i-camp yoUturn von Christiane Mudra


 

 

Kehrtwendung oder Ich gegen die Welt

Die Ankündigung des Überwachungsexperimentes von Christiane Mudra versprach einen spannenden Abend: „Die Regisseurin setzt sich in dem Theaterexperiment „yoUturn“ mit dem Phänomen der Personenüberwachung aus verschiedenen Perspektiven auseinander und macht die Mechanismen von Angst und Paranoia in verschiedenen performativen Touren durch München für den Teilnehmer in 1:1 Situationen erlebbar.“ Und die Sicherheit zu wissen, dass es sich um einen Kunstakt und nicht um reale Realität handelte, verhinderte gottlob den allerletzten Kick. Haarscharf an den Grenzen wurde ausgelotet und manche bislang still gehütete Information fand hier den Weg in die Öffentlichkeit. Das Versprechen von Schutz überdeckte bislang die dunkle Seite der immer stärker und deutlicher um sich greifenden Überwachung durch die ordentlich eingesetzten Sicherheitsorgane. Längst sind hier die Grenzen verschwommen, die Übergriffe an der Tagesordnung, die Auslegung von Sachverhalten den Vorstellungen einzelner überlassen. Zu wessen Vorteil?

Wann immer der Mensch sich selbst gegenüber steht, und sei es in einem Spiegel, bricht die Angst aus. Von allen Ängsten ist die Angst in seiner Fehlbarkeit und Unvollkommenheit erkannt zu werden wohl eine der größten. Kampf, Flucht, List, Niedertracht, Scheinheiligkeit sind die unmittelbaren Reaktionen auf Entlarvung. Und um diese Unsicherheit gar nicht erst aufkommen zu lassen, manipuliert er. Er manipuliert nicht nur sich und sein Erscheinungsbild, er manipuliert auch seine Gegenüber. Zumindest versucht er es, scheint es doch leichter sich über die Schwäche eines anderen aufzubauen, als selbst Eigenheit und Stärke zu entwickeln.

Die moderne Stadtwelt besteht aus Spiegeln, besteht aus reflektierenden Glasflächen. Überall begegnet sich Mensch selbst, wird mit sich beschäftigt, um besser in Funktionsabläufe eingegliedert werden zu können. Um nicht, naturgemäß, sofort mit unkontrollierbaren Reflexen die Mechanismen zu stören. Die Verfolgung durch „wilde Tiere“, den „Nachbarstamm“, die Kontrollorgane der Gesellschaft, die Nachbarn, die Vorgesetzten, die Verkäufer ist prägend, allgegenwärtig präsent. Dazu kommt noch die Verfolgung durch sich selbst, das eigene Spiegelbild. Kein Wunder, dass Paranoia die Welthaltung beherrscht.

„Theater ist per se und seit seiner „Erfindung“ politisch. Meine Wahrnehmung des globalen Geschehens ist es auch.“, so Christiane Mudra. Ihr Anliegen ist es, für das Phänomen der Überwachung zu sensibilisieren und die Fülle der Missstände aufzudecken. Das Überwachungsexperiment „yoUturn“ ist eine ungewöhnliche Erfahrung in einem Land, in dem, allem Anschein nach bzw. glaubt man den Medien, Überwachung und Kontrolle der Bürger „nicht wirklich“ betrieben wird. Man könnte meinen, die unzähligen auf die Straßen und Gebäude gerichteten Kameras dienen lediglich dem Wachstum der Konjunktur, den Bankkonten der Hersteller und damit den Arbeitnehmern in der Produktion. Auch werden in diesem Land effiziente Systeme für die Ausspähung von Bürgern anderer Länder entwickelt und man verdient lediglich an den Ängsten von umstrittenen Machthabern weltweit. An der Verfolgung von anderen Bürgern ist man „eigentlich nicht schuld und beteiligt“ und so besteht auch keine Notwenigkeit Asylsuchende aufzunehmen. Diese Borniertheit ist wohl kaum zu überbieten, oder ist alles nur noch Geschäft. Staatsgeschäft.

Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts lag das Wesen bzw. Unwesen der Geheimen Staatsdienste überwiegend im Dunkel der herrschenden Ordnungsmacht. Seit der Einführung der Medien wie Radio und Fernsehen, seit der aufklärenden Verbreitung von spannender Literatur rückte dieses Unwesen deutlicher ins allgemeine Bewusstsein und erfährt auf diese Weise Legitimation. Als Unterhaltungsfaktor unabdingbar und ebenso lukrativ geworden, soll es den einzelnen an die geforderte Konformität erinnern und ihn ihr verpflichten. Und da es scheinbar nur zwei Seiten gibt – die Gute vs. die Böse – erscheint es logisch vernünftig sich für eine Haltung zu entscheiden. Dennoch ist es so, dass der „gute Staat“ eine Organisation „zu seinem Schutz“ installiert, die absolut in den „Bereich des Bösen“ zuzuordnen ist. Zumal diese doch weitestgehend ohne ethische Grenzen agiert – MfS, BND, SS, CIA, KGB etc. etc. etc.. Die Taten „der Guten“ sind also keineswegs so gut, dass sie allein durch ihre Auswirkungen überzeugen, nein, sie müssen unbedingt verteidigt und geschützt werden. Der Gute bewaffnet sich, um die drei Gramm Selbstherrlichkeit seines kleinen Egos zum Mittelpunkt des Geschehens aufzublasen. Ein albernes Spiel, das seit ... nun Urzeiten läuft. Naturgesetz: Das Rudel organisiert sich. Futter wird ausgespäht, beobachtet und erlegt. Das stärkste Tier im Rudel bläht sich auf und macht sein Tun zu geltendem Gesetz, reißt seinen Anteil Fleisch zuerst aus der Beute. 21. Jahrhundert?

Im Trenchcoat und mit tief in die Stirn gezogenem Hut war ich mit dabei. Ich machte die Erfahrung von direkter Verfolgung, erfuhr das Gefühl von Beobachtung ohne den Beobachter ausmachen zu können, nahm Spuren auf, stand ratlos im Dschungel der Stadt. Es schien wie ein Spiel und war doch Spiegel von tatsächlichen gesellschaftlichen Gepflogenheiten, Gewohnheiten. Die Informationen die ich auf dem Weg erhielt, ergänzten eigenes Wissen um die Paranoia der Machthaber. Das Experiment kann als „auf Teufel komm raus“ gelungen betrachtet werden, veranschaulichte es doch unmittelbar, was sich in die Gesellschaft längst eingeschlichen und breit gemacht hat. Und wer die Spannung, den Nervenkitzel sucht, wird sie erfahren ...

 

C.M.Meier

 

Die Akteure des Experiments - durchweg durch den Prozess der Globalisierung, der Vernetzung der letzten zwei Jahrzehnte geprägt (Auslandsstudien, Zusammenwirken mit internationalen Künstlern) – vollzogen den Vorgang der Grenzüberschreitung auf eben dieser Ebene. Künstlerische Verbindungen ermöglichen neue Sichtweisen, zeigen Unterschied und Egalität. Es findet offener Austausch, kreative Anregung und kulturelle Bereicherung statt und diese wird zu Selbstverständnis, wird zu Alltag. Und gerade hierin liegt die Chance zu menschlicher Entwicklung jenseits der kleinen Horizonte. Die Aspekte von Sein (also u.v.a. auch die naturgegebene Wachsamkeit) zu leben, ohne einem einzelnen davon Übergewicht zuzusprechen, bedeutet dem Frieden einen Schritt näher zu kommen.

3 Mal täglich erwarten 5 verschiedene „yoUturns“ die Zuschauer. Eine Beschreibung, literarische Umsetzung zum mentalen Nachvollzug, des von mir erfahrenen turns habe ich bewusst unterlassen, gilt es doch sich selbst auch dem körperlichen Erlebnis auszusetzen, um zu umfassender Erkenntnis zu gelangen.

Kartenreservierung: you.turn(at)aol.com

 

 

 

 


yoUturn

Ein Überwachungsexperiment von Christiane Mudra

Emre Akal, Kostis Kallivretakis, Monika Lembke, David Müller, Heidelore Rutz

Regie/Konzept/Text: Christiane Mudra

i-camp Kinder der Sonne / Die Letzten nach Maxim Gorki


 

 

 

Wo wir stehen, kämpfen, fallen

 

Die Geschichte der Menschen verläuft in Zyklen. Und so prägten die Kriege den Beginn der letzten Jahrhunderte in Europa. Die napoleonischen Kriege und der Wiener Kongress 1815, der 1. Weltkrieg und der Vertrag von Versailles 1919 und heute der aktuelle Wirtschaftskrieg des geheiligten Konsumismus. Der ist ein Bruderkrieg, in dem die Tyrannisierung und Versklavung der Lohn- und Gehaltsempfänger durch verschulte Bürokraten und Buchhalter, die Ausgrenzung (um nicht AusLagerung zu schreiben) nicht unmittelbar ausbeutbaren Humankapitals und die Glorifizierung des Materiellen (auch des Ramsches) die, um jeden Preis verfochtenen, verteidigten Ideologien vorstellen. Eine bittere Zeit. Zeit für die Theaterstücke von Maxim Gorki, die diese Vorgänge in den Focus der Aufmerksamkeit und der Bewusstwerdung rücken können. Maxim Gorki, ein freier Geist im vor- und revolutionären Russland, beschrieb in seinen Stücken, seiner Tradition gemäß, die Menschen in ihrer engsten Gemeinschaft, der Familie. Hier werden die Zerfallserscheinungen am unmittelbarsten sicht- und erfahrbar. Die Zerfallserscheiungen, die jedem Entwicklungsschritt vorangehen.

 

Die beiden freien Regisseure Jutta Ina Masurath und Claus Peter Seifert übertrugen diese Werke in die Gegenwart. DE/Gorki 2013. Zwei stringent umgesetzte Neufassungen, sprachlich dichte Fragmente fanden den Weg auf die Bühne des i-camp. Stahlregale bildeten die Kulissen, mal dienten sie als Aufbewahrungsort für die vielen Kuscheltiere der „spielenden“  Kinder, mal als  plastikverhangene Wolkenkratzer, mal zur Rückzugsmöglichkeit für die Gestressten. (Bühne Katrin Ehrhardt) Das Hier und Heute - in dem wahrlich zeitgemäß auch die Schauspieler durch Präsenz und klar definierte Rollen bestachen.

 

Kinder der Sonne

Pawel betreibt wissenschaftliche Forschungsarbeit und ein Verhältnis mit der vom Leben gezeichneten, doch immerhin reich gewordenen Melanija. Jelena, seine Frau schaut dem jungen Künstler Ditmitrij tief in die Augen, denn die Ehe mit Pawel ist eine freundschaftliche Verbindung. Lisa, Pawels Schwester, erfreut sich an der Aufmerksamkeit von Boris, doch eine Beziehung möchte sie nicht eingehen. Melanija hatte sich für Geld verkauft und sucht nun ihrerseits Pawel zu um- bzw. erwerben. Der Kreis ist eng gezogen, die Beweggründe nur allzu bekannt und wirklich geändert hat sich nichts. Oder doch? Die Inszenierung blieb an der Oberfläche, gleich mechanischen Abläufen wurden die Schicksalsmomente überspielt, gespielt. Lediglich in den kleinen Gesten fand Differenzierung statt, kam für wenige Momente Gefühl ins Spiel. Auch das ist Zeichen des Heute. Markus Böker, als doch reichlich naiver Pawel, trug ungeachtet der intellektuellen Äußerungen stets sein Felltier vor dem Bauch – den sichtbaren Widerspruch. Melanija, Nika Wanderer, verkörperte die geforderte Unsicherheit bisweilen bis zur Präsenzlosigkeit. Dorina Pascus Jelena war einfach umfassend praktisch veranlagt und ihr Geliebter Adam Markiewicz ein großer Junge. Stefan Krischke umwarb sichtbar halbherzig Lisa, die von Cecilia Hafiz äußerst lebendig in Szene gesetzt wurde. Ein Familienkreis in seinen vertrauten Motiven - ein Schauspiel der entlarvenden Art.


 DEGorkiKinder    DEGorkiDieLetzten
Kinder der Sonne

Zoran Krga (Musik), Adam Markiewicz, Dorina Pascu, Markus Böker,Nika Wander, Cecilia Hafiz, Stefan Krischke

© Katrin Ehrhardt


Die Letzten

Jördis Wölk, Ria Schindler, Christoph Vogel, Dorina Pascu, Carla Weingarten

© Michael Wüst

 

Die Letzten
Fedossja ist alt, ihr Vermögen schrumpft. Sie hat Sofia und deren Kinder aufgenommen, die ihre eigenen Vorstellungen verkörpern. Ljubow steht für hinterhältige Bemerkungen, Nadeshda für Berechnung, Alexander für Korruption und den haltlosen Vater, Wera für die gegen Mitgift verkaufte Weiblichkeit. Sie bewegen sich, bewegen einander – jeder Satz enthält Analyse, Begründung, Entschuldigung und Ausrede in einem. Iwan Kolomijzew. Wer ist Iwan? Gemäß dem derzeitigen Gesellschaftsbild fehlte der Vater in dieser Stückadaption. Sein Stellvertreter Alexander spielte Saxophon und die Frauen sangen von Alleinsein. Christoph Vogel stellte den weitgehend angepassten jungen Mann dar, der immerhin in den Ausschweifungen dem Vater nahe zu kommen trachtete. Sofia, Dorina Pascu suchte stets nach Ausgleich und Ria Schindler als Fedossja fehlte sinngemäß alle Kraft. Nika Wanderer war eine durchaus geschäftstüchtige Ärztin Nadeshda. Verloren lief Carla Weingarten als Jüngste, Wera, über die Fläche, vergebens suchte sie nach Unterstützung. Die Szene beherrschte Ljubow. Jördis Wölk brachte bravourös die durch ein Missgeschick entstellte, doch scharfsinnige und als böse definierte Tochter dar. Ein Familienspiel - Feminismus lag dieser Aufführung zu Grunde.

 

Psycho, Psyche, Psss ... die Luft ist raus! 100 Jahre sind vergangen seitdem Sigmund Freud das Geschäftsfeld der menschlichen Psyche auftat. Seither ist das menschliche Elend zwar öffentlich verhandelbar, jedoch keinesfalls geringer geworden. Im Gegenteil, was übrig blieb, sind noch nicht mal bemitleidenswerte Kreaturen. „Die Menschen behandeln einander wie Vieh.“  

 

Erst wenn die Verheerung ihren Höhepunkt erreicht, der volle Umfang des Geschehens erkannt und benannt ist, kann es zu Veränderung kommen. Erst wenn der Karren an der Wand zerschellt, wacht der Apparatschik auf. Doch um sich selbst diesen harten Aufschlag zu ersparen, den Entwicklungsschritt in sich zu vollziehen und bereichert in den Alltag zurückzutreten, braucht es nachvollziehbare Bilder. Diese Bilder boten die schlüssigen artifiziellen Inszenierungen. Die „Kinder der Sonne“  trugen ihre eitlen Beweggründe selbstherrlich zur Schau. „Die Letzten“  feilschten konfus um ihre Bequemlichkeiten. Wenn das nicht hochaktuelles gesellschaftspolitisches Theater ist ... Applaus. Begeisterten Applaus!

 

 

C.M.Meier


 

 

 


Kinder der Sonne / Die Letzten

nach Maxim Gorki

 

Markus Böker, Cecilia Hafiz, Dorina Pascu, Adam Markiewicz, Stefan Krischke, Nika Wander, Jördis Wölk, Ria Schindler, Christoph Vogel, Carla Weingarten

 

Regie: Claus Peter Seifert / Jutta Ina Masurath

i-camp Schuld - Wiedervorlage der Akte Jesus von Katalin Fischer


 

 

 

An ihren Taten sollt ihr sie messen

 

Rechtsprechung und – brechung ... wie nahe doch die Begriffe aneinander liegen, wie sie einander bedingen, gegenseitig bestätigen und befördern. Die Medien sind voll davon und täglich erschlagen die Schlagzeilen mit den Taten der Pharisäer. Doch was ist Recht? ... Die Übereinkunft von Menschen zu Handlungsweise in einer Gemeinschaft, gefasst in Regeln. Das ist es im philosophischen Sinne. Doch im Alltag regieren die Regeln und deren Vertreter, hängt Recht zumeist mit dem Haben, und sei es Rechthaben scheinbar untrennbar zusammen. Hier wird bereits der Abgrund zwischen Leben und Norm aufgetan. Recht um des Rechts Willen ist absurd.

 

Diese Absurdität  zeigt Katalin Fischer in ihrem Stück „Schuld - Wiederaufnahme der Akte Jesu“ auf. Die Akte umfasst die schon während der Lebenszeit Jesu divergierenden Wahrheiten, welche in den vergangenen 2000 Jahren immer wieder aus unterschiedlichen Perspektiven neu aufgenommen worden sind. Eine Akte, deren Papierstapel in Schwindel erregende Höhen reicht. Und viel Schwindel ist da auch dabei, das bedeutet viel ungenaue Wahrnehmung, Mutmaßungen, Vorstellungen und Legenden. Doch in allem findet sich ein Quäntchen Tatsache. Nun, dass Jesus von Nazareth gekreuzigt wurde, kann wohl eine solche Tatsache angenommen werden. Doch bereits bei der Art der Befestigung an eben diesem Kreuz scheiden sich die Wahrnehmungen. Üblicherweise banden die Römer die Delinquenten mit Stricken an das Kreuz. Dennoch soll Jesus an dieses genagelt worden sein. Bereits hier scheiden sich die Wahrnehmungen. Starb Jesus am Kreuz, oder wurde er am Abend wieder abgenommen, hatte er sich nach 3 Tagen von der Strapaze erholt und ging wieder seinen Geschäften nach? Leiser und unauffälliger. Kann der Vorgang der Kollaboration und ein solcher ist sicherlich auch zwischen Juden und Römern gelaufen, an Hand dieses Beispiels zur Anklage gebracht werden? Ja. Die RichterInnen in dem Theaterstück suchten, und da sie sich zurückzogen und wohl noch tagen, suchen sie sicherlich immer noch an einem Anhaltspunkt. Inwieweit kann ein Volk, eine Glaubensgemeinschaft Schuld auf sich laden, und wie kann dies bewiesen und geahndet werden? Eine hochaktuelle Frage.

 

Die Einvernahme der Zeugen und die Zitate des Evangeliums waren hochartifiziell dargestellt und von erhellender Dichte. Ergebnis: Die Diskrepanz zwischen dem, was in der Tat geschieht und dem, was in die Handlung interpretiert wird und dem, was wahrgenommen werden kann vom Einzelnen, bildet ein dichtes Geflecht von Sinneseindrücken. Über dieses wird das Recht als Maß gespannt - starres Recht ist als Funktionsschema für den freien lebendigen Menschen und eine ebensolche Gemeinschaft völlig ungeeignet. Was bleibt also?

 

Dies versuchten der Mann (Klaus Wächter), als Stimme der Vernunft und der Joker, als die personifizierte freie Handlungsweise dem Publikum nahe zu bringen. Was die RichterIn (Yasmin Afrouz), die StaatsanwältIn (Gabi Fischer) und die VerteidigerIn (Bettina Balk) mit Tod ernsten Mienen und gestrengem Habitus verlauten ließen, wurde durch diese gebrochen, auf die Theaterbühne und vor das Publikum transformiert. Und, der stets beflissene RechtsdienerIn (Agnes Schöffmann) trugt und ertrug dies Geschehen und das eigene Tun nur mit Alkohol, es ist eine Übertragung aus der heutigen Realtität. Michael Pohl stellte  Pontius Pilatus und Philo v. Alexandria markant in den Zeugenstand. Die Evangelisten wurden von Fabian Weiss kindlich verkörpert, besonders der Fischer Johannes. Und, wie Lukas festhielt: Im Volk treiben sich die Schönredner als Manipulanten herum, wiegeln die Leute auf, lenken die Geschicke durch „Einflüsterung“, kreieren auf diese Weise Mob. Sie sind allgegenwärtig. Shirli Volk gab dem Evangelium ihre erhaben tragende Stimme. Eine hochdramatische Inszenierung, die - drastisch, doch keinesfalls belehrend, Katharsis befördert – fabelhaftes Theater auf die Bühne brachte. Ein Erlebnis! Jesus (Nicolaj Setoodeh) kam die Rolle des stillen Beobachters im Prozess zu. Erst als das Gericht abgetreten war, fragte ihn der Joker nach seinen Beweggründen, den auslösenden naiven Gedanken. Zu spät.

 

Das Leid wird hoch gehängt und angebetet, als wäre es die Lösung, zu der man aber selbst nicht fähig ist. Die Lösung liegt in freiem entwickeltem Humanismus, wie der Idealist so wunderbar formulierte. Er wandelte über die Bühne, zwischen den erstarrten Rechthabern. Sich an die Erkenntnisse der in Italien, also Europa, entwickelten humanistischen Weltanschauungen und menschlichen Verhaltensregeln zu erinnern, täte der Gemeinschaft gut. Der Aberglaube und Traditionalismus der in den Weltreligionen verhaftet ist, felsenfest, mit diesen Verbreitung fand und als „der Stein der Weisen“ angebetet wird (was wiederum nur Fetischismus gleichkommt) führt die Gesellschaften in regelmäßigen Abständen an den Rand der Existenz, den Krieg. Dennoch hält man unbeirrt, ja geradezu bigott uneinsichtig an dem hochgelobten hoch gehängten Leid fest. Dazu gehört eine exorbitante Portion Dummheit und Sturheit, welche wohl den Ersatz für eine entwickelte innere angemessene Haltung bilden.
 
Der letzte Bühnenakt war die Freilegung des Kreuzes mit der Figur Jesus. Das Recht in –haberei und –brechung wurde beiseite geräumt. Was blieb? Das noch formbar und belehrbare Kind, welches Glaubenssätze, Floskeln herunterbetete, ohne deren Sinn erfassen zu können. Es trug eine Kerze in der Hand, wohl für die Hoffnung dadurch zu Erkenntnis zu gelangen. Der alte Mann (Harrotyn Hampartzumian) stand bereits im Dunkel, er war Kind geblieben, er war nur noch seine eigene tote Litanei. Das Ende: salbungsvolle Larmoyanz um die eigene Unfähigkeit

 

C.M.Meier

 

 

 

Nachtrag:
Wie sich die Mechanismen doch gleichen. Folgte man nicht inhaltlich dem Text, hätte das Stück auch von einer aktuellen politischen Sitzung handeln können. Die Aktenberge sind meterhoch, die Debatten laufen ins Leere, die Realität ist längst ausgeblendet. Und am Ende steht die bedingungslose Anbetung des Mammon.



 

 

Weitere Vorstellungen ...

 


Schuld - Wiedervorlage der Akte Jesus

von Katalin Fischer

Juliana Afrouz, Yasmin Afrouz, Bettina Balk, Gabi Fischer, Friedrich Schloffer, Nicolai Setoodeh, Michael Pohl, Agnes Schöffmann, Shirli Volk, Klaus Wächter, Fabian Weiss, Harrotyn Hampartsoumiyan (Sänger)

 

Regie: Katalin Fischer

i-camp Kleinbürger nach Maxim Gorki


 

 

 

Parallelwelten

 

Ein Theaterstück und doch sind viele Welten darin enthalten. Maxim Gorki verfasste es als sein erstes Stück, uraufgeführt wurde es 1902. Maxim Gorki, ein Autodidakt mit umfangreichem Wissen und mit im Leben erworbener Bildung, war Revolutionär. Maxim Gorki proklamierte den sozialistischen Realismus mit seiner lebensechten allgemeinverständlichen Darstellungsweise, er wurde verfolgt, er wurde rehabilitiert, er wurde ausgezeichnet, er starb unter Überwachung durch geheime Staatsorgane. Sein Weg verlief wie der vieler anderer, und wie sich die Vorgänge doch insgesamt wiederholen. Die Gesellschaft befand sich im Umbruch. Die starren Strukturen des Zarenreiches bildeten einen Rahmen, in dem die aufrührerischen Gedanken mehr und mehr Verbreitung fanden. Ein Prozess war in Gang gekommen. Damals, zu dieser Zeit ...

 

Die Kleinbürger Bessemjonow nehmen Nil, ein Pflegekind auf. Nil, von anderer Art, findet in den aufkommenden Sozialistischen Ideen Lebensinhalt und –ziel. Sie bedeuten Hoffnung. Anders die beiden leiblichen Kinder Peter und Tatjana, die in der Enge der Spießbürgerlichkeit ersticken, lediglich Figuren des Nachvollzugs elterlicher Problemstellungen sind. In Polja, dem Hausmädchen findet Nil eine adäquate Frau. Tatjana, die sich in ihn verliebt hatte, verliert die letze Chance auf ein Entrinnen aus der Enge des geerbten Schicksals. Peter will alles, nichts wirklich und nur nicht werden wie sein Vater.

 

kleinBürger I
Die Servietten wurden kunstvoll gefaltet, der Tisch aufwändig dekoriert. Sie täuschen sich mit der Größe ihrer Teller über ihre Kleinbürgerlichkeit hinweg. Der für gesellschaftsfähig erklärten Genusssucht fröhnend wurden erlesene Weine kredenzt, kulinarische Köstlichkeiten serviert. Dazu gab man sich, den Stil betonend, in Habitus und Sprache klassisch. Regisseur Robert Spitz konzentrierte seine Fassung auf die Erfüllung von tradierten Formalismen, hinter denen immer wieder die Launen aufblitzten. Der intelligent aktualisierte und gekürzte Text gab ein Heute wieder, wie es bei den Geldbürgern zelebriert wird. Man gab sich eloquent, emotionslos, wettete, zockte, betrog. Die obsessiv gelebte Individualität des Einzelnen stand im Vordergrund in einer geschlossenen - auf Film dokumentierten - Gesellschaftsklasse.  

 

Kleinbürger II
Modernes Proletariat oder doch eher Kleinbürgertum? Die Grenzen verschwammen, wie sie es heute in der Realität auch tun. Der fleißige Vater mit längst überholten Ordnungsvorstellungen, die gebildeten Kinder im prekären Status, die Mutter vergeblich um Ausgleich bemüht - das sind scheinbare Klischees, die dennoch nur allzu lebendig sind. „Wo ist eure Wahrheit?“, wollte der autoritäre Vater voll streitbarer Emotion wissen. Immer wieder stellte er die Frage an Tatjana und Peter. Nur Nil sprach von den Werten, doch er sprach nicht mit dem Vater. Er sprach zum Publikum. Regisseurin Jutta Ina Masurath legte ihre Fassung breit an, zu breit und zu lang, könnte man meinen, wären da nicht die mittlerweile anhaltenden inakzeptablen Gegebenheiten, die dieser Verlauf zu übertreffen suchte. Längst sind die Grenzen des Erträglichen überschritten, und dennoch steht die Frage „Was ist eure Wahrheit?“ scheinbar unbeantwortet im Raum. Die Akteure verloren sich zwischen Egozentrik und konzeptloser Hysterie, packten ihre Koffer, traten ab. Der Vater starb auf dem Teppich in der Bühnenmitte und mit ihm seine Wahrheit.

 

Kleinbürger III
Ein leerer schwarzer Raum. Pjotr: „Ich schwimme in einem zähen schwarzen Fluss ... alles was ich anfasse zerfällt. ...“ Wie Gegenstände trieben die Figuren durch den leeren Bühnenkosmos der wirklichen Gegenwart. Dazwischen bildete feiner weißer Nebel einen unfassbaren Kontrast. Regisseur Claus Peter Seifert hatte das Stück auf einzelne ursprüngliche Situationen reduziert. Die Sinnlosigkeit allen Seins, die nur allzuleicht dem Alkohol verfällt. Die VaterIn, welche sich nur durch das Zitieren alter Ordnungen aufrecht halten kann. Die Frau, die sich eines jungen verunsicherten Mannes erbarmt, statt ihn zu lieben. Was blieb waren Grundkonflikte. Zaghaft suchten die jungen Erwachsenen Kontakt im Nebel der Gedanken und Gefühle. Nur Nil war lebendig. Offen erklärte er Polja seine Zuneigung. Offen und voll Enthusiasmus für eine freie Gesellschaft trat er ans Publikum ...

 

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Kleinbürger II

Anja Neukamm, Undine Backhaus, Philipp Künstler, Serpil Demirel,  Malika Kilgus, Stefan Krischke

© Silke Schmidt


Kleinbürger III

Stefan Krischke, Alexander Wagner, Dunja Bengsch, Claus Peter Seifert, Linda Sixt

© Silke Schmidt

 

Jede der Fassungen bestach durch ihren ausgeprägten Schwerpunkt, durch Bezug zu den anderen Auslegungen. Die künstlerischen Umsetzungen gelangen in vielfältiger Weise und entsprachen zudem stets dem Anliegen des sozialistischen Realismus. Außergewöhnliche Leistungen von Regie und Darstellern in solidarischem Zusammenwirken boten in jedem Moment ansprechende bewegende Bilder, auch war die fühlbare Ausgewogenheit im artifiziellen Prozess deutlich erfahrbar. Im Kern ein Abend mit revolutionärem Potential.

 

Kleinbürger und Proletarier. Es ist die bürgerliche Ordnung, die die Kultur einer Gesellschaft widerspiegelt und weiterträgt. Ihre Erscheinungsform prägt die Gesellschaft. Und hier und heute? Es sind die Fremden, die angefeindeten Fremden, denn sie sind noch gesund, sie leben ihre Kultur. Die mitteleuropäischen antiautoritär in ihrem Fernsehsessel Ausgewachsenen sind weder Bürger noch Proletarier, sie sind einfach nur bemitleidenswert desorientiert wie Peter oder verschult analysierende Beobachter wie Tatjana in diesen Inszenierungen. Sie sind die Gefangenen einer technokratischen wissensmanischen Zivilisation in der der Natur die Rolle des Ausgebeuteten zukommt. Es war nicht Gott, der verlautete: „Macht euch die Erde untertan.“ Nein, es waren naive alte machthungrige Stammesväter, die dies taten. Ihren doktrinären Worten folgen bedenkenlos Generationen um Generationen und die Aufhebung dieser „Wahrheit“ wäre der Beginn einer neuen Zeit. Denn der Verlust der Natur, deren Zerstörung, zerstört den Menschen, der nur in ihr und mit ihr zu seiner lokal angemessenen, einer lebenswerten Kultur finden kann.

 

Ein Werk, drei Stücke, jedes davon mit drei Dimensionen. Und, jedes stand für sich und alle bildeten eine Reihe, die gesellschaftliche Entwicklung und/oder gesellschaftliche Ebenen aufzeigten. Die traditionelle bürgerliche Ordnung an der protzig gedeckten Tafel im Film von Robert Spitz. Das chaotische Auseinanderdriften der patriarchalen Familie und damit der Kultur in der Version von Jutta Masurath. Die verlorene Figuren in ihrer Suche nach Zukunft von Claus Peter Seifert. Sein Nil rief klar laut engagiert: „Stehen wir auf! ... Stehen wir auf!“ ... allerdings ... vergebens. Die an Bildschirmkommunikation Gewöhnten (ehemals lebendiges Publikum) blieben gewohnheitsmäßig erstarrt auf den Sitzen. Überfordert. Verschenkt die Chance auf Begegnung, Bewegung, einen menschlichen Anfang. „Unglücklich sind wir. Dulden wir weiter.“, sprach Pjotr und ...

 

Ein ungewöhnlicher 3 x 3D-Theaterabend, der über Grenzen führte, die eigenen Grenzen erkennen ließ - künstlerisch in jeder Facette hochprozentig.

 

 

C.M.Meier


 

 

 

 


Kleinbürger

nach Maxim Gorki

3 Inszenierungen von Jutta Ina Masurath, Claus Peter Seifert, Robert Spitz

kleinBürger I
Undine Backhaus, Malika Kilgus, Philipp Künstler, Serpil Demirel, Johnny Müller, Linda Sixt, Stefan Krischke, Anja Neukamm, Malte Berwanger
Regie: Robert Spitz

 

Kleinbürger II
Stefan Krischke, Malika Kilgus, Serpil Demirel, Philipp Künstler, Malte Berwanger, Undine Backhaus, Anja Neukamm
Regie/Bühne: Jutta Ina Masurath

 

Kleinbürger III
Bettina Hamel, Claus Peter Seifert, Dunja Bengsch, Alexander Wagner, Linda Sixt, Stefan Krischke
Regie/Raum: Claus Peter Seifert

i-camp Zeitmaschine von Holger Dreissig


 

 

Alles Erkennbare unterliegt der Interpretation

 

Die Zeit ist ein Phänomen, an welchem sich viele Wissenschaftler lebenslang den Kopf zerbrechen. Sie meinen, man kann sich an einem nicht real existierenden Gegenstand nicht den Kopf zerbrechen. Doch, denn die Erklärungen werden immer wieder neu formuliert und gerade an den Paradoxien zerfallen die gemeinschaftlich aufgestellten Vorstellungen, die verwaltbaren Lebensdefinitionen immer wieder aufs Neue. „Die Zeit ist eine Illusion.“, schrieb Albert Einstein. Und, zur Koordination dieser gemeinsamen Illusion unternahm man bereits Jahrhunderte zuvor den Versuch, die Dimension zu strukturierten. Die Uhr wurde erfunden, das Messgerät für Zeit, jene Maschine, welche Zeit ordnet, bisweilen sogar das Gefühl entstehen lässt, dass es diese erzeugt. Die Uhr macht Zeit verwaltbar, schafft ein verbindliches Maß für die Abfolge von Geschehnissen. Zeit wird über die Uhr amtlich, ermöglicht bürokratische Perfomance.

 

Ein Netz über die Bühne gespannt, fing die Aufmerksamkeit der Zuschauer, veranschaulichte die Lücken durch die es zu entschlüpfen gilt. Drei Männer in orangefarbenen Raumanzügen und riesigen Helmen betraten die Bühne. Sie nahmen in ihren Stühlen Platz und die Reise begann. 1912 trafen sie in Belfast auf den zurückhaltenden Tom O’Malley - H.G. Wells. Bezug nehmend auf den 1895 erschienen Roman von H.G. Wells, in welchem die ersten Reisen in der Zeit vermittels einer Maschine beschrieben wurden, war der Rahmen der Aufführung gestaltet. Die erste Reise des Romanprotagonisten führte in eine, in zwei Klassen geteilte Gesellschaft, zu den glücklichen leichten Eloi und den geschäftig hungrigen Morlocks. Das Dunkel frisst das Licht, ernährt sich von diesem um seine Welt zu betreiben. Ein Blick in den Spiegel des Universums. Der Kongress begann, ein erster Erfahrungsaustausch wurde angestoßen. Vom scherzhaften Spiel mit dem Wort „Zeit“ und seinen Bezügen, bis zu „Ich würde gerne zu meiner Geburt zurückreisen und mich selbst auf den Arm nehmen.“, wohl um Geborgenheit zu finden – stellten sie zahlreiche Anregungen in den Äther, ebenso wie Fußballfans pauschal meinungsmäßig gemeinschaftlich vom Zeitreisen ausgeschlossen wurden. Die menschlichen Äußerungen umfassten unterschiedlichste Dimensionen, auch solche um die Möglichkeiten der Erkundung und Nutzung von Erfahrung aus Vergangenheit und Zukunft. Es gibt immer nur den Augenblick Jetzt - Im Hintergrund bastelte Ben hochkonzentriert (Videoprojektion) den Luxusliner Titanic als Modell. Das 1912 auf der Jungfernfahrt gesunkene Schiff, das größte in seiner Zeit, bildet einen Schwerpunkt im Leben von Ben Stangl. Er arbeitete sichtbar an der Maschine, kennt alle Daten, Bilder, Geschichten und er setzte das auf der Bühne vorgeführte Modell zusammen. Maßstabgetreu.

 

Die in Belfast gebaute Titanic, die bis heute immer wieder das Interesse auf sich zieht und die durchaus als Vergleich für das Schiff „Erde“ stehen kann, auf dem Menschen wissentlich der Kollision mit sich selbst und dem eigenen verantwortungslosen Tun entgegensteuern, stand im Focus. Der Eisberg, die Rückstände der Überindustrialisierung, wächst täglich, und doch, trotz der Kassandrarufe von Wissenschaft und aktiven Menschen, steuern Reeder und Kapitäne direkt auf diesen zu. Es gab nur eine Fahrt für die Titanic, es gibt nur eine Fahrt der Erde durchs All.

 

Die Insel Irland, Belfast und der Nordirland-Konflikt standen stellvertretend für die Bemühungen von Anerkennung und Unabhängigkeit, für Gesinnungsfreiheit in einer Gemeinschaft. Nur allzu oft mündet Intoleranz in Gewalt, in schwellenden Konflikt. Das demonstrative Schwenken der Fahnen durch den verbindlich vermittelnden Deman Benifer, der den einzelnen Regionen Irlands durch diesen Akt Aufmerksamkeit und stimmlose Stimme verlieh, kann nationalstaatlichem Denken, Grenzziehung gleichgesetzt werden. Der vereinende „Union Jack“, lag als Patient auf der Massageliege, ihm wurde Maß genommen mit der Bayerischen Norm, einer Weißwurst-Kette. Kann der Konflikt doch auch zur Diskrepanz zwischen Bayerischem und Deutschem in Bezug gesetzt werden. Eine Union erfordert andere Denk- und Handlungsansätze. Da müsste der Kleine Mensch schon ein wenig über seinen Schädelrand hinaus wachsen, doch auch in der Zone der uneingeschränkten Bewegungsfreiheit ziehen, regen sich die Geister ähnlichen Denkens an, bilden Gruppen. Unmittelbar.

 
  Zeitmaschine  
 

Holger Dreissig, Oli Bigalke, Deman Benifer

© Edward Beierle

 

Den Mittelpunkt des Kongresses der Zeitreisenden in Belfast bildete im Jahr 2012, ebenso wie 1912 ein Schaltjahr und mit einem zusätzlichen Fenster in die Zeit versehen, das Filmseminar zum Thema: Zeitreisen. Der Dozent, Oli Bigalke, glänzte leutselig kompetent durch die Zusammenstellung aller sehenswerten und einiger weniger sehenswerter Filme. Geschichte, Schauspieler und Erscheinungsjahr waren ihm, dem Prototyp des allgegenwärtigen Dozenten, geläufig. Das Genre bietet eine bequeme Reisemöglichkeit, um in anderen Abenteuern und Dimensionen Erkenntnisse zu sammeln, gleich dem gedruckten Wort und diesem doch über vorgestellte Bilder überlegen. Weil es heute nicht mehr anders sein kann, wurden den außergewöhnlichsten Filmen wiederum Preise zugesprochen - in dieser ausgepreisten Welt. „Durch welche Brille ich sehe ...“  und weil ein bisschen Party auch zur Gegenwart gehört, tanzten die Zeitreisenden, natürlich mit „dicker Brille“ und jeder in seiner Welt, parallel.  

 

Muriel Aichberger verkörperte als androgyne Erscheinung - erst im Tanz als Kultfigur, dann in klassischem Kostüm mit Hut und Schirm und leuchtend blauem spitzem Herrenschuh – den propagierten ungeschlechtlichen Typus, der die „Welt erklärt“, statt sie zu leben.  Betrachtete die Figur doch H.30 und seine Werke analytisch, dokumentarisch. Er stand zwischen den Denkmälern der Vergangenheit, die auf Sockeln präsentiert, Sinnbilder für epochale Werke und Erscheinungen vorführten. Ein Saurier, die Telefonzelle des Dr. Who, der DeLorean, ein Plastikkopf mit Fahrradhelm, die weiche Uhr von Salvador Dalí.

 

Das Bewusstsein ist die einzige Zeitmaschine mit der es sich frei in Vergangenheit und Zukunft bewegen lässt. Die Wunden und Fehler der Vergangenheit zu erkennen, zu heilen und mit klarem Auge einen unverstellten Blick auf die Gegenwart werfen zu können, ist für viele heute Zeichen für aussichtsreiche Zukunft. Ihre Bilder, ihre Worte bilden die Nahrung für die im Dunkel Verharrenden, wie etwa das Publikum. Das Schlussbild zeigte unmissverständlich ein Wesen in sich, seiner Seele, seiner Welt; wobei durchaus auch die gesamte Menschheit als ein Wesen in der Atmosphäre begriffen werden darf. Ein Eloi erschien auf der Bühne (wie fast alle Nahrung heute, plastikverpackt).

 

Es waren die feinen Anspielungen mit denen Holger Dreissig Akzente, Hinweise auf die Gegenwart, setzte. Nie aufdringlich, dringen sie doch ins Bewusstsein, bleiben haften. Es gibt noch Künstler, Künstler, die Botschaften vermitteln, die Weltsicht und Anliegen subtil vielschichtig darzustellen in der Lage sind. Sie sind rar, waren es immer schon und doch, oder gerade deshalb überdauert ihr Schaffen den Augenblick. Ihre Kunst ist immer eine Zeitmaschine, sie trägt in eine andere Welt, ist Blick aus einer Vergangenheit in eine Zukunft. Möge die Performance auf dem begeisterten anhaltenden Applaus weiter durch die Zeit reisen!



 
 
C.M.Meier

 

Weitere Vorstellungen 17.-20. + 23.-27.Jan.

 


Zeitmaschine

von Holger Dreissig

Muriel Aichberger, Deman Benifer, Oli Bigalke, Holger Dreissig, Tom O’Malley und Ben Stangl

Regie/Bühne/Kostüm: Holger Dreissig