Theater 44 Auf dem Chimborazo von Tankred Dorst
Ein Klassiker mit Wirkung
Dorothea Merz erfüllt sich einen Wunsch. An ihrem Hochzeitstag, der selige Gatte ist bereits verschieden, erklimmt sie gemeinsam mit den Söhnen Tilman und Heinrich und der langjährigen Freundin Klara Falk einen Berg an der Grenze zur DDR, um dort ein Signalfeuer für die in der "Ostzone" verbliebenen Mitmenschen und Freunde zu entfachen. Selbst aus dem Osten eingewandert, haben sie es "geschafft".
"Geschafft" ist übrigens ein Wort, das seit einiger Zeit deutlich auf dem Rückzug ist, denn Wirtschaftskrise und politische Orientierungslosigkeit, sowohl auf individueller wie auch auf gesellschaftlicher Ebene, lassen an seiner metaphorischen Semantik zweifeln.
Dorothea Merz ist Idealistin, ein scheinbares Erbe der Fabrikantenfrau aus DDR-Zeiten. Die wahren Werte sind die inneren. Man fühlt sich zu einfachen Menschen hingezogen, benutzt Keramik statt Porzellan und hat keine Gardinen an den Fenstern, denn man hat ja nichts zu verbergen. Man, das ist "Frau Fürstin" nebst Anhang und die hat auch Probleme. Tatsächlich ist Dorothea Merz blind und taub vor lauter Selbstzufriedenheit. Doch nach dem Aufstieg auf den Berg haben sich die Druckverhältnisse verändert und es beginnen Wahrheiten zu entweichen, die die Selbstzufriedenheit und Lebenslügen kalt erwischen und die Streichhölzer für das Signalfeuer ausblasen. Dorothea Merz zieht unverrichteter Dinge und von der Wahrheit beleidigt von dannen.
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Irmhild Wagner, Christa Pillmann, Marc Bernhard, Martin Böhnlein
© Hilda Lobinger
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Diese Komödie, wie Tankred Dorst "Auf dem Chimborazo" klassifiziert, hatte 1973 unter der Spielleitung von Dieter Dorn am Schlosspark-Theater Berlin Uraufführung. Ein echtes Zeitstück, sollte man meinen. Doch die Tatsache, dass die Dorst-Stücke immer wieder ihren Weg in die Spielpläne finden beweist hinlänglich: Dorsts Stücke sind keine reinen Zeitstücke. In der heutigen Situation, in Zeiten von existenzieller Hinterfragung des Systems und Ostalgie erscheint die Aufführung als erstaunlich ketzerisch. Hatte Dorst so unglaubliche Weitsicht bewiesen? Vielleicht, doch vielmehr bewies er Nüchternheit, Freiheit von Ideologie. Geschichte erscheint wieder in realem Gewand und schleudert die gebräuchlichen, Schrecken verbreitenden Worthülsen in die Münder vornehmlich liberaler Politiker zurück, die sich nicht entblöden, den Realsozialismus als handfeste Drohung zu verkaufen. Dorsts "Auf dem Chimborazo" ist in Zeiten, in denen Lügen purzeln wie Fallobst erstaunlich aktuell.
Regisseurin Eva Niedermeier inszenierte das Kammerspiel ganz in der Ibsenschen Dramaturgie, in der Dorst es verfasste. Politische Einsprengsel waren nur sekundär von Belang, denn es ging um die ewig gleich ablaufenden menschliche Handlungsweisen, egal unter welchem politischen Vorzeichen. Was als Idylle begann endete in der Zerstörung derselben und in tiefer Ratlosigkeit.
Irmhild Wagners Dorothea Merz dominierte in der Selbstgefälligkeit dieser Figur die Szenerie von Anfang bis Ende. Sie parlierte auf der Höhe hin und her, ignorierte, was ihr zuwider war, beleidigte mit deplazierten Wahrheiten und schmollte, wenn man ihr zu nahe trat. Wenngleich völlig spiegelverkehrt, doch nicht unähnlich agierte Christa Pillmann als Klara. Die Leichen in ihrem Keller fielen ihrer Schwerhörigkeit ein zweites Mal zum Opfer. Die Kunst, ein körperliches Gebrechen zur wirkungsvollsten Lebenshilfe zu machen, erreichte in dieser Rolle olympische Höhen. Dass es sich hier um ein gesellschaftliches Phänomen handelt (Die Krankheit als persönlichkeitsbildendes Element - Vereint in Krankheit sind wir stark!), demonstriert Tilman, Dorotheas Sohn. Marc Bernhard gestaltete diese Rolle überaus facettereich. Er war ein Feigling der Mutter gegenüber, ein eingestandener Verlierer im täglichen Leben und ein Verräter denen gegenüber, die ihn liebten. Verteidigung erfuhr er von der Mutter, die immer wieder seine Krankheit ins Feld führte. Ob dies Ausdruck ihrer Liebe war, blieb ebenso umstritten wie die grundsätzliche Frage nach ihrer Liebesfähigkeit. Martin Böhnlein oblag es als Sohn Heinrich, die emotionale Katastrophe herbeizuführen. Anfangs getrieben von der Unerträglichkeit des Verschweigens stellte er Fragen. Schließlich brachte er das Dilemma auf den Punkt, das sich auch in seinem eigenen Versagen wiederspiegelte. Nichts fürchtet der Erfolgsmensch so sehr, wie der Mittelmäßigkeit bezichtigt zu werden. Böhnleins Heinrich war bekennender Mittelmäßiger und das sehr überzeugend.
Wieder einmal kam aus dem Hause Reichel ein Beitrag zur Münchner Theaterlandschaft, der nicht spektakulär war, der in seiner Solidität vielleicht von manchem Außenstehenden herablassend belächelt wird, weil er keinen ultimativen Kick brachte. Aber die Besucher, die sich auf den Weg in den patinierten Kellerraum gemacht hatten, erfuhren neuerlich, was Theater neben seiner Funktion als Tempel der Lustbarkeit auch sein kann, nämlich moralische Anstalt. Und Moral ist etwas, was wir momentan dringend brauchen.
Wolf Banitzki
Auf dem Chimborazo
von Tankred Dorst
Irmhild Wagner, Christa Pillmann, Marc Bernhard, Martin Böhnlein, Antonia Tinkhauser
Regie: Eva Niedermeier |
Theater 44 Wege mit dir von Daniel Call
Plädoyer für die Liebe
Auf dem Weg ins Theater 44, zur Aufführung von "Wege mit dir", ein Stück über Alzheimer, hörte ich im Autoradio ein Gespräch mit dem letzten Interviewer von Walter Jens. Mit larmoyanter und Betroffenheit heischender Stimme, berichtete der Journalist, für den dieser Auftritt wohl die Stunde seines Lebens bedeutete, in welchem Zustand sich der Mann befand, der vierzig Jahre lang deutsche Literaturgeschichte begleitete und schrieb. Walter Jens ist ein sabberndes, kicherndes, heulendes Geschöpf, dass mit verwundertem Blick auf das Bild Theodor Fontanes über seinem Schreibtisch deutete und fragte: "Wer ist dieser Mann?" Es ist zum Heulen! Ja, auch dass Walter Jens sich in diesem Zustand befindet. Vielmehr aber ist zum Heulen, dass dieser Journalist die Gunst der Stunde nutzte, um ins Rampenlicht zu treten und diese Erbärmlichkeit zu begehen. Er gab vor, in einem freundschaftliches Verhältnis zu Walter Jens zu stehen. Wohlgemerkt zu einem Mann, der sich Advokat der Sterbehilfe nannte, der sein Leben auch durch eigene Hand ein Ende setzen wollte, um mit Würde und als Herr seiner eigenen Entscheidungen abzutreten. Freundschaft wäre gewesen, wenn er das Bild von Walter Jens vermittelt hätte, als dieser Geistestitan noch Walter Jens war.
Inge Jens, die Ehefrau von Walter, plädierte für den Diskurs über diese Krankheit und über Maßnahmen zur Hilfe für weniger privilegierte betroffene Menschen. Zweifellos sollte man das Thema öffentlich machen. Aber warum das Vergehen einer intellektuellen und literarischen Institution, deren Personifikation Walter Jens war, auf so banale Weise öffentlich machen und das Bild, das gleichsam ein Vorbild war, so demontieren? Ich schaltete wütend ab, ertrug es nicht mehr. Als Heiner Müller Anfang der 90er Jahre sinngemäß verlautbarte: Europa wird an mangelndem Totenkult zugrunde gehen, verstand ich nicht. Heute verstehe ich sehr wohl.
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Gabriele Welker, Franz Westner
© Hilda Lobinger
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Es war kein gutes Omen für eine Theatervorstellung, in der es um Alzheimer geht. Autor Daniel Call, Jahrgang 67 und wohl ähnlich alt wie genannter Journalist, versöhnte mich ebenso wie das Ensemble um Regisseurin Pia Hänggi. Fern von allen den billigen Voyeurismus bedienenden Medien schufen sie ein Werk, dass ausgewogener, intelligenter und menschlicher kaum sein kann.
Anna (Gabriele Welker) erzählte rückblickend die gemeinsame Geschichte von sich und Kaspar (Franz Westner). Sie trafen sich in einem Alter, "in dem sie sich nichts mehr zu beweisen hatten". Ihr Leben konzentrierte sich auf die wesentlichen Dinge. Die erste Begegnung fand bei einer Dichterlesung statt. Kaspars Urteil über diese Veranstaltung und über derartige Veranstaltungen schlechthin war vernichtend. Allein, seinen Argumenten konnte man sich nicht verschließen. Anne kann seiner Intelligenz und seinem Charme nicht widerstehen. Kaspar ist ein Zeitgenosse, an dem sich die Gesellschaft reiben muss, an der sie auch wachsen kann. Sein Geist ist subtil und zugleich nüchtern streng. Zudem ist er von einem tiefen (gesunden - im Sinne Schopenhauers) Pessimismus beseelt. Er zitierte La Rochefoucauld, den französischen Dichter des 17. Jahrhunderts, dessen Werke und Geist sehr ähnliche Eigenschaften aufwiesen. Aber er zitierte auch Rückert, einen Flüchtling in die Romantik, wie ihn Eichendorff nannte, "edel, sittlich, die Schönheit ehelicher Liebe innig feiernd". Und so ist denn auch die Liebe zwischen Anna und Kaspar vorbehalt- und bedingungslos. Die Ehe gehen beide allerdings erst nach sieben Jahren des Zusammenlebens ein. Annas Tochter Raika (Gianna-Valentina Bauer) hinterfragt den Entschluss der Mutter, denn inzwischen hat sich die Krankheit bei Kasper deutlich manifestiert. Ist es Liebe oder vielleicht doch nur Mitleid? Anna beharrte, nach kurzem Innehalten, das Kommende vor Augen, auf Liebe. Hat Kasper ihr doch, wenn auch nur für bemessene Zeit, das gegeben, was sie sich vom Leben immer erhofft hatte.
Dann begann die Auslöschung Kaspers und mit ihm begann auch Anna zu schwinden. Erlöst wurde sie schließlich vom langjährigen Verehrer Laszlo (Ulf-Jürgen Wagner), Gehirnchirurg seines Zeichens. Er nimmt Kasper in die Klinik auf, wo ihm als "Versuchsobjekt" einigermaßen menschenwürdige Verhältnisse zugesichert werden. Annas Leben ging weiter. Doch sie wollte kein neues. Sie lebte weiter in der Erinnerung mit Kasper. Ihre Liebe war unvergänglich.
Kasper war kein einfacher und vor allem kein vollkommener Mensch. Seinen eigenen Sohn Gustav (Franz Steiner) ruinierte er bis hin zum völligen Verstummen. Der junge, begabte und sensible Mann konnte nicht bestehen neben seinem Übervater. Dabei hatte Kasper sein eigenes Versagen nie begriffen, riss sogar Witze über den Sohn. Franz Westner bestand die Herausforderung dieser Rolle mit Bravour. In seiner knorrigen, immer wieder mit intelligentem Witz überzeugenden Art erinnerte er mich sehr an Walter Jens. Ohne die Erklärungen eines profilierungssüchtigen Journalisten vermag ich nun einzuschätzen, wie es um ihn bestellt ist. Mein Bild von ihm nimmt dabei keinen Schaden. Die bestechendste Leistung des Abend vollbrachte Gabriele Welker. Im Gegensatz zu der Rolle des Kollegen Westner verlangte ihr Part ein Erwachen, Untergang und Auferstehung in nur einer und einer halben Stunde. In jeder Situation beherrschte sie überzeugend und eindringlich die Szene. Weniger überzeugend agierte leider Gianna-Valentina Bauer als Tochter Raika. Ein Quäntchen zu laut, zu schrill, erzeugte sie eine Oberflächlichkeit, die ihrem Text nicht eigen war. Aber vielleicht "spielt sich der Ton noch ein". Es wäre schön, denn dann könnte die Inszenierung nahezu vollkommen sein. Die Szene bereichernd war auch das Spiel von Franz Steiner, der gänzlich ohne Text auskommen musste. Sein feines Minenspiel, seine Haltung und seine Präsenz verlieh dem Stück über weite Strecken Humor. Und damit ist ein weiteres Qualitätsmerkmal benannt. Die Inszenierung ist überwiegend heiter. Schwer zu glauben, aber wahr. Regisseurin Pia Hänggi verzichtete auf jegliche szenische Einfälle neben der Geschichte. Sie verließ sich gänzlich auf den Text und erarbeitete auf intelligente Weise eine Komik, die nie diskriminierend oder platt war. Das machte die Geschichte nicht nur erträglich, sondern zu einem überaus unterhaltsamen Abend mit subtilen Zwischentönen und einer großen Nachdenklichkeit.
Die Inszenierung erfüllt alle Anforderungen, die man an ein künstlerisches Werk stellen kann. Sie unterhält und bereichert, sie fordert und gibt und sie ist zudem ästhetisch geschlossen. Darüber hinaus hat sie große menschliche aber auch gesellschaftliche Dimensionen und sie gibt eine Antwort auf den großen Antagonismus, den eine solche Krankheit den Menschen stellt. Es gibt nur eine Kraft, die helfen kann: die Liebe!
Selten erschien ein Plädoyer für die Liebe so überzeugend!
Wolf Banitzki
Wege mit dir
von Daniel Call
Gabriele Welker, Franz Westner, Gianna-Valentina Bauer, Ulf-Jürgen Wagner, Franz Steiner
Regie: Pia Hänggi |