Theater im Marstall  Rattenjagd von Peter Turrini


 

 
Zu kurz gedacht und nicht gestolpert

Erlebt 68 eine Renaissance? In der Mode ist das unbestritten, wenngleich solche ästhetischen Ausflüge in die Historie nicht länger als ein oder zwei Jahre anhalten. Mode ist halt doch nur eine Hysterie, flüchtig. Kommt vielleicht der Geist von 68 zurück? Keine Bange, denn das würde eine kampfbereite, hungrige und bissige Jugend verlangen. Nein, es ist nur ein wenig Retrospektive, ein Erinnern, quasi vierzigjähriges Jubiläum, analytisch und mehr von oben herab. Wie viele wahre 68er gab es eigentlich? Das lässt sich leicht ermitteln. Man zähle deren Buchveröffentlichungen in diesem Jahr und die darin formulierten (gegensätzlichen) Meinungen. Und wenn überhaupt, dann kann es nur der Langhans sein, der den Stein der 68er-Weisen gefunden hat …

Spaß beiseite. Nach der Inszenierung von Kroetz`s "Heimarbeit" setzt das Residenztheater den Weg des praktischen Erinnerns mit "Rattenjagd" von Peter Turrini fort. Es sind zwei sehr ungleiche Stücke, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht. Kroetz lieferte ein Sittenbild, das zur Zeit der Entstehung einen Schock ausgelöst haben mag. Heute ist es, wegen der fortgeschrittenen Verrohung künstlerischer und medialer Bilder kaum noch einen Seufzer wert. Turrini hingegen schuf ein Werk, das weit über den von der Dramaturgie beschriebenen Ansatz hinaus wirkt. Normalerweise übertreiben Dramaturgen, interpretieren hinein, was auf der Bühne nicht sichtbar gemacht werden kann. In der Marstall-Inszenierung von "Rattenjagd" geschah eher das Gegenteil.
 
 

 
 

Anne Schäfer, Matthias Lier

© Thomas Dashuber

 

 

Zitat Website des Staatsschauspiels: "Peter Turrini beschreibt das Problem des Kennenlernens in einer Gesellschaft, die Identität über Konsumgüter definiert und mit roher Gewalt auf Menschen reagiert, die sich außerhalb dieser kapitalistischen Ordnung zu begegnen suchen." Christina Zintl versuchte in ihrem Beitrag im Programmblatt zur Inszenierung nachzuweisen, dass in der heutigen Welt so existenzielle Fragen gar nicht gestellt werden brauchen, da wir uns eine Wirklichkeit geschaffen haben, in der jeder für sich Mittelpunkt und Zweck ist. Von Unverbindlichkeit beherrscht, sucht das Individuum die permanente "Perspektivenmaximierung", was schlicht bedeutet, eine größtmögliche Anzahl von Menschen an sich zu binden, oder auf sich aufmerksam zu machen. Der beste Weg ist dabei das Internet, denn in ihm kann jede Störung weggeklickt werden. Da fragt man sich doch erstaunt, wie befriedigend kann ein Geschlechtsakt im second life sein? Für Christina Zintl scheint das Problem eher eine Disharmonie zu sein, die sich wegerziehen oder wegbeten oder wegpsychologisieren lässt. Warum kommt sie nicht auf den Gedanken, dass es ein unüberwindlicher Antagonismus ist, der die Gesellschaft als unmenschlich in Frage stellt? Turrini tut das, denn der Tod ist das Ende, das radikalste immerhin.

Worin liegt der Sinn dieses absoluten und uneingeschränkten Individualismus? Wie glaubhaft kann diese These sein und was hat sie mit dem Stück von Turrini zu tun. Gewiss, bestimmte Erscheinungen der Realität lassen sich adaptieren und die Vorgänge heutig erscheinen wie Internet, Währung etc. Allein, es geht nicht, um das "Kennenlernen". Hier hat die Dramaturgin zu kurz gedacht. Auch wenn die Protagonisten es so (metaphorisch) formulieren, es geht um eine weitaus größere Fragestellung. Es geht um die Erkenntnis, was der Mensch ist und was er sein kann. Ist er freies selbstbestimmtes Wesen oder doch nur Produkt der Umwelt? Wenn "Sie" und "Er" sich kennenlernen wollen, dann, um dem menschlichen Wesen im anderen zu begegnen, um selbst Mensch sein zu können!

Turrini, und darin liegt der deutliche Hinweis für die philosophische Fragestellung, beantwortet sie mit einem pessimistischen Ende. Als die Protagonisten die Insignien der auf Besitz orientierten bürgerlichen Gesellschaft überwunden hatten, unterschieden sie sich in den Augen der Gesellschaft nicht mehr von den Ratten, die man auf der Müllhalde lustvoll tötete. So, und nur so kann und sollte das Stück verstanden werden. Es gibt kein Entrinnen aus der Gesellschaft, es sei denn, der Mensch verändert die Gesellschaft!

Regisseurin Nilufar K. Münzing folgte der Fährte ihrer Dramaturgin nicht. Der Zuschauer erlebte einen echten guten Turrini, brachial, sprachlich derb und inhaltlich verstörend. Anne Schäfer und Matthias Lier agierten heutig in Gestik und Haltung und bewiesen so die Unvergänglichkeit des Themas. Im sehenswerten Bühnenbild von Christiane Becker, bestehend aus den Schlünden von Abwasserkanälen, vollführte Anna Schäfers "Sie" die Wandlung einer jungen Frau vom Abziehbild deutscher Medienideale hin zu einem lebenshungrigen Geschöpf, das sich lustvoll selbst spürte, als die Verkleidungen abgefallen waren. Matthias Lier, eingangs der harte coole Typ: "Ich bin ein Mann, ich muss töten!", stand am Ende zu seiner Unvollkommenheit und akzeptierte die eigene Sehnsucht nach wirklicher menschlicher Begegnung. Mit diesen Haltungen hatten beide das Schlimmste getan, was in der heutigen Leistungsgesellschaft getan werden kann. Sie hatten sich als menschliche Wesen zu erkennen gegeben, die sich den Konformitäten, vermeintlich modernen Lebens verweigern. Das elfte Gebot: Sei Konsument, dann bist du!, war gebrochen worden. Darauf steht heute der Tod, zumindest der soziale. Bei Turrini, der Halbheiten verabscheut, folgt der physische Tod auf dem Fuß.

Die Inszenierung lebte von der jugendlichen Dynamik und dem Facettenreichtum der beiden Darsteller. Sie berührte, machte nachdenklich und erinnerte daran, dass es mal einen gesellschaftlichen Aufbruch gab, der einen besseren Menschen vor Augen hatte. Nichts wäre heute so destruktiv wie die Hinwendung zu einem echten, auf Liebe und Solidarität fußendem gesellschaftlichen Bewusstsein. Der Mensch könnte sich aus den quälenden Fängen seines Egoismus befreien. In "Rattenjagd" findet sich dieser Ansatz.

 
Wolf Banitzki

 

 


Rattenjagd

von Peter Turrini

Anne Schäfer, Matthias Lier und Cornelia Pollak, Dennis Herrmann

Regie Nilufar K. Münzing

Theater im Marstall Stillleben in einem Graben von Fausto Paravidino


 

 
Und noch ein Mordfall ...

Italien, eine Straße zur Vorstadt: Eine junge Frau wird ermordet im Straßengraben gefunden. Ein desillusionierter Kommissar stochert nach Beweismitteln. Gewöhnlich klärt er die Mordfälle (8 im letzten Jahr) in den ersten Stunden auf. Das ist notwendig, denn wenn er die Karenzzeit verstreichen lässt, übernehmen die Medien die Regie und dann sinken die Chancen, den Mörder zu finden, stündlich. Der Mörder wird gefunden und wer nicht nur Konsument von Krimis ist, sondern auch ein wenig analytischen Verstand besitzt, weiß beizeiten, wer der Täter ist. Wenig überraschend war denn auch, was Dramaturg Georg Holzer poetisch-philosophisch im Programmheft umschrieb. Der erste Gedanke nach der Vorstellung war der an die zahllosen Krimis und Krimiserien, die das Fernsehen deutlich dominieren. Noch einer also ... Mitnichten, und Georg Holzer erklärt: "Paravidino gönnt sich und uns etwas, was die Bilderflut des Fernsehens nie zulässt: Das Geschehen wird aus den Perspektiven einiger Beteiligter beleuchtet, die nie nur die Tatsachen berichten, sondern auf unterschiedliche Weise angefasst werden von dem Verbrechen, das im Zentrum steht. Sechs Personen berichten, doch ein viel größerer Kosmos von Figuren steht hinter ihnen ..." Einspruch, Euer Ehren: Wer die richtigen Sender und Filme schaut, dem bleibt der Genuss der Paravidino und seinem Stück zugeschriebenen Tugenden nicht versagt.

Um das einmal zu deuten: Hier handelt es sich um eine besondere Erzählweise, die dem Zuschauer Dimensionen eröffnen soll, die neue und ungewöhnliche Einblicke in das menschliche Wesen und die Gesellschaft ermöglichen. Selbst wenn man es dem Zuschauer vorher erklären würde, änderte das nichts am bescheidenen Ergebnis. Inhaltlich ergibt sich erst einmal kein Theaterstück, sondern eine Aneinanderreihung von Monologen, die irgendwann in den eindreiviertel Stunden sehr zäh werden. Es lohnt kaum, auf den Inhalt detaillierter einzugehen, denn letztlich sind alle Vorgänge altbekannte und tausendfach gesehene Klischees.
 
   
 

Frederic Linkemann, Stefan Maaß, Stefan Wilkening, Katharina Gebauer, Anna Holter, Martin Liema, Ulrike Arnold

© Thomas Dashuber

 

 

Da ist der Drogendealer (Stefan Maaß), der sein Geschäft mit Dynamik betreibt und der irgendwann an seinen Meister und in die Klemme gerät. Da ist auch der Drogenkonsument (Frederic Linkemann), der langsam aber sicher den Realitätsbezug verliert und zwangsläufig von kriminellen Ideen heimgesucht wird. Dann ist da noch die inzwischen obligate osteuropäische Prostituierte (Katharina Gebauer), zwangsverschleppt und mit wenig Vertrauen in die Behörden. Der gutsituierte und im Privatleben den ordentlichen Familienvater praktizierende Freier darf nicht fehlen. Die Mutter (Ulrike Arnold) des Opfers (Anna Holter) kämpft tränenreich gegen den Schmerz an und für die Anerkennung ihrer Trauer. Und schließlich darf der im Dienst erschlaffte aber dennoch aufrechte Kommissar (Stefan Wilkening) nicht fehlen. Seine Zynismus hat ihn längst krumme Wege zur Ergründung der Wahrheit beschreiten lassen. Kettenrauchend, gegen seine Gastritis ankämpfend, ist er der letzte Held im Dschungel der Stadt. Alles in allem nichts Neues.

Michael S. Kraus schuf ein Bühnenbild, das eine Stück Straße vorstellte und damit jeden beliebigen Ort möglich machte: Den Tatort, der Straßenstrich, aber auch das Krankenhaus oder das Polizeirevier und das Zimmer des Opfers. Das Leben ist ein Weg. Fazit auch nicht wirklich etwas Neues. Hier setzte Regisseur Johannes Schmid ein ambitioniertes Spiel in Gang, dass doch immer wieder nur auf eines hinauslief: Einer oder Eine erzählt. Die Haltungen der Figuren bedienen dabei wiederum sämtlicher Klischees. Regisseur Schmid gehört ganz augenscheinlich zu der Riege junger Regisseure, die es dem Schicksal nicht verzeihen, dass es Tarantino war, der "Pulp fiction" drehte und nicht sie.

Stefan Wilkening als Kommissar wurde ebenso wie Ulrike Arnold (Mutter) in dieser Inszenierung, die der Erinnerung des Zuschauers schnell entfliehen wird, schlichtweg verbraten. Wilkening, ein Schauspieler par excellence, sah man das Unbehagen denn auch recht deutlich an. Die jungen Schauspieler funktionierten nicht nur gut in ihren Rollen, sie betrieben sie zudem sehr engagiert. Doch Meriten konnten sie nicht ernten und sie haben wohl auch nicht verstanden, warum ein so engagiertes Spiel zu so wenig geführt hat. Es ist doch immerhin ein aktuelles Thema und Autor wie auch Regisseur sind preisgekrönt! Es ist eine alte Weisheit, dass sich ein Schauspieler die Seele aus dem Leib spielen kann, wenn er nicht wirklich etwas zu sagen hat, geht er letztlich leer aus. Der Applaus war artig und das Bemühen des Publikums um Artigkeit nicht zu übersehen.

Das Stück und auch die Inszenierung sagen nichts, was nicht schon hinlänglich bekannt ist. Zudem ist die Ästhetik ein schwacher Aufguss cineastischer Vorlagen. Wieder einmal ist der Versuch gescheitert, mittels Filmästhetik zu verblüffen. Zudem erzeugt die Frage, warum dieses Stück ausgewählt wurde, zumindest bei der Kritik Kopfschütteln. Es hat weder einen spannenden oder gar neuen Inhalt, noch hat es besondere sprachliche oder dramaturgische Qualitäten. Es ist kein Theaterstück, selbst dann nicht, wenn man es dazu erklärt.

Diese Inszenierung markiert einen weiteren Tiefpunkt in der Arbeit des Residenz Theaters. Es bereitet Sorgen, bei einer augenscheinlichen Konzeptionslosigkeit auf die sehenswerten Theaterereignisse zu warten wie auf den Zufall. Künstlerischer Erfolg ist steuerbar, doch das Ruder scheint aus der Hand geraten zu sein.
 
 
Wolf Banitzki

 

 


Stillleben in einem Graben

von Fausto Paravidino

Ulrike Arnold, Katharina Gebauer, Anna Holter, Stefan Maaß, Stefan Wilkening und Martin Liema, Frederic Linkemann

Regie: Johannes Schmid

Theater im Marstall Gesäubert von Sarah Kane


 

 

Über die selbstreinigenden Mechanismen der Guten Gesellschaft

Meine erste Begegnung mit einem Stück von Sarah Kane fand in den frühen 90ern in der Baracke des Deutschen Theaters Berlin statt. Ich wurde Zeuge einer Szene an der Theaterkasse, die mich sehr nachdenklich machte. Ein Mann fortgeschrittenen Alters fragte die Dame an der Kasse: "Das ist doch das Stück, in dem sich die Schauspieler ausziehen." Die Kassiererin: "Ja, aber das Stück fällt heute leider aus. Dafür spielen wir ..." Der Mann hielt kurz inne: "Ziehen sich die Schauspieler in diesem Stück auch aus?" Die Kassiererin dachte ein Weilchen nach und entgegnete: "Nein, ich glaube nicht. Möchten Sie eine Karte?" "Nein, Danke", entgegnete der Mann kopfschüttelnd und ging.

Sarah Kane, Suizidopfer ihrer eigenen Drogen- und auch Lebenssucht, verbrannte am Leben. Dieses Verbrennen hat sie dokumentiert und die Qualität ihrer Texte liegt nicht unbedingt in der dramaturgischen oder sprachlichen Gestaltung, sondern in der kompromisslosen Authentizität. "Gesäubert" meint, was es sagt. Die neoliberale Gesellschaft, in der humanistische Werte und Gefühle höchstens noch für Werbespots taugen, entledigt sich all derer, die nicht funktionieren, die die Liebe zu einem Menschen höher schätzen als Job und Karriere, und die bereit sind, endgültige Versprechen abzugeben. Es geht um die tiefe Sehnsucht nach erfüllter Liebe und liebevoller Bezogenheit, die höchstens noch in den kurzen Momenten nach dem Schuss Heroin stattfindet, die in der Realität zu Asche wird.
 
   
 

Herbert Schäfer, Franz Josef Strohmeier, Christian Higer

© Thomas Dashuber

 

 

In Andreas Wiedermanns Inszenierung im Marstall rieselte diese Asche permanent aus dem Bühnenboden. Die erste Asche war die des Fixers Graham, wuchtig und sensibel zugleich von Georg Hobmeier gestaltet. Tinker, Herbert Schäfer gab ihn mit erstaunlich zwingender Präsenz, hatte Graham als Dealer den goldenen Schuss gesetzt und ordnete als Anstaltsleiter sein Einäscherung an. Der Feind fiel in einer Person zusammen. Tinker ein leidenschaftsloser Mensch, der über Masturbation und sehnsuchtsvolle Ansätze kaum hinauskam, verkörperte die gesellschaftliche Exekutive. Er gab sich als ein Mann mit scharfem Verstand und perversen tyrannischen Gelüsten. So war die Sicht Sarah Kanes auf die Realität. Und sie wusste, worüber sie schrieb.

In diese Situation hinein geriet Grace. Sie war die Schwester Grahams und forderte in der Anstalt die letzten Überbleibsel ein. Nicole Lohfink offenbarte mit engagiertem Spiel eine beachtliche Palette schauspielerischer Farben. Die verbliebenen Kleidungsstücke Grahams waren inzwischen an Robin übergegangen. Jörg Malchow verlieh Robin, der ein lebensunfähiger, auf seine Mutter bezogener, verstörter Junge war, einen von seelischen Qualen gepeinigten anrührenden Habitus. Robin, der in Grace das menschliche Wesen erblickte, fühlte sich von der jungen Frau bis zu seiner Auslöschung hin liebevoll angezogen. Doch Grace war nur auf den toten Bruder fixiert, mit dem sie eine inzestuöse Beziehung verband. Am Ende, in den Kleidern Grahams und ausgestattet mit einem angenähten Penis, wurde sie zu diesem.

Nebenher plädierten Carl und Rod, ein schwules Paar, für die Verbindlichkeit von Liebe. Auch sie wurden am Ende ausgelöscht, doch auf dem Weg dorthin, stets unter Begleitung martialischer Verstümmelungen durch Tinker, hinterließen sie ein geradezu heroisches Bild von einem liebenden Paar. Franz Josef Strohmeier, er büßte als Carl Zunge und Gliedmaßen ein, überzeugte als naiv täppischer Liebender, dem immer auch Verliebtheit ins Antlitz geschrieben stand. Christian Higer, der den älteren und abgeklärteren Rod spielte, blieb lange Zeit ziemlich unauffällig. Erst als Rod mit seiner eigenen Auslöschung die seines Geliebten zu verhindern suchte, entfaltete diese Rolle ihre menschliche Schönheit. Einzig Susanne Meyer hatte relativ wenig an die Hand bekommen, um ihrer Rolle als Frau Nachhaltigkeit zu verleihen. Als Projektionsfläche für die sexuellen Begierden Tinkers fiel ihr der Part einer knapp bekleideten Gogo-Tänzerin zu.

Andreas Wiedermann hatte den wie einen Drogentrip anmutenden Text behutsam und langsam inszeniert. Damit gab er den Darstellern und der z.T. sehr verwirrenden Geschichte hinreichend Raum, den Zuschauer zu infiltrieren. Er ist bekannt, dass die von Brutalität strotzenden Texte Sarah Kanes drastische Umsetzungen provozieren. Wiedermanns Inszenierung vermied Peinlichkeiten und auch terroristische Bilder. Über die Tatsache, dass sich alle Darsteller im Verlauf der Handlung völlig entblößen mussten, mag man streiten. Ein Urteil könnte sein, dass die seelische Entblößung die körperliche einforderte und zugleich in den Hintergrund treten ließ. Für die Geschlossenheit der Inszenierung stand auch das Bühnenbild von Violaine Thel, ein brüchiger und von Verfall gezeichneter Fliesenboden. Die Metaphorik war leicht zu entschlüsseln. Bemerkenswert auch die Lichtregie von Urs Schönebaum. Unmerklich und doch deutlich verlieh sie dem Spielraum zwingende Magie.

Das Konzept des Residenz Theaters, noch jungen hochmotivierten und weitestgehend unbekannten Schauspielern eine Bühne zu geben, geht nicht immer auf, doch immer öfter. Vermutlich wird sich nach einiger Zeit auch der oben zitierte voyeuristische Zeitgenosse einfinden. Doch genießen wird er es nicht können, soweit noch ein wenig menschliche Gefühlswelt in ihm ist.

Wolf Banitzki

 

 

 


Gesäubert

von Sarah Kane

Nicole Lohfink, Susanne Meyer, Christian Higer, Georg Hobmeier, Jörg Malchow, Herbert Schäfer, Franz Josef Strohmeier

Regie: Andreas Wiedermann

 

Theater im Marstall Iphigenie auf Tauris von J.W. v. Goethe


 

 

Plädoyer für die Menschlichkeit im Barbarenland

"Bringst du die Schwester, die an Tauris' Ufer / Im Heiligtume wider Willen bleibt, / Nach Griechenland, so löset sich der Fluch." So lautete Apolls Rat an Orest, einen Muttermörder, dem die Erynnien über alle Maßen zusetzten. Also zieht er gemeinsam mit dem Freund Pylades in die barbarische Welt hinaus, um das Bildnis der Schwester Apolls, Diana, von der skytischen Insel Tauris zu rauben. Dort angelangt, fällt er in die Hände von König Thoas, der die Eindringlinge seiner Priesterin Iphigenie übergibt, damit diese sie auf dem Altar der Diana opfere. Die Opfertätigkeit, Gesetz, so lange Tauris' Bewohner denken konnten, war ins Stocken geraten. Iphigenie hatte wortgewandt versucht, den barbarischen Akt einzudämmen. König Thoas, der gerade um die Hand Iphigenies anhält, hatte sich von der schönen Griechin erweichen lassen. Doch als er einen Korb erntet, setzt er dieses Gesetz wieder uneingeschränkt in Kraft. Das erste Opfer: Iphigenies Bruder Orest. Jetzt ist die Geschichte vollends verfahren. Allein, die Lösung liegt im oben genannten Satz, einem dramaturgischen Geniestreich der antiken Mythologie. Gemeint war nämlich nicht die Schwester Apolls, die "im Heiligtume wider Willen bleibt", sondern die Schwester Orests. Diana hatte das Mädchen aufgespart, um die Hölle der Tantaliden und der Atriden zu beenden und Orest aus der Blutschuld zu erlösen, um das Geschlecht nicht vergehen zu lassen.

Goethe hatte sich der Geschichte bemächtigt, um eine humanistische Botschaft in die Welt zu bringen, die bis dato mit diesem Nachdruck kaum zu finden war. Er schuf das Drama im Februar und März des Jahres 1779 auf "unruhiger Reise". Um der Wahrheit die Ehre zu geben, war er unterwegs, um zwangsweise Rekruten auszuheben. Nebenher erfuhr er, dass "seit der Neujahrsmesse die Apoldaer Strumpfwirker an 100 Stühlen ohne Arbeit" seien. Vor diesem Hintergrund schuf Goethe ein Werk, das als Herausforderung für den Menschen dienen sollte, entgegen dieser von Macht und List, Hunger und Egoismus beherrschten Welt "gut zu sein". Nun, es ist leicht, im Geist gut zu sein, wenn man, das Kohlebecken zwischen den Beinen, durch das Kutschenfenster die Dürftigkeit der Welt schaut.

 
 
 
 
 

Sandro Tajouri, Mark-Alexander Solf

© Thomas Dashuber

 

 

"Iphigenie auf Tauris" war das letzte Werk aus einer Phase der "Gelegenheitsdichtung", die für das von Goethe notdürftig etablierte "Liebhabertheater" entstand. Der Dichter spielte dort zumeist die Hauptrollen. Vornehmliche Inhalte der Einakter, Komödien und Singspiele waren Hypochondrie und Gefühlskult, glückliche Enträtselungen und Geschwisterliebe. Allerdings, wenn sich überhaupt etwas gegen "Iphigenie auf Tauris" einwenden lässt, dann ist es die Sprache, die noch reich ist an Gefühlsausbrüchen im Geist der Zeit, im Geist des preußischen Rokokos.

Und so muss es schon als Leistung gewertet werden, wenn ein Regisseur diese rhythmisierte Prosa ohne Peinlichkeiten auf die Bühne bringt. Alexander Nerlich gelangte mit seiner Inszenierung im Marstall weit über dieses Ziel hinaus. Ohne der Sprache durch überflüssige Experimente beikommen zu wollen, fand er einen Ansatz, der mit dem Wort Natürlichkeit umrissen werden kann. Sämtliche Darsteller agierten aus einer sehr heutigen Gefühlslage heraus und konnten so alles manierierte und zeitstilistische der Sprache ohne großen Aufwand unterdrücken (wegspielen). Dem Zuschauer mag es leicht erschienen sein, für die Schauspieler war es wohl ein Kraftakt. Übrig blieb eine Geschichte mit einem genialen Plot, der seine Wirkung beim Publikum nicht verfehlte.

Christian Sedelmayers Bühne beschränkte sich auf einen weiß gekachelten Innenhof vor dem Tempel der Diana. Der Schlachthausatmosphäre konnte der antike Mosaikboden wenig entgegensetzen. Vergänglichkeit allenthalben. Im Hintergrund parkten ein paar Stapel Stühle. Sie erinnerten daran, dass Opferungen auch in aller Öffentlichkeit vollzogen werden, heute wie damals. Eine Treppe führte auf eine höhere Ebene, auf die Klippen von Tauris, Fluchtweg und guter Ort für einen Freitod gleichermaßen. Die Kostüme von Anna Sofie Tuma verrieten gerade einmal Stand und Rang, nicht aber die Zeit.

Anne Schäfer, mädchenhaft und somit sehr glaubhaft in der Rolle der reinen und unberührten Priesterin Iphigenie, argumentierte kraftvoll und leidenschaftlich für Menschlichkeit vorbei an tradierten Moralvorstellungen. Zerbrechlich und sensibel, verzweifelt und kämpferisch zwang sie ihre Widersacher in deren eigene Konflikte. Und die reichten sehr weit, bis an die Grenzen. Marcus Calvin schwankte als Thoas, König von Tauris, wie ein Schilfhalm im Sturm zwischen staatsmännischer Pflicht und der Liebe zu Iphigenie. Am Ende war sein Herz bezwungen und das Auge tränennass. Letzteres leider in wirklichen Sinne des Wortes. Mark-Alexander Solf gelang ebenfalls die Darstellung der Dualität seiner Figur (Orest). Einerseits war er der hoffnungsvolle junge Mann, der bereit schien, für sein Schicksal zu kämpfen, andererseits der letzte fluchbeladene Atridensohn, dem das Leben nichts mehr galt, weil der Glaube an die Überwindung der Schicksalhaftigkeit nicht gelingen kann. Sandro Tajouri (Pylades) und Wolfgang Menardi (Arkas) machten das vorzügliche Spiel der Protagonisten zum ausgezeichneten Ensemblespiel.

Diese intelligente und schauspielerisch hochkarätige Inszenierung schuf Maßstäbe im Umgang mit Goethe. Es war die Konzentration auf die Botschaften aller Akteure. Jeder wähnte sich, wie in der Weltgeschichte gängige Praxis, im Recht. Am Ende kam heraus, das Recht nur sein kann und darf, was menschlich ist. Alexander Nerlich gelang ein starkes künstlerischen Plädoyer für die Menschlichkeit im Barbarenland, das heute und überall ist. Zudem grenzt es schon an Mut, im Programmheft den ostdeutschen Dramatiker Peter Hacks zum Thema zu befragen, der da meint: "Große Widersprüche verlangen große Lösungen, den Sozialismus etwa."

Wolf Banitzki

 

 


Iphigenie auf Tauris

von J.W. v. Goethe

Anne Schäfer, Marcus Calvin, Wolfgang Menardi, Mark-Alexander Solf, Sandro Tajouri

Regie: Alexander Nerlich

 

Theater im Marstall Ich, Feuerbach von Tankred Dorst


 

 

Glanz und Elend eines Mimen

Der Schauspieler Feuerbach ist zu einem Vorsprechen erschienen. Es wäre normalerweise nicht seine Art, denn er ist ein gestandener Mime. Da er jedoch in den letzten fünf Jahren nicht auf der Bühne spielte, macht es ihm weiter nichts aus, sein Können zu demonstrieren. Er möchte den Monolog des Tasso aus Goethes „Torquato Tasso“ geben. Doch der Regisseur ist noch nicht anwesend, und so bleibt ihm nur zu warten. Das zumindest empfiehlt der Assistent des Regisseurs, ein junger Mann mit Freundin, die gerade auf Wohnungssuche ist, und einer besonderen Aufgabe. Er schnippelt rote Beete. Widerwillig kommen die Wartenden ins Gespräch und der junge Assistent hört und erlebt Dinge, die sich seiner Vorstellungskraft bislang entzogen hatten. Feuerbach, seit fünf Jahren hat er endlich wieder mal ein Publikum, läuft zu großer Form auf. Er erzählt von Inszenierungen, von Pleiten und großen Momenten, die allesamt vor der Zeit des Assistenten angesiedelt sind. Immer wieder trampeln Bühnenarbeiter durch das Bild, schenken Feuerbach nicht die geringste Aufmerksamkeit. Plötzlich jagt ein Hund über die Bühne! Feuerbach ist irritiert. Da entschlüpft dem Mimen ein Wort: Patient. Er kann es nicht mehr zurückholen und muss schließlich gestehen. Der Assistent triumphiert nicht, obgleich er sich so etwas schon gedacht hat. Feuerbach, so wirr seine Assoziationsketten auch zu sein scheinen, vermag es immer noch, die große Illusion herbei zu zaubern. Dann plötzlich ist der Regisseur unsichtbar anwesend, rote Beete essend. Feuerbach hält den Tasso-Monolog. Als er geendet hat, verkündet der Assistent, der Regisseur sei bereits gegangen. So geht auch Feuerbach.
Die letzten Worte des Tasso-Monologes im 4. Akt lauten: „(...) Wohin, wohin beweg' ich meinen Schritt. / Dem Ekel zu entfliehn, der mich umsaust, / Dem Abgrund zu entgehn, der vor mir liegt?“

Theater auf dem Theater ist immer wieder ein lohnenswertes Thema. Der Einblick, der dem Zuschauer auf diese Weise hinter die Kulissen gewährt wird, befriedigt ein voyeuristisches Grundbedürfnis. Nichts ist unterhaltsamer, als aus mäßiger Entfernung den Glanz und das Elend der Darstellenden Kunst zu erleben. Nirgendwo liegen Gipfel und Abgrund so nahe beieinander wie auf der Theaterbühne. Tankred Dorst weiß ein Lied davon zu singen. Sein Leben war immer auf das Engste mit dem Theater verbunden.

Wer die Inszenierung von Veit Güssow im Marstall erlebt, der könnte glauben, Autor Dorst habe Robert Joseph Bartl vor Augen gehabt, als er seinem Feuerbach Gestalt verlieh. Der massige Mime verfügt über eine große Bandbreite darstellerischen Vermögens. Besonders ausgeprägt ist seine Fähigkeit, komische, oder tragik-komische Figuren zu gestalten.
 
 

 
 

Robert Joseph Bartl

© Thomas Dashuber

 

 

Sein Feuerbach verriet bereits in der ersten Sekunde seines Auftauchens das unausweichliche Scheitern. Dieses wurde um so grandioser, als Bartl Momente großer Schauspielkunst spielte und zugleich erzeugte. Am Ende wusste der Betrachter, dass es sich hier um ein Opfer handelte, ein Opfer des Zeitgeistes, der Institution Theater und seiner selbst. Nüchtern und distanziert agierte Shenja Lacher als Assistent. Er verkörperte die Interesselosigkeit am Medium Kunst (Kunst als Job) und die Ignoranz der Vergangenheit gegenüber. Feuerbach sagte ihm sofort voraus, dass er, der Assistent, keine Zukunft haben wird. Erschreckend für den Betrachter war, dass Feuerbach Recht hatte.

Veit Güssow inszenierte mehr als nur eine Komödie, die vor gut zwanzig Jahren geschrieben wurde. Er zeigte auf komödiantische Weise ein tiefe Krise im menschlichen Denken und im Rezeptionsverhalten auf. Kunst hat, wie es scheint, den Anspruch heilig zu sein, längst verloren. Dem Regisseur gelang es, auch dank der wunderbaren Leistung von Robert Joseph Bartl, zu zeigen, dass Kunst einen rechtmäßigen Anspruch auf Heiligkeit hat. (Das Wort heilig bedeutete ursprünglich: Zauber, günstiges Vorzeichen, Glück.) Genau dieser Moment entsteht in Güssows Inszenierung, wenn Feuerbach einen Schwarm Vögel durch den Geist des Betrachters schweben lässt. Der Zauber ist vollkommen. Doch er hält nicht lange, denn stets unerwartet und störend fallen Bühnenarbeiter ein und verrichten teilnahmslos ihre Arbeiten. Feuerbach, das Zentralgestirn des Theateruniversums, wird immer wieder aus der Bahn geworfen. Niemand nimmt Anstoß daran.

Es ist eine Inszenierung, die ausgesprochen unterhaltsam ist, die aber gleichermaßen verstört und Nachdenklichkeit erzeugt. Hier wurde nicht auf Kosten eines eitlen und auch lächerlichen Menschen die Zeit totgeschlagen, sondern hier wurde Menschlichkeit und das, was die Zeit darunter versteht, auf den Prüfstand gestellt. Das Ergebnis ist bedrückend.


Wolf Banitzki
 
 

 


Ich, Feuerbach

von Tankred Dorst


Robert Joseph Bartl, Shenja Lacher, Gabriele Scheuchenpflug

Regie: Veit Güssow

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