einer Dichterlesung statt. Kaspars Urteil über diese Veranstaltung und über derartige Veranstaltungen schlechthin war vernichtend. Allein, seinen Argumenten konnte man sich nicht verschließen. Anne kann seiner Intelligenz und seinem Charme nicht widerstehen. Kaspar ist ein Zeitgenosse, an dem sich die Gesellschaft reiben muss, an der sie auch wachsen kann. Sein Geist ist subtil und zugleich nüchtern streng. Zudem ist er von einem tiefen (gesunden - im Sinne Schopenhauers) Pessimismus beseelt. Er zitierte La Rochefoucauld, den französischen Dichter des 17. Jahrhunderts, dessen Werke und Geist sehr ähnliche Eigenschaften aufwiesen. Aber er zitierte auch Rückert, einen Flüchtling in die Romantik, wie ihn Eichendorff nannte, "edel, sittlich, die Schönheit ehelicher Liebe innig feiernd". Und so ist denn auch die Liebe zwischen Anna und Kaspar vorbehalt- und bedingungslos. Die Ehe gehen beide allerdings erst nach sieben Jahren des Zusammenlebens ein. Annas Tochter Raika (Gianna-Valentina Bauer) hinterfragt den Entschluss der Mutter, denn inzwischen hat sich die Krankheit bei Kasper deutlich manifestiert. Ist es Liebe oder vielleicht doch nur Mitleid? Anna beharrte, nach kurzem Innehalten, das Kommende vor Augen, auf Liebe. Hat Kasper ihr doch, wenn auch nur für bemessene Zeit, das gegeben, was sie sich vom Leben immer erhofft hatte.

Dann begann die Auslöschung Kaspers und mit ihm begann auch Anna zu schwinden. Erlöst wurde sie schließlich vom langjährigen Verehrer Laszlo (Ulf-Jürgen Wagner), Gehirnchirurg seines Zeichens. Er nimmt Kasper in die Klinik auf, wo ihm als "Versuchsobjekt" einigermaßen menschenwürdige Verhältnisse zugesichert werden. Annas Leben ging weiter. Doch sie wollte kein neues. Sie lebte weiter in der Erinnerung mit Kasper. Ihre Liebe war unvergänglich.

Kasper war kein einfacher und vor allem kein vollkommener Mensch. Seinen eigenen Sohn Gustav (Franz Steiner) ruinierte er bis hin zum völligen Verstummen. Der junge, begabte und sensible Mann konnte nicht bestehen neben seinem Übervater. Dabei hatte Kasper sein eigenes Versagen nie begriffen, riss sogar Witze über den Sohn. Franz Westner bestand die Herausforderung dieser Rolle mit Bravour. In seiner knorrigen, immer wieder mit intelligentem Witz überzeugenden Art erinnerte er mich sehr an Walter Jens. Ohne die Erklärungen eines profilierungssüchtigen Journalisten vermag ich nun einzuschätzen, wie es um ihn bestellt ist. Mein Bild von ihm nimmt dabei keinen Schaden. Die bestechendste Leistung des Abend vollbrachte Gabriele Welker. Im Gegensatz zu der Rolle des Kollegen Westner verlangte ihr Part ein Erwachen, Untergang und Auferstehung in nur einer und einer halben Stunde. In jeder Situation beherrschte sie überzeugend und eindringlich die Szene. Weniger überzeugend agierte leider Gianna-Valentina Bauer als Tochter Raika. Ein Quäntchen zu laut, zu schrill, erzeugte sie eine Oberflächlichkeit, die ihrem Text nicht eigen war. Aber vielleicht "spielt sich der Ton noch ein". Es wäre schön, denn dann könnte die Inszenierung nahezu vollkommen sein. Die Szene bereichernd war auch das Spiel von Franz Steiner, der gänzlich ohne Text auskommen musste. Sein feines Minenspiel, seine Haltung und seine Präsenz verlieh dem Stück über weite Strecken Humor. Und damit ist ein weiteres Qualitätsmerkmal benannt. Die Inszenierung ist überwiegend heiter. Schwer zu glauben, aber wahr. Regisseurin Pia Hänggi verzichtete auf jegliche szenische Einfälle neben der Geschichte. Sie verließ sich gänzlich auf den Text und erarbeitete auf intelligente Weise eine Komik, die nie diskriminierend oder platt war. Das machte die Geschichte nicht nur erträglich, sondern zu einem überaus unterhaltsamen Abend mit subtilen Zwischentönen und einer großen Nachdenklichkeit.

Die Inszenierung erfüllt alle Anforderungen, die man an ein künstlerisches Werk stellen kann. Sie unterhält und bereichert, sie fordert und gibt und sie ist zudem ästhetisch geschlossen. Darüber hinaus hat sie große menschliche aber auch gesellschaftliche Dimensionen und sie gibt eine Antwort auf den großen Antagonismus, den eine solche Krankheit den Menschen stellt. Es gibt nur eine Kraft, die helfen kann: die Liebe!
Selten erschien ein Plädoyer für die Liebe so überzeugend!


Wolf Banitzki

 

 


Wege mit dir

von Daniel Call

Gabriele Welker, Franz Westner, Gianna-Valentina Bauer, Ulf-Jürgen Wagner, Franz Steiner

Regie: Pia Hänggi

Theater 44 Mörderkarussell von Sam Bobrik und Ron Clark




Juwel ohne Feinschliff

Wenn Paul ein Einsehen hätte, dürfte er sein Leben behalten. Doch da er nicht willig ist, in eine Scheidung einzustimmen, schreiten seine Gattin Annette gemeinsam mit Liebhaber Mario zur Tat, zur blutigen Tat. Ort des Verbrechens, das dann so doch nicht stattfindet, ist ein Hotelzimmer. Zeit: Ostern. An Sylvester hat sich dann das mörderische Karussell um 90 Grad gedreht. Annette beschwatzt nun ihren Ex, gemeinsam den Geliebten zu entsorgen. Der gewitzte Komödienkenner wird sich nun ausmalen können, was im dritten Akt zu Weihnachten geschieht. Oder auch nicht, denn wir sind ja zivilisiert und meucheln nicht wahllos auf den Bühnen herum. Schon gar nicht, wenn es sich um ein weitestgehend sinnfreies Stück handelt, dessen Motto sich auf den simplen Satz beschränkt: Einer ist immer zuviel.

Es ist eine Boulevardkomödie und darum kommt es gar nicht in den Sinn, dass etwa ein tieferer Sinn fehlt. Unterhaltung ist angesagt und wenn dies gelingt, ist es allemal genug. Dem Publikum im Theater 44 schien zu gefallen, was Regisseur Thomas Peters mit seinen Darstellern Bianca Bachmann (Annette), Claus-Peter Damitz (Dr. Mario Steig) und Martin Dudeck (Paul Kringel) auf die Bühne brachte. Dabei wurde reichlich mit Klischees jongliert, die hier aus der Perspektive des Autorenduos Sam Bobrick und Ron Clark durchaus aufklärerische Züge bekamen. Beispielsweise das beinahe philosophisch anmutende Verhalten von Paul, einem Gebrauchtwagenhändler, zum Thema "Beschiss". Entlarvend auch das Selbstverständnis von Mario: Ich kriege jede Frau, ich bin Zahnarzt. Und Annette? Ihr Bildungshorizont als Mittelstandsehefrau endet mit der letzten Seite der Hochglanzjournaille. Und dann sind da noch die Auslassungen über die esoterischen Lehren eines indischen Gurus, der in die Mordpläne ebenfalls als Opfer einbezogen werden soll.

 


Martin Dudek, Bianca Bachmann, Claus-Peter Damitz

© Hilda Lobinger


Für die deutschsprachige Bühnenfassung zeichnete die Wiener Kabarettlegende Gerhard Bronner verantwortlich. Und wer könnte sich besser eignen für ein leichtfüßiges Spiel mit dem Tod als ein Wiener. Thomas Peters inszenierte denn auch ein ansehnliches Stück Komödie, das durchaus das Zwerchfell reizte. Der Zuschauer kommt auf seine Kosten.
Wenn schon Nationalismen bemüht wurden, so sei festgestellt, das es sich um die deutsche Inszenierung eines anglo-österreichischen Bastards handelte. Dass diese Mischung selten Superlative entfesselt, liegt wohl in der Natur der Dinge. So hatte das Spiel der drei Darsteller nicht die nötige Geschmeidigkeit, nicht die nötige Doppelbödigkeit und nicht die nötige Eleganz, die anglophilen Komödien innewohnt. Thomas Peters inszenierte bieder deutsch, ein wenig stakkatohaft und ohne die unterschwellige österreichische Bösartigkeit. (Die genannten Kategorien beziehen sich ausschließlich auf Literatur!)

Der Spielraum war besagtes Hotelzimmer, gestaltet von Hannes Schuller. Zu sehen war: ein Hotelzimmer. Einziger Bezug zum Stück neben aller Praktikabilität war das Bild über dem Bett. Es war ein Ausschnitt aus Raffaello Santis "Sixtinische Madonna" - Szene: Maria mit dem Christuskind. Das Gemälde zeigte die allseits bekannten, sich am unteren Bildrand lümmelnden Engel, die einen krassen Gegensatz zum religiös verklärten Inhalt der Gesamtkomposition bilden. Ein gelungener Einfall, der das Dargestellte stumm kommentierte.

Den Darstellern war ihr Bemühen, die Dinge komödiantisch zu brechen, durchaus anzumerken. Allerdings wirkten Bianca Bachmanns weibliche Reize im Spiel nicht selten vordergründig und verloren dadurch ihre Erotik, auf die der Zuschauer in einer Komödie um Sex und Liebe ein Recht hat. Claus-Peter Damitz und Martin Dudeck, Münchner Theatergängern sind sie längst keine Unbekannten mehr, hätten durchaus das Vermögen, Atemlosigkeit beim Betrachter zu erzeugen. Doch die Regie unterließ es, mit den subtilen Mitteln der Pause und des Kontrapunkts zu arbeiten, die allemal in den Intentionen der Autoren lagen. Brüche mit wunderbarer Komik wurden schlicht vernachlässigt. Schade, denn das deutsche Publikum ist bestimmt lernfähig und von anglophilen Komödiendichtern kann man eine Menge lernen.

Der sehenswerten und überaus unterhaltsamen Komödie fehlt leider der Feinschliff. Es ist aber durchaus möglich, dass, wenn die Darsteller sich eingespielt haben, Grat und Schlacke verschwinden.


Wolf Banitzki

 

 


Mörderkarussell

von Sam Bobrik und Ron Clark

Übersetzt und für die Bühne bearbeitet von Gerhard Bronner

Bianca Bachmann, Klaus-Peter Damitz, Martin Dudeck

Regie: Thomas Peters

Theater 44 Antigone von Jean Anouilh




Kompromiss ist ...

"Untröstlich und fröhlich" - ein lachendes und ein weinendes Auge kennzeichnen den Menschen nach Anouilh. Die Alten machen daraus gerne den Kompromiss, die Übereinkunft durch Nachgeben beider Seiten, den Vergleich - die Ernsthaftigkeit. Die Jungen lachen oder weinen, für sie gibt es den Kompromiss nicht. Sind sie noch dazu ungestüm, so gehen sie auf Barrikaden oder in den Tod für ihre Überzeugung. "Ich bin nicht da um zu verstehen. Ich bin da um dir ein Nein entgegen zu setzen und zu sterben.", so Antigone.... "Und jetzt wirst du mich töten lassen, ohne es zu wollen. Und das heißt König sein!" "Ja so ist es ..."
Alt werden bedeutet dem nach, sich in Vergleichen einzurichten, was Antigone verweigert. Kreon, als König des Kompromisses, stößt die Tragödie an, indem er festlegt, dass die Söhne des Oedipus Eteokles und Polyneikes, abwechselnd jeweils ein Jahr die Regentschaft übernehmen über Theben. Gut gemeint, doch Eteokles findet Gefallen an der Macht. Er weigert sich, dem Bruder den Platz zu überlassen. Polyneikes sucht Unterstützung; der Konflikt endet, als sich die Brüder auf dem Schlachtfeld tot gegenüber liegen. "Das Uhrwerk ist aufgezogen. Jetzt schnurrt es von allein ab. Das ist das Praktische bei einer Tragödie." Und es ist kein Ende abzusehen ...

Antigone weigert sich den Bruder "... unbeweint und unbestattet auf dem Schlachtfeld liegen zu lassen, den Raben und Schakalen zum Fraß", wie Kreon verfügt und der zudem "Zuwiderhandlung mit dem Tode bestraft". Aus Gründen der Staatsräson hat er einen der Brüder zum Helden, den Anderen zum Staatsfeind erklärt. Antigone, man sagt von Idealen erfüllt, sozusagen revolutionär, will sich dem Entscheid nicht beugen, ist es doch nur das versöhnend Menschliche, das ein Ende fordert und die Leiche mit Erde bedeckt. Sie möchte heiraten und glücklich werden. Eine Unmöglichkeit, da es Kreon verhindert. Seine Gründe sind mannigfach. Der Dialog zwischen Antigone und Kreon ist der Kern des Stückes.
Für Kreon ist Leben ein Kompromiss, den er ihr schmackhaft zu machen sucht. Für Antigone "Ich, ich will alles, sofort und vollkommen ... oder ich will lieber sterben." Dann nimmt die Geschichte ihren unabänderlichen Lauf. Vor ihrem Tod heißt es, "zum ersten Mal wird sie ganz sie selbst sein können.". Der alte Kreon wendet sich den Staatsgeschäften zu ... und es ist kein Ende abzusehen ...

 


Klaus-Peter Bülz, Mascha Müller, Horst A. Reichel

© Hilda Lobinger


Kompromisse, Kompromisse soweit das Auge reicht, blickt man heute auf die Welt. Es sind die Vorstellungen von Ordnung, die die Menschen ins Unglück treiben. Denn die Vorstellung ist eben die Vorstellung davon und nicht die Ordnung per se. Gut und Böse sind wie ehedem das, was dazu von manchen Stellen erklärt wird. Ob das nun immer den Tatsachen gerecht wird? Oder gar dem Leben? Hier türmt sich das Hindernis, oder klafft der riesige Abgrund zwischen Gesellschaftsapparat und Individuum, der in unseren Tagen immer größer wird ... und es ist kein Ende abzusehen ...

Ein guter Grund Anouilhs Antigone auf die Bühne zu bringen. Stellt er doch einen Kampf vor, in dem es nur Verlierer gibt - bedingt durch eine Ordnung die einzuhalten ist, hinterfragen nicht gestattet. Ist denn eine Leiche öffentlich zu ächten eine geringere Freveltat, als das Einfordern eines zugesprochenen Rechts mit Waffengewalt? Die Maßeinheiten, die angelegt werden, sind wohl verschiedene, offensichtlich. Es fällt schon Sophokles Antigone der Staatsräson zum Opfer; ein Lehrstück in Sachen Staat und Ordnung. Anouilh verdeutlicht wie wenig Platz die Ordnung für Leben lässt, folgt man den Ausführungen des Wächters aufmerksam.

"Hüten wir uns vor guten Einfällen!", pflegte Jean Anouilh in Bezug auf die Umsetzung seiner Werke gerne zu sagen. Er, einer der meist gespielten Dramatiker im vergangenen Jahrhundert, verzichtet auf Illusionen und Beschönigungen und bringt den Konflikt direkt, hier durch Ankündigung des Sprechers ans Publikum. Das entspricht auch Regisseur Horst A. Reichel, der wieder einmal eine gute Hand bei der Umsetzung eines Klassikers der Moderne bewies. In dem klaren Bühnenbild von Hannes Schuler bieten die Darsteller gewohnt gutes Ensemblespiel, Irmhild Wagner führte als Sprecherin souverän durch das Stück, Mascha Müller gab eine entschlossene Antigone, Horst A. Reichel alterserfahren (pragmatisch bürokratisch) Kreon. Klaus-Peter Bülz überzeugte als Wächter. Der Text blieb wie ein Fels im Raum stehen.

Der Verlust von Vorstellungen ist das, was die Menschen am meisten schreckt und so kommt es, dass ... "Die, die noch leben, beginnen ganz langsam, sie (Antigone) zu vergessen." ... und es ist kein Ende abzusehen ...



C.M.Meier

(Zitate Jean Anouilh)

 

 


Antigone

von Jean Anouilh

Mascha Müller, Horst A. Reichel, Irmhild Wagner, Klaus-Peter Bülz, Janina Kübler, Franz Steiner

Regie: H. A. Reichel und I. Wagner
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