Werkraum LILJA 4-EVER nach dem Film von Lukas Moodysson


 

 

 
Nichts Neues von der Front der Zwangsprostitution

Lilja ist 16 Jahre alt und hatte das Pech, irgendwo in middle of nowhere der ehemaligen Sowjetunion geboren zu sein. Hier zählt nur eins: Überleben im Angesicht der Verheißungen des glücklichen Europas, die über die Bildschirme flimmern. Liljas Mutter hat es geschafft, sich günstig an den Mann zu bringen. Der ist zwar auch Russe, doch lebt er in den USA. Im letzten Augenblick wird Lilja von der Mutter zurückgelassen. Die eigene Familie bestielt sie zudem noch und bald ist Lilja an dem Punkt, wo nur noch ihr eigener Körper sie vor dem Verhungern retten kann. Lilja kämpft und behauptet sich: Lilja 4-ever! Dabei hat sie einen Verbündeten, Volodya, der sie mag und der versucht, sie zu beschützen. Aber Volodya ist nicht weniger verletzlich. Als Lilja Andrei kennen lernt, scheint ihr Leben eine Wendung zu nehmen. Er will sie nach Schweden bringen, wo er eine gut bezahlte Arbeit hat. Er verspricht ihr all das, wovon der bürgerliche Mensch träumt. Volodya warnt sie, beschwört sie, Andrei nicht zu glauben. Dann tritt ein, was der Zuschauer längst weiß. In Schweden angekommen, hat Lilja einen neuen Besitzer, der sie unverzüglich zur Arbeit anhält: zur Prostitution. An einem Sylvesterabend gelingt Lilja die Flucht. Die gewonnene Freiheit nutzt sie, um ihrem Leben, wie vordem Volodya in Russland, ein Ende zu setzen.

Der schwedische Schriftsteller und Filmemacher Lukas Moodysson genießt nach seinen Filmen "Fucking Åmål" und "Zusammen" den Ruf, auf schlichte und zugleich poetische Weise zu verstören und zu desillusionieren. In "Lilja 4-ever", seinem dritten Film, geht er soweit, mit dem Bild von Lilja und Volodya, die hoch über den Dächern der Stadt unter dem Himmel sitzen, ein ikonografisch anmutendes Symbol zu setzen. Kinder sind, selbst wenn sie untergehen, unantastbar! Lukas Moodysson ist kein neues Filmgenie, das die cineastische Welt revolutioniert. Er ist einer, der die Geschichten unspektakulär und verständlich erzählt und das ist viel. Seine Lösungen liegen immer im Bereich des Vorstellbaren, soweit sie überhaupt Lösungen sind. In "Lilja 4-ever" gibt es keine. Erzählt wird einmal mehr das Schicksal einer jungen Frau aus Osteuropa, die im Europa der EU zur Zwangsprostitution gezwungen wird. Es ist nicht mehr als eine weitere Variante eines Themas, das inzwischen an den Münchner Theatern in Serie läuft. Dabei hatten die Kammerspiele mit "Kebab" von Gianina Cãrbunariu eine wirklich überragende Leistung geboten, die nicht zuletzt dadurch zustande kam, dass es sich um ein gutes Theaterstück handelte und die Autorin wirklich wusste, worüber sie schrieb.
 

Daniela Britt

© Arno Declair

 

Regisseur Roger Vontobel ging das Risiko ein, einen weiteren Film auf die Bühne zu bringen. Man sollte meinen, angesichts der Schwierigkeiten und der nicht unerheblichen Flopprate, käme man zur Vernunft. Aber wenn es denn mal Mode ist, muss es ausgelebt werden. Natascha von Steiger verzichtete in ihrem Bühnenbild weitestgehend auf Bildhaftigkeit. Eine erhöhte verschiebbare Spielfläche, ein Metallschrank und ein paar Utensilien des täglichen Lebens waren genug. Der Rest, und hier unterscheidet sich Theater von Film, musste erspielt werden. Lediglich vier Schauspieler hatte die Aufgabe, den filmischen Personenreigen darzustellen. Da verlor man schon Mal die Übersicht, was aber von untergeordneter Bedeutung blieb. Beispielsweise spielte Jochen Noch alle Männer, die für kriminelle Brutalität, Perversion und Gefühllosigkeit standen. Katharina Schubert musste sich auf alle Rollen festlegen lassen, in denen es um schwache, käufliche und eigensüchtige Frauen ging. Daniela Britt hatte hingegen nur die Rolle der Lilja zu geben und wie ihre anderen Kollegen auch, gestaltete sie diese beeindruckend, anrührend und verstörend. Ihr zur Seite spielte Lasse Myhr einen Volodya, dessen kindliche Zerbrechlichkeit unter die Haut ging. Allen Darstellern muss höchstes Lob gezollt werden. Regisseur Vontobel verlangte ihnen sehr viel ab. Das Publikum war betroffen und erschüttert.

Allein, dabei blieb es denn auch. Diese Betroffenheit rührte nicht aus einer Geschichte, die eigentlich die Grenzen des Klischeehaften nicht durchbrach. Sie rührte auch nicht aus der Einsicht, dass es Menschen gibt, die wie Sklaven missbraucht werden, denn dass ist systemimmanent und sollte uns nicht verwundern. Die Betroffenheit rührte aus dem eindringlichen, physisch aufwendigen und hingebungsvollen Spiel der Darsteller, das durch die Gitarrenklänge von Murena zusätzlich suggestiv überhöht wurde.

Diese Inszenierung erzählte dem Zuschauer nichts Neues. Diese Inszenierung klärte also nicht einmal auf. Sie gab keine Antworten. Und sie mobilisierte nicht wirklich etwas im Betrachter. Wenn eine Inszenierung keine diese Ansprüche erfüllt, dann befriedigt sie nur den Voyerismus der Gutmenschen, die den Schauer des "Abartigen" genießen. Wieder einmal wurde "realistisch" eine Welt ausgestellt und mit den Fingern darauf gezeigt, als hätte sie mit uns nichts zu tun. Und wenn eine Antwort in dem Symbol, wie im Film geschehen, zu suchen sein soll: "Kinder sind, selbst wenn sie untergehen, unantastbar!", sträuben sich mir die Nackenhaare. Das ist übelster Kitsch, mit dem wir uns auf religiöse Weise zu trösten suchen. Und wenn sich die Welt mit diesen Symbolen begnügt, hat sie bereits kapituliert vor Barbarei und Perversion. Dann sind wir nicht besser als die Menschen, die diesen Kindern Gewalt antun. Wer es nicht glaubt, versetze sich für eine Minute in die Situation dieser "unantastbaren Kinder". Kunst sollte sein, wenn wir das Leid nicht vorgeführt bekommen, sondern durch dieses Leid hindurch müssen.

Wolf Banitzki

 

 

 


LILJA 4-EVER

nach dem Film von Lukas Moodysson

Deutsch von Hansjörg Betschart

Daniela Britt , Lasse Myhr, Jochen Noch, Katharina Schubert, Murena

Regie: Roger Vontobel

Werkraum Wilde - Der Mann mit den traurigen Augen von Händl Klaus


 

 
Chronik des Verschwindens

Gunter aus Bleibach ist, ohne es zu wissen, auf seiner letzten Reise nach Bleibach zum Grab der Eltern – nach Hause. In Neumünster an der Lau endet diese Reise. Es gibt scheinbar kein Weiterkommen und so ergibt er sich in die Vereinnahmung durch die Familie Flick. Sie sind die letzten Menschen in der Stadt und dämmern in der alles niederdrückenden sommerlichen Hitze dahin. Gunter, „Arzt ohne Grenzen“, ist in seinem Einsatz in Moldawien gescheitert. Er hat zu oft „daneben gegriffen“ und schließlich alles fahren lassen. Neumünster ist die die letzte Station vor dem Verschwinden und so geht auch er diesen Weg, widerwillig anfangs, doch dann einsichtig. Klaus Händls preisgekröntes Stück ist eine Chronik des Verschwindens. Wohin? Er selbst gibt die Antwort im Programmheft: in die Identitätslosigkeit. Dafür findet er gelungene Metaphern. Zum Beispiel beginnt dieser Vorgang mit Pigmentstörungen, weißen Flecken auf der Haut der Beteiligten. Kunstvoll, wenngleich sehr unambitioniert, ist die Sprache, die unter den Bemühungen der Darsteller immer mehr zerbricht, in Musik umschlägt, in kakophonischen Chorgesang, der mehrere Zungen braucht um einfache Aussagen zu ermöglichen. Alles, Menschen und Stadt, ist in Auflösung, - aber zu welchem Ende? Diese Frage muss sich der Betrachter verkneifen, denn bei Händl Klaus wird er keine Antwort bekommen. Der Autor geht mit dieser Aussage auf hohem ästhetischem Niveau mit dem Zeitgeist einher. Wir sind erschrocken über die Zustände, vermögen aber nicht zu sagen, warum wir in ihnen leben und schon gar nicht, wie wir ihnen entkommen können. Innere Leere, und die erzeugt auch dieses Stück, sollte nicht der Sinn von Kunst sein. Dafür sind die Eintrittskarten zu teuer. Wie ließe sich dieser Vorgang nun rechtfertigen? Vielleicht als eine weitere Bestandsaufnahme auf dem Weg hin zu neuen helfenden Einsichten. Dafür ist ein Raum wie der Werkraum bestens geeignet. Bühnenbildnerin Katja Schröder wusste die Gegebenheiten zu nutzen. Sie versuchte gar nicht erst, das Provisorium zu überwinden. Ihre prägnanteste Aussage ist ein Bahngleis, das aus dem Nichts in den Raum ragt und endet.
 
   
 

Martin Butzke, Matthias Bundschuh

© T

 

 

Regisseur Boris von Poser inszenierte bewegenden Realismus in einer surrealen Welt, womit der Laborcharakter einen tieferen Sinn erhielt. Martin Butzke und Matthias Bundschuh spielten das Brüderpaar Emil und Hanno als wären sie siamesische Zwillinge. Ihre emotionalen und mentalen Haltungen waren adäquat, denn sie brauchten einander und einer konnte sich ohne das Zutun des Bruders nicht artikulieren. Auffällig im Spiel der der Bühnenbrüder war die Präzision Martin Butzkes, der sinn- und treffsicher zwischen Ekstase und Understatement wechselte. Bemerkenswert war auch, wie maßvoll Regisseur von Poser Brutalität, die im Stück hinreichend vorhanden ist, inszenierte. Er verzichtete hier weitestgehend auf deren realistische körperliche Umsetzung, ohne dem Schrecken einen Abbruch zu bereiten. Während die Familie Flick sehr gleichmütig ihrer Auslöschung entgegen ging, führte Jochen Noch einen gequälten und gehetzten  Gunter vor, dessen indifferenter Lebenswille erst sehr spät brach. Nochs körperliche Überzeugungskraft transportierte deutlich das innere Erlöschen. Sein letztes Aufbegehren fand im Liebesakt mit Hedy statt, der mit der Punktiernadel in Hedys Lunge vollzogen wurde, in einem Blutbad endete und dennoch so etwas wie Erlösung brachte. Anna Böger gestaltete die Hedy fast somnambul. Die Figur blieb immer ein wenig geheimnisvoll (pathologisch) und erzeugte eine durchgängig starke Spannung. Dies galt gleichsam auch für den von Walter Hess gespielten Vater Flick, der seine Macht durch konsequentes Schweigen entfaltete. Ohne Mimik und ohne ein Wort war seine, tiefes Unbehagen erzeugende, Präsenz das ganze Stück unübersehbar.
 
Als der (nichtvorhandene) Vorhang fiel, blieben sicherlich einige Frage offen. Die nach dem Titel bleibt unbedingt.
Und wenn am Ende alles ein Laborversuch war, Theater im Reagenzglas quasi, so reichte es doch immerhin zu der einen wichtigen Einsicht: So kann es nicht weitergehen.
 
 
Wolf Banitzki

 


Wilde - Der Mann mit den traurigen Augen

von Händl Klaus

Jochen Noch, Martin Butzke, Matthias Bundschuh, Anna Böger, Walter Hess

Regie: Boris von Poser

Werkraum Kaspar Häuser Meer von Felicia Zeller


 

 

 
Nicht nicht helfen ist nicht dasselbe wie helfen

Sozialarbeiter Björn ist ausgefallen, zusammengebrochen. Björnout! Haha! Seine 104 (akuten) Fälle von Kindeswohlgefährdung werden auf die Kolleginnen Barbara, Silvia und Anika verteilt. Was soll's, dreißig mehr oder weniger spielt längst keine Rolle mehr. (In Bremen kamen 2005 auf 3 Sozialarbeiter ca. 620 Mündel.) Es verwundert die drei Damen auch nicht, als sie von der Sozialfront erfahren, dass Björns Stelle vorerst unbesetzt bleibt.
Worum geht es denn eigentlich? Es geht darum, die Fälle im Auge zu behalten, den Verwaltungsaufwand und vor allem die Kosten im Rahmen der Vorgaben zu halten und den Eindruck zu erwecken, dass Sozialarbeit geleistet wird. Wenn es denn "ganz unerwartet" doch zur Katastrophe kommt, ist gut versichert, wer die entsprechenden Notizen im Protokoll hat.

Das klingt zynisch. Ist es auch. Doch nicht die Texte von Felicia Zeller, sprachgewaltig und entlarvend, sind es und schon gar nicht die streckenweise irrsinnig komischen Umsetzungen der drei Darsteller Lasse Myhr, Steven Scharf und Sebastian Weber, sondern die Realität ist es. Was in Deutschland in den 70er Jahren eine Vorzeigeeinrichtung war, ist inzwischen zu einem fadenscheinigen Feigenblatt der Politik verkommen. Sozialhelfer sind zu Feuerwehrleuten umfunktioniert und wenn es ihnen nicht gelingt, beispielsweise eine Kindstötung rechtzeitig zu verhindern, dann sind sie auch noch die Buhmänner- und frauen für die Medien. Es geht so leicht über die Lippen, dass Beamte und Sesselfurzer in den Ämtern faule, überbezahlte und ignorante Figuren sind. Die Medien erbringen mit plakativer, die Emotionen der lüsternen Leser ansprechende Berichterstattung immer wieder den Beweis.
 

Lasse Myhr, Steven Scharf, Sebastian Weber

© Andreas Pohlmann

 

Felicia Zeller, Autorin von "Kaspar Häuser Meer" lebt z.Z. in Berlin-Neukölln. Wenn sie das Thema soziale Brennpunkte und Sozialarbeit aufgreift, kann man ihr kaum unterstellen, sie wüsste nicht, worüber sie schreibt. Die Rütli-Schule befindet sich in diesem Stadtbezirk. Auch was ihr Bild von den Damen im Amt betrifft, so versucht sie denen keineswegs ein Denkmal zu setzen. Die ausgefeilte Sprachgestaltung beweist zweierlei: Die Damen agieren in einem Apparat, der kafkaesker kaum sein könnte, und sie sind auch Menschen mit Schwächen und Stärken. Die Damen unterhalten sich in Codes und Abkürzungen. Dass in den halbausgesprochenen Sätzen insbesondere die Verben auf der Strecke bleiben, hat nicht zuletzt auch etwas damit zu tun, dass hier vornehmlich geredet, notiert, protokolliert, "blattiert", diskutiert, debattiert und weniger gehandelt wird. Handeln kostet Geld. "Kostenübernahme" ist der bürokratische Terminus. Das heißt, wenn irgendwo ein Kind klammheimlich auf einer stinkenden, mit Fäkalien überzogenen Matratze leise wimmernd, weil ihm die Kraft zum Schrei fehlt, wie ein weidwundes Tier verreckt, muss die Kostenübernahme geklärt sein, um es aus dem Elend zu befreien. Kosten müssen bilanziert werden und in "Zeiten knapper werdender Kassen" passiert es schon einmal, dass die Hilfeleistungen für akut gefährdete Kinder halbiert wird. (Siehe Programmheft - Unbedingt zur Lektüre empfohlen, wenn man sich einen Tag richtig vermiesen will.)

Nein, es handelt sich hier keineswegs um ein soziales System, das den Menschen helfend beisteht, sondern um ein ökonomisch gesteuertes, das Menschen, die dringend Hilfe brauchen, verwaltet, um Schlimmstes zu verhindern. Inzwischen reichen aber die Mittel nicht mehr aus, um die "Überwachung" des Elends zu gewährleisten. "Es war doch keine Absicht! Ich wollte doch nicht nicht helfen!" Dieser Satz aus dem Stück zeigt das Dilemma in seinem ganzen Umfang auf. Die doppelte Negation dominiert.

Es stellt sich die Frage, ob sich so eine Geschichte für das Theater eignet? Vor zwanzig Jahren erhoben die altbundesdeutschen Theatermacher den DDR-Theatermachern gegenüber den Vorwurf, sie handelten tagespolitische Themen auf der Bühne ab, die eigentlich größeren Themen vorbehalten bleiben sollte. Der Grund dafür war, dass das Theater mehr Möglichkeiten bot als die Medien, die unter SED-Kontrolle standen. Wenn dieses Phänomen heute im vereinigten Deutschland wieder auftaucht, so aus denselben Gründen. Die Medien kommen ihren Pflichten nicht mehr in ausreichendem Maße nach. Kindstötung bringt nur noch Quote, insbesondere, wenn man die Monster auf die Titelseite knallen und gleich noch ein paar Politiker und Beamte abservieren kann. Ursachenforschung und Lösungssuche, zu denen Medien beitragen sollten, sind kein Thema mehr.

Es gibt aber noch ein anderes und wohl wichtigeres Kriterium, ob ein Thema auf die Bühne sollte oder nicht. Es ist die Frage nach der künstlerischen Umsetzung. Die Inszenierung von Lars-Ole Walburg rechtfertigt den Schritt auf die Bühne unbedingt. Hier wird nicht ideologisiert; hier wird nicht mit billigen Schuldzuweisungen hantiert; hier wird exzellentes Schauspiel geboten, das mehr bewirkt als jeder noch so spektakuläre Zeitungsartikel. Walburg hat die Rollen der Damen mit männlichen Schauspielern besetzt, wodurch das Frauenspezifische dieser Schicht im Apparat überdeutlich betont wurde. Es ist keine billige Travestie, obgleich es ungeheuer lustig zur Sache geht. Dabei ist es nicht das heitere Lachen über die Komik der Figuren, sondern über das Kafkaeske der Situationen. (Prallelen zu Andreas Kriegenburgs "Prozess" im Schauspielhaus drängen sich auf.) Es geht um nichts Geringeres als Kindstötung, Zusammenbruch von verantwortungsbewussten Sozialamtsmitarbeitern und um Suizid.

Die drei Darsteller spielten mit höchster Intensität, sprachen Texte, die bisweilen das Blut in den Adern gefrieren ließen und gaben nichts anderes wieder als die Realität. Katrin Krumbein hatte die Bühne lediglich mit drei fahrbaren Schreibtischen, einer übergroßen, das Spiel verhöhnenden Bambifigur und einem Betonmischer ausgestattet. Letzterer suggerierte mit Merkzetteln beklebt eine nie endende Baustelle.
Obgleich das Stück keinem Erzählstrang folgte, schälten sich bald die Charaktere heraus. Steven Scharfs Barbara war unentwegt auf der Flucht vor den unerfüllbaren Forderungen des Amtes. Lasse Myhrs Anika kämpfte durchgängig mit den Problemen der Vernachlässigung des eigenen Kindes. Auch sie war überfordert wie die meisten der Eltern, denen sie die Vormundschaft entzogen hatten. Und Sebastian Webers Silvia stand längst am Abgrund, alkoholselig und todessüchtig. Jedes menschliche Engagement und Gefühl war lebensgefährlich. Drei exzellente Schauspieler zeigten brillantes Ensemblespiel.

Die Inszenierung wollte weder beweisen, dass das Sozialamt versagt, noch dass die zunehmende Asozialität insbesondere in den unteren Schichten unbeherrschbar geworden ist. Der Theaterabend hinterließ beim Betrachter das bohrende Gefühl, dass das System untauglich ist, die Probleme zu bewältigen. Dominierend war die absolute Abwesenheit von Hoffnung.

Nach der Vorstellung kam im Autoradio die Meldung, dass in den Wäldern um Cleveland Zeltstädte entstehen, wo die Menschen hausen, denen man ihr Heim genommen hatte. Die nächste Runde ist eingeläutet.

 

Wolf Banitzki

 

 

 

 

Kaspar Häuser Meer

von Felicia Zeller

 

Lasse Myhr, Steven Scharf, Sebastian Weber

Regie: Lars-Ole Walburg

Werkraum Lass mich dein Leben leben! von Jörg Albrecht


 

 

 

Das Leben als B-Movie

Zwei Stücke von Jörg Albrecht (Jahrgang 1981) an zwei unterschiedlichen Handlungsorten wurden am 20. März zur Uraufführung gebracht. Das erste Drama, "Aus dem Bild", spielte in einem Filmstudio, in dem sich sechs Filmleute und Schauspieler für ein Wochenende zusammengefunden hatten, um einen Low-Budged-Horrormovie abzudrehen. Inhalt: Es ist ein Ort des Drecks, wie der Regisseur meint, Dreck wird produziert, Dreck ist die Aufnahmetechnik, die den Darsteller bis auf das Letzte entblößt und im Dreck sielt man sich. Der Plot ist schnell zusammengeschustert. Eine Horde von Zombies bedroht eine Stadt. Die zwei Protagonisten haben nur noch die Möglichkeit, mit einem Helikopter zu entkommen. Auf dem Weg zum Fluchtgefährt wird gemetzelt. Doch dann geschieht etwas Unvorhersehbares. Die Aufnahmetechnik wendet sich gegen alle Beteiligten und killt diese. "Bleib immer im Schatten der Kamera!" Die Aufnahmetechnik wird zur Tötungsmaschine.

Das zweite Drama ereignet sich in einem Kino namens Grindhouse (wörtlich: Schund und Schmuddelkino). Auch hier werden B-Movies produziert. Die Darsteller sind die Besucher des Kinos. Auch sie werden gekillt, auf der Toilette oder im Zuschauerraum. Michael Myers geht um, ein Kinokiller mit einer Maske, wortlos und anonym. Medien überwachen Medien, ungesteuert wie es scheint. Der Horror nebst Tod als der letzte Kick, Deutschland erfuhr ihn gerade wieder in Gestalt eines 17jährigen in Winnenden, der mit Schusswaffen in seiner ehemaligen Schule 15 Menschen erschoss.

Inspiriert wurde der Autor Jörg Albrecht durch einen skandalösen Vorgang in einer New Yorker psychiatrischen Klinik, in der eine zwangseingewiesene Patientin nach vierundzwanzig Stunden im Wartesaal verstarb. Niemand hatte sich um sie gekümmert, obwohl Überwachungskameras den Prozess des Sterbens minutiös aufzeichneten. Das aus diesem Vorgang resultierende Urteil des Autors: Dirty control.
 

Tabea Bettin, Oliver Mallison, Sebastian Weber, René Dumont, Tanja Schleiff, Lasse Myhr
Musiker: Murena

© Andreas Pohlmann

 

Jörg Albrecht formuliert einen wütenden Aufschrei gegen einen omipräsenten Big Brother, der reale Raume in fiktionale verwandelt, der mit seiner Überwachungsmaschinerie Räume schafft, in denen sich das Individuum verliert. Albrecht tut dies allerdings nicht aus der Perspektive der Draufsicht, sondern als Beteiligter. Mehr noch, er erklärt jeden Menschen zum Mitspieler. Ein Plot in den Geschichten interessiert ihn, wie im Interview im Programmheft nachzulesen ist, weniger, der wird höchstens als Ordnungsprinzip herangezogen. Vielmehr will der Autor reflektieren, um eine Katharsis einzuläuten. Das selbe Argument könnten wohl auch die etwas helleren Counter-Strike-Spieler für ihre Rechtfertigung heranziehen. Eines ist Autor und Regisseur immerhin gelungen, eine dürftige Überhöhung der Realität. Die Mittel, die dafür herhalten mussten, waren vornehmlich filmische: "Ich finde interessant, Elemente zu benutzen, die eigentlich in das andere Medium gehören und zu gucken, wie ich diese im Theater irgendwie gebrauchen kann." Könnte das ein Ausrede sein, weil man die Mittel des Theaters einfach nicht mehr beherrscht?

Regisseur Roger Vontobel (Jahrgang 1977), er studierte Schauspiel an der American Academy of Dramatic Arts in New York und Pasadena, inszenierte die Stücke als das, was sie sind, Trash. Das garantierte einen furiosen Abend, mit großartigem schauspielerischen Engagement. Ein Coca-Cola-Automat und ein paar fahrbare Drehsessel und eine Projektionsfläche (Kino), die auch zur Monitorwand (Überwachungszentrale) erweitert werden konnte, reichten Bühnenbildnerin Claudia Rohner. Zu Recht, denn die Akteure entfesselten darin raumgreifend und körperbetont einen rauschhaften Film- oder Tötungsbetrieb. Keiner der DarstellerInnen zügelte den expressiven Spieltrieb. Es war unbestritten ein fulminanter Reigen, von harten Beats und Riffs angeheizt (Musik: Errol Dizdar und Murena).

Um Exploitation geht es letztendlich und da wird auch schon mal Marx zitiert, der angeblich empfahl, die Exploiteure zu exploitieren. Ob es ein Witz sein sollte, bleibt fraglich, denn Marx empfahl, die Expropriateure zu expropriieren und das ist etwas völlig anderes. Wer glaubt, er könne das Theater am Ende mit tiefer gehenden Einsichten (außer über die in Trashkunst) verlassen, der irrt. Der Autor und auch die Inszenierung von Vontobel haben nichts anzubieten. Die Ratlosigkeit bekommt am Ende durch Tabea Bettins Judith eine Stimme, die da sinngemäß fragt: Wenn alles fotografiert ist, wenn jeder den anderen gefilmt hat, ist das dann Freiheit? Nun, die Katharsis, die sich mehr oder weniger beim Zuschauer einstellt, lässt den Betrachter die Arme in die Höhe reißen und "Nein!" sagen. Und ...?

Über die essenzielle Inhaltslosigkeit des Stückes wird dem Zuschauer jedoch hinweggeholfen mittels eines wahren Feuerwerks von Pointen. Es sind Pointen, wie man sie aus amerikanischen Comedy-Serien kennt. Es werden dabei kaum Situationen belacht, sondern Menschen, selbst Menschen in höchster Not. Es sei an die inspiratorische Quelle für die Stücke erinnert, an den Tod eines Menschen. Wenn Lachen das letzte Mittel ist, die Realitäten auszuhalten, dann sollte langsam damit begonnen werden, die Realitäten zu ändern. Ein Hinweis, wie man das angehen könnte, ist in der Aufführung im Werkraum der Münchner Kammerspiele nicht zu entdecken. Vielmehr wird der nüchterne Betrachter einen selbstverliebten Umgang mit dem entdecken, was eigentlich am Pranger steht. Ein Kabarettist bemerkte unlängst, er verstünde die Bemühungen des Innenministers gar nicht recht, wo doch die meisten jungen Menschen in hemmungslosem Exhibitionismus jede Moment ihres Lebens in Foren wie YouTube öffentlich machen. Sartre bemerkte seinerzeit, die größte Freiheit liege in der Verweigerung, im Widerstand.

Wolf Banitzki

 

 

 


Lass mich dein Leben leben!

von Jörg Albrecht

 

Tabea Bettin, René Dumont, Oliver Mallison, Lasse Myhr, Tanja Schleiff, Sebastian Weber
Musiker: Murena, Errol Dizdar

Regie: Roger Vontobel

Werkraum Armes Ding von John Birke


 

 

Höhenflug eines Kreativen

"Ein Stück mit drei Szenarien" erwartet den Zuschauer im Werkraum, wenn sie oder er John Birkes (Jahrgang 1981) Auftragswerk für die Kammerspiele in Augenschein nehmen möchte. Im ersten Szenario bombt eine Attentäterin, keine Muslime, eine Kölner Moschee am Tag der offenen Tür in die Luft. Es gibt Tote und Verletzte. Ein Mann, der mal eben schauen gegangen ist, rettet ein türkisches Mädchen. Beim Versuch auch deren Bruder, der nicht mehr lebt, was der Mann jedoch nicht weiß, aus dem Inferno zu erlösen, gerät er in eine Explosion und wird verstümmelt. Eine Botschaft gibt es nicht, doch immerhin einen Paradigmenwechsel im Denken. Hier bombt eine Christin(?) weil sie die Kultur und Religion verteidigen will. "wer besser sprengt, hat schon recht." Zitat John Birke im Programmheft.

Das zweite Szenario behandelt die auf dem Krankenbett geschlossene Ehe zwischen dem verstümmelten Mann und seiner Angetrauten. Die opfert sich für ihn auf. Ist es Liebe? Vielleicht, doch darum geht es dem Autor scheinbar nicht, sondern um die bedingungslose Selbstaufgabe der Frau. So ganz rein bleibt diese Selbstaufgabe nicht, denn die Frau wird von einer Journalistin überredet, ein Buch über das Schicksal des Mannes zu schreiben. Nun ja, schreiben braucht sie es gar nicht. Gegenlesen reicht der Journalistin schon. Zur Buchpremiere geht der entstellte Mann denn auch nicht mit, es ist ja nicht sein Buch und ob es wirklich etwas mit ihm zu tun hat, steht in den Sternen.

 

 

Sylvana Krappatsch, Lena Lauzemis, Edmund Telgenkämper

© Thomas Pohlmann

 

Aus dieser Opferthematik heraus, man weiß auch nicht mehr so recht, wer eigentlich das Opfer ist, leitet sich das dritte Szenario ab. Eine Agentur verleiht an Perverse und Bedürftige Leihopfer. Es ist ein guter Job, wie die malträtierte Frau beteuert und, wie die Prostitution auch, ist es sogar noch eine Hygiene für die Gesellschaft. Es gibt natürlich ein Risiko dabei, doch wenn der Preis stimmt, ist dieses zu vernachlässigen.

Hier hat ein junger Autor ganz augenscheinlich große Probleme mit der Welt. Das ist schon mal gut. Er schreit das in die Welt hinaus und ... versucht zu unterhalten. Wollte er die Welt wenigstens im Geiste ein wenig beeinflussen, hätte er sich allerdings über seinen eigenen Reflex hinausbemühen müssen. Fehlanzeige. Selbst die Unterhaltung gelingt nicht wirklich. Keines der Szenarien lässt darauf schließen, dass er durch eine konkrete Realität, durch eine eigene Erfahrung zu diesem Schmerzensschrei gezwungen wurde. Die Szenen sind zusammengebastelt in der Hoffnung, Realität damit aufzuheben. Das ist legitim, wenn es denn gelingt.

Der Text ist nur bedingt ein Theatertext. Dafür spricht die Selbstbehauptung des Autors und eine Handvoll wirklicher Dialoge, die, würde man sie von der Fäkalsprache befreien, noch einmal auf die Hälfte reduziert werden können. Der Text ist überwiegend reflexiv, monologisch, an niemand außer das Publikum gerichtet. ‚Und dann war ich ... und dann fühlte ich ... und, und, und.'
Nun, das soll wohl so sein, denn Birke meint über sein Schreiben: " ein fass, (...), einfach aufmachen und sehen, wie alles raussprudelt. nachher kommt schon jemand zum aufwischen. da kommt immer wer." (Eine gewisse Arroganz ist dabei nicht zu übersehen.) So klingt der Text schließlich auch. Die Sprache ist demontiert und fragmentiert. Dem Autor wären die Attribute: archaisch, spontan, emotional sicher lieber. Nein, sie ist schlichtweg schlampig und wenn überhaupt Wirkung erzielt wird, dann über Reizungen mit billigen Mitteln und (dank der ausgezeichneten Schauspieler) einer aggressiven Musikalität.

Felicitas Brucker fiel letztlich die Aufgabe zu, wegzuwischen oder besser, Ordnung zu schaffen in diesem pubertären, kreativen Konstrukt. In einem Theater, das nicht über so hervorragende Schauspieler und Spielleiter verfügt, wäre die Peinlichkeit und Künstlichkeit dieses Textes schnell und für jedermann offenbar geworden. Diese Instant-Sprache, herausgefiltert aus Coolness einer Filmrealität, soll suggerieren, dass die Figuren ganz dicht am Leben sind. Auch wenn der Autor daran glaubt, sie sind es nicht.

Sylvana Krappatsch, sie ist ein komödiantisches Vollblut, die gern auch mal an die Grenzen des Physischen geht, gab die Selbstmordattentäterin, die Ehefrau und das Leihopfer. Dabei schien ihr die zügellose Sprache, die mit ihrer bemühten Laxheit nur dürftig berührte, entgegen zu kommen. Sie tobte furios über das Plateau aus geschnürten Ballen voller Kleidungsstücke (Bühne: Dorothee Curio), vermutlich Sedimente unserer Konsumgesellschaft, dahin. Edmund Telgenkämpers Aufgabe bestand darin, das jeweilige Frauenbild als verstümmeltes Bombenopfer oder als naiver Journalist zu spiegeln. Auch sein Part ging mit großem physischen Aufwand einher. Lena Lauzemis war die dritte im Spiel, stichwortgebend als "Sie" im 1., quotengeil als Journalistin im 2. und rüde machohaft als Folterer im 3. Szenario. Felicitas Brucker mühte sich redlich und mit guten Einfällen um sinnfällige Spielgestaltung. Die Schauspieler setzten alles mit Enthusiasmus um. Doch die Dürftigkeit der dramatischen Vorlage konnten sie mit ihren Anstrengungen nicht überspielen.

Diese Inszenierung gehört zu denen, über die es sich nicht wirklich zu streiten lohnt. Spätestens nach einer Woche wird man sie vergessen haben und wenn nicht, dann weil einem die eine oder andere Leistung der Darsteller im Gedächtnis geblieben ist. Man nehme es als das, was es war: Eine Werkstattinszenierung.


Wolf Banitzki

 

 

 


Armes Ding

von John Birke

Sylvana Krappatsch, Lena Lauzemis, Edmund Telgenkämper

Regie: Felicitas Brucker

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