i-camp  TOTAL von Bülent Kullukcu, Anton Kaun, Dominik Obalski


 

 

Wie Algorithmen unsere Welt formen oder Inflation der Nanoroboter

 

Elias (BGR), Raymond (US), Jean-Luc (F), Karl (D) und Antonin (F) versammelten sich auf einer kybernetischen Bühne, umringt von Hologrammen ihrer eigenen Intelligenz, der Intelligenz der gesamten Schöpfung. Zahnräder aller neuen Art drehten sich unaufhörlich, perpetituiv die Quadratur des Kreises reflektierend – Klaviermusik empfing uns und ich fragte mich, wo wohl der Flügel stand und wer der es bedienende Klavierspieler war?

Die Schrottpresse schrie es aus dem Dröhnen der Kakerlaken heraus: ein altes Instrument vergangener Evolutionsphasen, die Vollendung der Mechanik westlicher Musikinstrumente, ohne Gnade zermalmt, zerstückelt zu einem Haufen Holz und verworrenem Draht.

„Keine Gefühle sind in diesem Stück. Es gibt in diesem Stück nichts zu fühlen.“ Tatsächlich, wie die schwarzweiß spielenden Kinder anmuteten, kam ich diesmal nicht atemlos die Treppe hinauf, wie bei dem ersten Teil der Trilogie in der Galerie Kullukcu. "Die letzten Tage der Menschheit oder der Untergang der Welt durch schwarze Magie" hatte es ja im März geheißen.

Mein wiederholter Audit des Triumvirats Kullukcu-Kaun-Obalski ehrt mich und die Produktion, die sich heuer unter anderem als Musical-Meditation gut bei mir verkauft. Erneut erkenne ich erst etwa in der Halbwertszeit, dass der Klavierspieler tatsächlich die Tasten drückt und nicht nur etwa  Requisite ist wie all die Modellsoldaten auf der Bühne der Grausamkeit. In der Schillerstraße hatte ich ja deren Live-Projektionen als Manifestation von Craigs Übermarionette gelobt.

Elias beschäftigte sich mit nicht nur menschlichen Massen, sondern auch Maßen. 1945 wäre die Atombombe das Maß aller Dinge geworden. Als transmutierter Schatz des Märchenkönigs wäre es simultan die Million. Jeder möchte diesen Schatz besitzen, und so lange die Inflation (nach Franz Hörmann historisch alle 70 Jahre fällig) erfolgreich zurückgedrängt werde ­- wie man anhand des Oktoberfestbieres stetig beobachten kann - hätte diese „kosmopolitischen Klang“. Elia's Algorithmus lautet: Inflation = Krieg = Evolution.

Raymond, der täglich seine um die 200 zusammen gestellten Vitampräparate aus der Plastiktüte schluckt – Zeit sparend und hinsichtlich seines undankbaren Familiennamens „Kurzweil“ sich asymptotisch der Unsterblichkeit annähernd – gab mit seinem Algorithmus Anlass zur Sprengung eines halben Mariannengrabens von Chicago bis New York. Ganz wie im zweiten Weltkrieg, nur eben den Dimensionen unserer Zeit angepasst – um, wie gewohnt, dem Wohle der Menschheit zu dienen – half uns seine Firma FatKat auf Jagd nach den Schätzen. Als kriegserfahrene Europäer wissen wir, dass ein enormer Wettbewerbsvorteil erlangt wird, indem Fiberglas-Kabel von Paris nach Wien verlegten werden, um ein Signal 35 mal schneller als wir mit der Maus klicken können zu übertragen. Als Märchenkönige müssten wir uns nie wieder spekulative Geschicklichkeit aneignen.

  Total  
 

© Ulrich Stefan Knoll

 

Kommen wir zum Jahr 2102. Überhaupt müssten wir überhaupt nichts mehr lernen. Einfach die Nanoroboter einatmen, die in der Luft schweben. In unseren Blutbahnen schwimmend uns direkt mit Burgern, Steaks oder Vegetarischer Kost versorgend, müssten wir auch nichts mehr essen und nicht mehr furzen. Wenn der Körper nur noch Plastik ist und 5% biologischer Rest, haben wir erkannt, dass das Universum eine spirituelle Maschine ist und den Maschinen unsere Menschenrechte zurück gegeben, die wir ihnen unrechtmäßig genommen hatten.

Rückblende. Irgendwann zwischen 2092 und 2066: „Der tanzende Körper ist ein Körper, der sich von sich trennt, um zu sich zu finden, der seine Form verlässt, um eine neue einzugehen, der einen Ort aufgibt, um einen anderen einzunehmen:“ Quantentheorie bei Jean-Luc. Mary Wigman tanzt uns „drohende, unermüdliche Präsenz“ unseres Körpers. Wie kommt es, dass unsere 2022 im Hinterkopf eingepflanzten iPads iclusive ihrer virtellen Realitäten genauso eine Verlängerung unseres Körpers darstellen wie Sterne, Galaxien, Superstruktur des Kosmos, welche wir erst durch den von Forschergeist untrennbaren Spionagesatelliten, der mitten auf der Bühne landete, wiederentdeckten?

Meine Begleitung fragte an der Bar, ob sie das Bier mit hinein nehmen dürfte. Freundlich wurden wir von Herrn Kaun eingeladen, die Kammern voll wummernden Erdbebens zu betreten. „Das Stück ist völlig körperlos. Das Stück blutet nicht. Du kannst dich in diesem Stück nicht hinsetzen und denken. Das Stück ist nicht gedankenlos, Das Stück ist nicht gedankenvoll, das Stück hier ist total“. Splash! Da landet eine Bierflasche durch ruckartiges Aufstehen eines Gastes auf dem Boden und zerschellt. Geschäftsführer Herr Hoffmann bittet das Paar, einzutreten, hebt die größte Scherbe auf, wie ein Totem. Der Zuschauerraum hält 20 Menschen, darunter eine ältere Dame, die vielleicht den Krieg miterlebt hat. Karl Kraus (A) jedenfalls hat sie nicht aus dem Saal verschrecken können, vielmehr zwei Theaterbesucher der jüngeren Generation. So viel Realität musste sein.

Die respektvolle Trilogie verlangte uns viel Mut, Ehrlichkeit und Toleranz ab, der Applaus kam erst nach 30 Sekunden Stille. Ja, die Stille. Das ist es, was wir schon lange vermisst hatten. Diese auszukosten empfehle ich Ihnen heute Abend. Optieren Sie morgen, Samstag, den 17. November zum nachträglichen Konzert mit Herren Kaun, Bürger, Beck, Acher.

 


Dominik Tresowski

 

 

 


TOTAL

Eine Theaterinstallation von Bülent Kullukcu, Anton Kaun, Dominik Obalski



i-camp Wahnsinn der Freiheit. Kleist oder Das absolute Ich von FTM


 

 


Ironie des Schicksals

Wahnsinn – sich den Göttern nahe wähnen. Ist das Privileg oder Schicksal eines Dichters? Es ist wohl beides und gipfelt in beschwingten Höhenflügen ebenso, wie es die schwärzeste Dunkelheit auslotet, gilt es doch von der Freiheit allen Seins zu berichten. Die dadurch aufgestoßenen Tore eröffnen Nachlesenden, -folgenden andere Horizonte, die Weite zur Ewigkeit. Die Konsequenz darin zeichnet Leben und Werk, Werk und Leben von Heinrich von Kleist aus. Anders als der Zeitgenosse J. W. von Goethe, welcher sehr schnell den Kompromiss mit der Mittelmäßigkeit des Bürgerlichen einging, sich einspannte in den Wagen der Gesellschaft, lehnte Kleist standhaft jedes innere Arrangement mit dieser ab. In dem untenstehend zitierten Brief beschrieb Kleist, an den mit ihm in Idealen und Ernsthaftigkeit wohl verbundenen Jean Paul, auch das Bild seines Ich. Ein auf dem Bock sitzender Kutscher würde vermutlich sagen: „Jung, hoffnungslos romantisch ...“

Und so begann auch die Inszenierung des FTM, in welcher Kleist auf Grundlage seiner Briefe vorgestellt wurde. Leichter weißer Nebel zog über die Bühne, vorbei an den Projektionen der Bäume eines Waldes. Kurt Bildstein stilisierte einen Reiter, er durchmaß den Raum zwischen den Stämmen, erhaben posierend und verliebt. Verliebt in Käthchen, die vor ihm im Grase lag, ihn anhimmelte, ihn, den Ritter in strahlender Rüstung. Er griff nach den Sternen, spielte Käthchen, spielte Heinrich, war Käthchen, war Heinrich. Ein töricht überspanntes Gemüt im Taumel der Jugend?

Der zu Ende des 19. Jahrhundert in deutschen Landen herrschende Militarismus prägte Kleist über die Maßen, derart, dass alle Gedanken, alle Gefühle absolutistischen Anspruch annahmen. Dazu kamen eine geforderte Gefolgschaft den ideologischen Werten gegenüber und der unabdingbare Gehorsam bis in den Tod. Es sind die Götzen seiner Zeit, die ihn prägten, die ihn führten, die Oberhand behielten bis ans Tor zur Ewigkeit. So, wie jede extreme Position immer nur das Absurde per se sichtbar macht, so, leiteten diese Bilder und mündeten letztlich nicht nur in eigenwillige, die Zeiten überdauernde, literarische Werke. Kleists Briefwechsel, welcher ein überaus reger und vielseitiger war, gewährt unverstellten Blick auf seine Beweggründe.

ftm-kleist

Dominik Schuck, Kurt Bildstein, Mikhail Kholyakov

© Ulrich Stefan Knoll

 

Mit den Zeilen an die Verlobte und an Freunde verdeutlicht, brachte George Froscher die weibliche und die männliche Seite eines von Menschen- und Eigenliebe stark geprägten Schöngeistes, eines „absoluten Ich“ auf die Bühne. Teil I: Wilhelmine (Inga Bramm, Beate Kellmann, Klaudia Schmidt), Wilhelmine posierte hinter den Mikrophonen, tanzte, drehte sich selbstgefällig, lächelte erstaunt zu den intensiv vorgebrachten Forderungen von H.K.. Träumte dieser doch davon mit ihr auf dem Lande zu leben und sie in den Mittelpunkt seines Daseins zu stellen. Zuviel oder zuwenig des unerreichbaren zweisamen Glücks? Wilhelmine verließ sein Leben, verließ nach der Show die Bühne. Nebel erfüllte erneut den Raum als Bild verschleiernder Wirklichkeit. Teil II: Nicht minder kompliziert waren die Beziehungen von Kleist zu seinen Freunden. Heinrich und Ernst verkörperten das Ringen um Anerkennung, Nähe, Zuwendung in  kraftvoller Manier. Das sprach Mann sicherlich an. Wille, Kraft und Anspruch an die Person gaben sich ein Stelldichein. Dichter Nebel erfüllte erneut den Raum als Bild verschleiernder Wirklichkeit. Teil III: Es siegte die Sehnsucht nach der Freiheit, der Freiheit des Todes. Doch wollte Kleist diesen Weg nur in weiblicher Begleitung beschreiten. Henriette Vogel erklärte sich bereit, ihn zu begleiten. Traurig, ergreifend erklangen die Töne aus dem Saxophon (Mikhail Kholyakov) bis der Schuss erklang, sein Echo im Raum verhallte. Stille und dann ... dann beschwingte Töne, als wäre es Freiheit, die Heinrich von Kleist im Elysium gefunden hätte. „Nun, o Unsterblichkeit, bist du ganz mein“

Der Bezug des Themas zum Heute: Menschen auf der Suche nach perfektionierten Personenbildern, das vergebliche Ringen um eine erfüllende Beziehung zum anderen Geschlecht, Männerbilder und der Umgang des Mannes im eigenen Geschlecht, nicht zuletzt die Sehnsucht nach Freiheit, all das wurde auf der Bühne angesprochen. Der Realiserung wirklicher Vorstellungen sind enge Grenzen gesetzt und nur mit Akrobatik, welche erforderlich ist im Miteinander - es sind wirkliche Verrenkungen, Kopfstände, Purzelbäume die Mensch permanent schlägt - umsetzbar. Martin Petschan bewies kunstfertigste Beherrschung derselben. Mann, oh Mann.

 
 
C.M.Meier


Aus dem Brief an Jean Paul 5.1.1808
„.... Ihre An-kündigungs-Worte haben mein Inneres erquickt. Auch ich bin für die vermittelnde Kritik – ist ja alles und das ganze Leben nur Vermittlung und nur die Ewigkeit nicht – und alle jetzt kritischen Vermittlungen finden in späteren Zeiten und Genien wieder die höhere Vermittlung. Ich werde Ihrem Phöbus zum Gespann vorlegen, was ich Bestes habe – kein Stecken-, Schauckel-, Nürnbergspferd – und kann ich ihm und mir nicht helfen, so mag meines so nebenher laufen, wie man sonst in Neapel ledige Pferde zur Lust neben dem Gespann mittraben ließ.“
 
 
Weitere Vorstellungen: 26., 27., 28., 29., 30., 31. Juli

 


Wahnsinn der Freiheit. Kleist oder Das absolute Ich

von FTM - Projektfassung George Froscher

Kurt Bildstein, Inga Bramm, Christoph Dähne, Beate Kellmann, Mikhail Kholyakov, Martin Petschan, Klaudia Schmidt, Dominik Schuck, Christian Smigielski

Regie Video Raum Kostüme: George Froscher

i-camp Traumtexte von Heiner Müller


 
Ich spiele mehr als ich weiß

Das FTM – Freie Theater München - setzt seine Reihe „Autorenprojekte“ fort mit Heiner Müller, von dem sie bereits einige Texte inszenierten und weltweit zur Aufführung brachten. Die 1970 von Kurt Bildstein und George Froscher gegründete Gruppe spricht mit ihren Inszenierungen alle menschlichen Sinne an, verbindet viele Formen. Sie loten künstlerisch vielfältig und darstellerisch konsequent die Freiräume aus, welche das Theater bietet. Diesmal in ihrem Mittelpunkt: Der Schriftsteller Heiner Müller, schon zu Lebzeiten ein Klassiker. 1929 in Sachsen geboren, erlebte er das Dritte Reich, den Zweiten Weltkrieg, die DDR und die neuzeitliche Bundesrepublik Deutschland - ein Geschichts- und Erfahrungsspektrum, das sich in allen seinen Arbeiten wiederfindet. Die Psyche des Menschen faszinierte ihn ebenso, wie Politik und Gesellschaft. 2009 erschien, posthum, eine Zusammenstellung persönlicher Notizen.

Die Wand mit dem Eingang bot dem Publikum zum Empfang eine Videoinstallation mit Bildern und Zitaten aus den bisherigen Heiner Müller Projekten des FTM. Der Zuschauer durchschritt sie, um in den Theaterraum zu gelangen und in die Welt des Schriftstellers einzutauchen. Traumfiguren erwarteten den Eintretenden hinter der Türe. Es war lange dunkel und still im Raum, ehe die ersten Schritte vernehmbar wurden. Die Texte begannen in seiner Jugendzeit, die er als „Ausländer“ (Sachse) in Waren in Mecklenburg verbrachte. Ausgrenzung sollte auch der prägende Faktor seines Werkes werden, bedingt diese denn auch literarisches Schaffen. Enthielten die Passagen des Werkes zu Beginn noch durchaus persönliche Erlebnisse, gleich einem Tagebuch, so wurden sie im Laufe der Zeit, den Lebensphasen entsprechend, immer mehr auch zu philosophischen Reflektionen.
Die Schauspieler, alle gleich gekleidet in Schwarz, trugen abwechselnd oder gemeinsam, gleich einem antiken Chor vor. Präzise Artikulation bestimmte ebenso den Tonfall, wie feine Nuancierungen – ein Spiel mit und um die deutsche Sprache. Ihre Körperhaltung war zurückgenommen, die Gesten fein, bisweilen tänzerisch. Heiner Müller? Das Publikum saß ihm gegenüber und auch seinem Alter Ego, wenn Gabriele Graf mit Mikrophon von der Tribüne sprach. Es erlebte eine geschlossene vielschichtige grandiose Vorstellung, die durch Spiel mit Licht- und Toneffekten abgerundet war.

Eine der Sequenzen der Inszenierung handelte vom Vergessen. Der Chor der Darsteller, im Gleichschritt auf das Publikum zugehend, intonierte stakkatoartig: Vergessen – Vergessen – Vergessen - ... „Vergessen ist konterrevolutionär, denn die ganze Technologie drängt auf Auslöschung von Erinnerung.“ H.M. Wie wahr dies ist, ist leicht zu erkennen. Man will die Menschen vergessen machen und überflutet sie durch Fernsehen, Zeitungen und Internet mit Aktuellem, welches für das Heute steht und bereits morgen ad absurdum geführt wird und ebendas Vergessen zu machen, fordert neue Überflutung. Die Flutwelle wird immer höher, breiter, größer, umfassender - der tägliche Tsunami aus Milliarden und Abermilliarden zu Worten und Sätzen gesetzten Zeichen und zusätzlich ein „Absaufen in der Flut der Bilder“. Was war gestern? Vergessen ... vergessen? So wird die Revolution, als Möglichkeit einer Veränderung, erstickt im Vergessen. Die Darsteller traten bis unmittelbar vor das Publikum heran, suggestiv.

  traumtexte  
 

Alexander Brandl, Dominik Schuck

© Ulrich Stefan Knoll

 
 
Es sind keine fertigen Texte, es ist eine Zusammenstellung von festgehaltenen Gedanken, Psychogrammen, veränderten Erinnerungen und obsessiven Gelüsten, die auf die Bühne kamen. Müllers Kommentar zu Träumen: „Der ganze Sinn jeder künstlerischen Anstrengung ist den eigenen Träumen nachzujagen - im Traum ist jeder ein Genie und dem jagt man nach. ... Die Hauptarbeit besteht darin, dass man seine Träume beim Schreiben einholt, was unmöglich ist. Man kann sie nie so präzise und zugleich komplex notieren, wie man sie träumt.“ Das könnte auch für den Versuch der Darstellung von ebendiesen Träumen auf einer Bühne gelten. Doch wie Müller den Trauminhalten durch seine Texte außergewöhnlich nahe kam, so kam auch das FTM diesen durch ihre Umsetzung in Konzept, Regie und Darstellung außergewöhnlich nahe. Sie fassten die Worte in Figuren, führten sie zurück zu Bildern und hauchten ihnen so Leben ein. „Am Anfang war das Wort ...“, heißt es in der Bibel und dieser Satz kann auch für die Aufführung gelten. Ob nun für den Schriftsteller am Anfang das Wort stand, beispielsweise das in den als Kriegsbeute gewonnen Dünndruckausgaben von Kant und Schopenhauer, Bücher, die auch ihrer äußeren Schönheit wegen besitzenswert erschienen, oder ob es die Bilder seiner Träume waren, kann mit der Frage gleich gestellt werden: Was war zuerst, das Huhn oder das Ei? Die Inszenierung schloss auf adäquate Weise diesen Kreis.

Es stehen nun auch in diesem Text eine Reihe von Zitaten Müllers, welche bereits wieder und wieder wiederholt wurden. Doch es bleibt nur sein Wort, denn es treffender oder genauer ausdrücken zu wollen, ist ein ebenso unsinniges Unterfangen, wie die Zusammenhänge von Psyche, Traum und Realität neu erfinden zu wollen. „Ich werde wiederkommen, außer mir“, schrieb Kurt Bildstein mit weißer Kreide an die schwarze Wand. Er schaute auf die Figuren des Lebenstraumes und wie einer Sehnsucht folgend und leer geträumt und geschrieben, setzte er sich, aller Träume entkleidet, zu ihnen. Am Ende saßen die Darsteller still auf dem Boden, zerrissen Blätter, warfen sie in die Luft, harrten aus, um schließlich gemeinsam abzugehen. Der Traum war zu Ende, was sichtbar blieb, waren die zerstückelten Texte schwarz auf weiß und ein Konterfei auf dem Bühnenboden. Heiner Müller ist nie wirklich gegangen, er lebt in seinen Texten zwischen und mit uns. Das ist die Gnade und/oder der Fluch der Unsterblichkeit.
So galt der begeisterte Applaus dem gesamten Werk, ein grandioser Abschluss, eine außergewöhnliche starke Geste.


 

 


Traumtexte

von Heiner Müller

FTM Projektfassung von George Froscher nach dem gleichnamigen Text von Heiner Müller

Gabriele Graf, Kurt Bildstein, Alexander Brandl, Christopher Goetzie, Martin Petschan, Leo Schild, Dominik Schuck, Christian Smigielski

Regie, Video, Raum, Kostüme: George Froscher
Organisation, Technik: Kurt Bildstein
Assistenz: Gabriele Graf
Licht: Michael Bischoff

i-camp Heiratsmarkt von Holger Dreissig


 

 


Das Märchen von der Hochzeit

... nicht zu verwechseln mit einer Märchenhochzeit. „Willst du Mandy ... Sandy ... Candy ... Andy ... bis dass der Tod euch scheidet?“ Und an dieser Stelle müsste es korrekter Weise heißen: “der wirkliche und/oder der reale Tod?“  War es in den letzten Jahrhunderten zumeist der reale Tod, der Verbindungen ein Ende setze, so ist es mittlerweile verstärkt der wirkliche Tod - der Tod der Beziehung, der die Sense schwingt. Doch so genau will man es zu diesem Zeitpunkt offensichtlich nicht wissen, denn bereits vor dieser Stelle bahnt sich das umfassende Geschäft mit der Ehe an. Das Standesamt, die Kirche und weitere Industriezweige zücken Anmeldungen, Formulare, Bedingungen, Quittungsblöcke und der Gutwillige wird auf dem Weg zur öffentlich anerkannten Zweisamkeit vorgeführt. Und je öfter die Institutionen von einzelnen in Anspruch genommen werden, umso größer der gefühlte Umsatz und damit der Wachstumsbeitrag und der Verbrauch, also die in der Konsumgesellschaft wichtigsten Faktoren. Die Bescheinigungen und Urkunden sind hinreichend mit Stempeln, Unterschriften und Kleingedrucktem versehen, sodass auch dem Verwaltungswahn Genüge getan wird. Herz, was willst du mehr?!

Das Geschäft mit den Träumen und der Eitelkeit ist in einer Welt weitgehend abgedeckter Grundbedürfnisse immer noch eines der effizientesten. Blickt man sich um, so erkennt man unschwer wie dieses gedeiht und die absonderlichsten Blüten treibt. Vom Self-Marketing auf einer Speed-Date-Plattform in Internet, über diverse Schönheitsoperationen, bonzengemäße Gefährte, tüllige Tussenhüllen und unerfüllbare Gourmetwünsche reicht das Traumbeförderungsbusiness. „Blumen mit Schleifen.“ ... „Blumen mit Schleifen.“ Der hoffnungsvollste und mit Euphorie erfüllteste Augenblick im Leben eines Menschen ist jener, an dem er sich entschließt ein amtliches Bekenntnis abzulegen – eine Märchen-Hochzeit zu veranstalten. Und um eine solche Märchenhochzeit drehten sich die drei, wiederholten und erweiterten Szenen der Verwaltungsperformance  – am Morgen, am Mittag und am Abend.

In diese geordnete und berechenbare Ebene wurden Drachen, Glücksbringer, eingeladen, gilt es doch Heldentum zuzulassen und Mystisches anzubeten. Diese Faktoren sind auch unsichtbare Beweggründe der Geschlechter im Tanz um die Vereinigung und entziehen sich als Urtriebe weitgehend der Verwaltbarkeit. Der Drache, als großes starkes und unbesiegbar scheinendes Fabeltier, beherrscht das diesjährige Chinesische Horoskop und die Fantasy-Literatur der westlichen Hemisphäre. Er ist also in den verschiedensten Formen global aktiv. Und Siegfried steht mit dem Schwert bereit. Doch das Bad im Blut des Drachen wird auch Siegfried nicht helfen. Finden sich doch immer eine Schwachstelle und einer, der meuchelt.
 
  heiratsmarkt  
 

Holger Dreissig, Muriel Aichberger, Lilian Müller (Braut) Ben Lange, Eyreen Prochnow

© Lisa Miletic

 

 

Ja, und dann war in der Aufführung da noch die offensichtlich dargestellte Ebene der Hochzeitsvorbereitungen, der kritische Blick in den Spiegel am Morgen des folgenschweren Tages, das Aufräumen der zuvor probierten und als unpassend empfundenen Schuhe und der Tanz mit dem Maßband um Gleichschritt und Gleichmaß zu finden. Ja, und mit dem "Gleich" ist auch gleich der Kern des Pudels angesprochen. Die Auflösung der in einer Kultur entwickelten Menschenbilder und Geschlechterrollen führte zu einem hohen Maß an marketinggerechter Individualität, dem kleinsten gemeinsamen Nenner als universellen Richtwert. Und dieser wiederum befördert durch die Anpassung an die den Alltag dominierenden technischen Denkweisen, Mechanismen und Umgebungen die Übertragung technischer Vorgänge auf die willigen, ihn umgebenden Organismen. Da könnte doch tatsächlich ein grandioser Evolutionssprung gelungen sein. Denn ein Kleid macht noch lange keine Frau, ein Sakko keinen Mann und die übernommenen traditionellen Rituale verkommen zur Farce. Die zur Feier in wohlfeiler bürgerlicher Art gekleideten Darsteller übten sich in Small-Talk - „Ich denke nicht“ ... „Du denkst nicht ...“ - Aufregung und großen Gesten, während die Braut auf Ernst wartete. Ernst, der ihr Verbraucher war und der ihr Rosenblätter über das Haupt streute. Sowohl der Text, als auch die kunstvolle Ausgestaltung der Szenen durch Holger Dreissig stellten immer mindestens zwei Ebenen vor und ermöglichten unterschiedliche Wahrnehmung. Die in Ankündigung und Programm ausgeführte Geschichte um den Heiratsmarkt, die Suche nach Liebe und Beziehung und finanzielle Polster konnte ebenso lückenlos auf die allgemeine gesellschaftliche Situation übertragen werden. Es wurde ein Kunstakt außergewöhnlicher Dimension vorgebracht – unterhaltsam, kurzweilig, vielgründig. Das Ensemble glänzte durch adäquaten Spielgestus und geschlossene Darstellung. Und selbst die inszenierte Länge der letzten Szene verlor in keinem Augenblick die angebrachte Spannung.   

Der Abend beinhaltete die Verwaltungsperformance um einen Markt, dem die 21. Stunde geschlagen hat. „Das kann nur schiefgehen“, könnte man erfahrungsgemäß krisengeschüttelt feststellen. Und so waren es letztlich auch der Teufel und der Tod, welche in aufwändigen weißen spitzenbesetzten Brautkleidern und ausdruckstarken Masken auf der Bühne standen. Zu barocken Klängen wiegten sich die geschwätzige und die abgründige Figur in zur Schau gestellter Hoffnung und Unschuld. Wenn das nicht ... das Märchen von einer Hochzeit vorführte und die Performance schon allein für dieses Bild den begeisterten Applaus verdiente.

 

C.M.Meier

 

 

 


Heiratsmarkt

von Holger Dreissig

Muriel Aichberger, Holger Dreissig, Ben Lange, Lilian Müller, Eyreen Prochnow

Regie, Texte, Bühne, Kostüm: Holger Dreissig
 icamp  

i-camp

 

Das Theater wurde 2015 geschlossen.

 

 

 


 

 

 

 

 

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