Theater im Marstall Iphigenie auf Tauris von J.W. v. Goethe
Plädoyer für die Menschlichkeit im Barbarenland
"Bringst du die Schwester, die an Tauris' Ufer / Im Heiligtume wider Willen bleibt, / Nach Griechenland, so löset sich der Fluch." So lautete Apolls Rat an Orest, einen Muttermörder, dem die Erynnien über alle Maßen zusetzten. Also zieht er gemeinsam mit dem Freund Pylades in die barbarische Welt hinaus, um das Bildnis der Schwester Apolls, Diana, von der skytischen Insel Tauris zu rauben. Dort angelangt, fällt er in die Hände von König Thoas, der die Eindringlinge seiner Priesterin Iphigenie übergibt, damit diese sie auf dem Altar der Diana opfere. Die Opfertätigkeit, Gesetz, so lange Tauris' Bewohner denken konnten, war ins Stocken geraten. Iphigenie hatte wortgewandt versucht, den barbarischen Akt einzudämmen. König Thoas, der gerade um die Hand Iphigenies anhält, hatte sich von der schönen Griechin erweichen lassen. Doch als er einen Korb erntet, setzt er dieses Gesetz wieder uneingeschränkt in Kraft. Das erste Opfer: Iphigenies Bruder Orest. Jetzt ist die Geschichte vollends verfahren. Allein, die Lösung liegt im oben genannten Satz, einem dramaturgischen Geniestreich der antiken Mythologie. Gemeint war nämlich nicht die Schwester Apolls, die "im Heiligtume wider Willen bleibt", sondern die Schwester Orests. Diana hatte das Mädchen aufgespart, um die Hölle der Tantaliden und der Atriden zu beenden und Orest aus der Blutschuld zu erlösen, um das Geschlecht nicht vergehen zu lassen.
Goethe hatte sich der Geschichte bemächtigt, um eine humanistische Botschaft in die Welt zu bringen, die bis dato mit diesem Nachdruck kaum zu finden war. Er schuf das Drama im Februar und März des Jahres 1779 auf "unruhiger Reise". Um der Wahrheit die Ehre zu geben, war er unterwegs, um zwangsweise Rekruten auszuheben. Nebenher erfuhr er, dass "seit der Neujahrsmesse die Apoldaer Strumpfwirker an 100 Stühlen ohne Arbeit" seien. Vor diesem Hintergrund schuf Goethe ein Werk, das als Herausforderung für den Menschen dienen sollte, entgegen dieser von Macht und List, Hunger und Egoismus beherrschten Welt "gut zu sein". Nun, es ist leicht, im Geist gut zu sein, wenn man, das Kohlebecken zwischen den Beinen, durch das Kutschenfenster die Dürftigkeit der Welt schaut.
|
|
|
|
Sandro Tajouri, Mark-Alexander Solf
© Thomas Dashuber
|
|
"Iphigenie auf Tauris" war das letzte Werk aus einer Phase der "Gelegenheitsdichtung", die für das von Goethe notdürftig etablierte "Liebhabertheater" entstand. Der Dichter spielte dort zumeist die Hauptrollen. Vornehmliche Inhalte der Einakter, Komödien und Singspiele waren Hypochondrie und Gefühlskult, glückliche Enträtselungen und Geschwisterliebe. Allerdings, wenn sich überhaupt etwas gegen "Iphigenie auf Tauris" einwenden lässt, dann ist es die Sprache, die noch reich ist an Gefühlsausbrüchen im Geist der Zeit, im Geist des preußischen Rokokos.
Und so muss es schon als Leistung gewertet werden, wenn ein Regisseur diese rhythmisierte Prosa ohne Peinlichkeiten auf die Bühne bringt. Alexander Nerlich gelangte mit seiner Inszenierung im Marstall weit über dieses Ziel hinaus. Ohne der Sprache durch überflüssige Experimente beikommen zu wollen, fand er einen Ansatz, der mit dem Wort Natürlichkeit umrissen werden kann. Sämtliche Darsteller agierten aus einer sehr heutigen Gefühlslage heraus und konnten so alles manierierte und zeitstilistische der Sprache ohne großen Aufwand unterdrücken (wegspielen). Dem Zuschauer mag es leicht erschienen sein, für die Schauspieler war es wohl ein Kraftakt. Übrig blieb eine Geschichte mit einem genialen Plot, der seine Wirkung beim Publikum nicht verfehlte.
Christian Sedelmayers Bühne beschränkte sich auf einen weiß gekachelten Innenhof vor dem Tempel der Diana. Der Schlachthausatmosphäre konnte der antike Mosaikboden wenig entgegensetzen. Vergänglichkeit allenthalben. Im Hintergrund parkten ein paar Stapel Stühle. Sie erinnerten daran, dass Opferungen auch in aller Öffentlichkeit vollzogen werden, heute wie damals. Eine Treppe führte auf eine höhere Ebene, auf die Klippen von Tauris, Fluchtweg und guter Ort für einen Freitod gleichermaßen. Die Kostüme von Anna Sofie Tuma verrieten gerade einmal Stand und Rang, nicht aber die Zeit.
Anne Schäfer, mädchenhaft und somit sehr glaubhaft in der Rolle der reinen und unberührten Priesterin Iphigenie, argumentierte kraftvoll und leidenschaftlich für Menschlichkeit vorbei an tradierten Moralvorstellungen. Zerbrechlich und sensibel, verzweifelt und kämpferisch zwang sie ihre Widersacher in deren eigene Konflikte. Und die reichten sehr weit, bis an die Grenzen. Marcus Calvin schwankte als Thoas, König von Tauris, wie ein Schilfhalm im Sturm zwischen staatsmännischer Pflicht und der Liebe zu Iphigenie. Am Ende war sein Herz bezwungen und das Auge tränennass. Letzteres leider in wirklichen Sinne des Wortes. Mark-Alexander Solf gelang ebenfalls die Darstellung der Dualität seiner Figur (Orest). Einerseits war er der hoffnungsvolle junge Mann, der bereit schien, für sein Schicksal zu kämpfen, andererseits der letzte fluchbeladene Atridensohn, dem das Leben nichts mehr galt, weil der Glaube an die Überwindung der Schicksalhaftigkeit nicht gelingen kann. Sandro Tajouri (Pylades) und Wolfgang Menardi (Arkas) machten das vorzügliche Spiel der Protagonisten zum ausgezeichneten Ensemblespiel.
Diese intelligente und schauspielerisch hochkarätige Inszenierung schuf Maßstäbe im Umgang mit Goethe. Es war die Konzentration auf die Botschaften aller Akteure. Jeder wähnte sich, wie in der Weltgeschichte gängige Praxis, im Recht. Am Ende kam heraus, das Recht nur sein kann und darf, was menschlich ist. Alexander Nerlich gelang ein starkes künstlerischen Plädoyer für die Menschlichkeit im Barbarenland, das heute und überall ist. Zudem grenzt es schon an Mut, im Programmheft den ostdeutschen Dramatiker Peter Hacks zum Thema zu befragen, der da meint: "Große Widersprüche verlangen große Lösungen, den Sozialismus etwa."
Wolf Banitzki
Iphigenie auf Tauris
von J.W. v. Goethe
Anne Schäfer, Marcus Calvin, Wolfgang Menardi, Mark-Alexander Solf, Sandro Tajouri
Regie: Alexander Nerlich
Theater im Marstall Ich, Feuerbach von Tankred Dorst
Glanz und Elend eines Mimen
Der Schauspieler Feuerbach ist zu einem Vorsprechen erschienen. Es wäre normalerweise nicht seine Art, denn er ist ein gestandener Mime. Da er jedoch in den letzten fünf Jahren nicht auf der Bühne spielte, macht es ihm weiter nichts aus, sein Können zu demonstrieren. Er möchte den Monolog des Tasso aus Goethes „Torquato Tasso“ geben. Doch der Regisseur ist noch nicht anwesend, und so bleibt ihm nur zu warten. Das zumindest empfiehlt der Assistent des Regisseurs, ein junger Mann mit Freundin, die gerade auf Wohnungssuche ist, und einer besonderen Aufgabe. Er schnippelt rote Beete. Widerwillig kommen die Wartenden ins Gespräch und der junge Assistent hört und erlebt Dinge, die sich seiner Vorstellungskraft bislang entzogen hatten. Feuerbach, seit fünf Jahren hat er endlich wieder mal ein Publikum, läuft zu großer Form auf. Er erzählt von Inszenierungen, von Pleiten und großen Momenten, die allesamt vor der Zeit des Assistenten angesiedelt sind. Immer wieder trampeln Bühnenarbeiter durch das Bild, schenken Feuerbach nicht die geringste Aufmerksamkeit. Plötzlich jagt ein Hund über die Bühne! Feuerbach ist irritiert. Da entschlüpft dem Mimen ein Wort: Patient. Er kann es nicht mehr zurückholen und muss schließlich gestehen. Der Assistent triumphiert nicht, obgleich er sich so etwas schon gedacht hat. Feuerbach, so wirr seine Assoziationsketten auch zu sein scheinen, vermag es immer noch, die große Illusion herbei zu zaubern. Dann plötzlich ist der Regisseur unsichtbar anwesend, rote Beete essend. Feuerbach hält den Tasso-Monolog. Als er geendet hat, verkündet der Assistent, der Regisseur sei bereits gegangen. So geht auch Feuerbach.
Die letzten Worte des Tasso-Monologes im 4. Akt lauten: „(...) Wohin, wohin beweg' ich meinen Schritt. / Dem Ekel zu entfliehn, der mich umsaust, / Dem Abgrund zu entgehn, der vor mir liegt?“
Theater auf dem Theater ist immer wieder ein lohnenswertes Thema. Der Einblick, der dem Zuschauer auf diese Weise hinter die Kulissen gewährt wird, befriedigt ein voyeuristisches Grundbedürfnis. Nichts ist unterhaltsamer, als aus mäßiger Entfernung den Glanz und das Elend der Darstellenden Kunst zu erleben. Nirgendwo liegen Gipfel und Abgrund so nahe beieinander wie auf der Theaterbühne. Tankred Dorst weiß ein Lied davon zu singen. Sein Leben war immer auf das Engste mit dem Theater verbunden.
Wer die Inszenierung von Veit Güssow im Marstall erlebt, der könnte glauben, Autor Dorst habe Robert Joseph Bartl vor Augen gehabt, als er seinem Feuerbach Gestalt verlieh. Der massige Mime verfügt über eine große Bandbreite darstellerischen Vermögens. Besonders ausgeprägt ist seine Fähigkeit, komische, oder tragik-komische Figuren zu gestalten.
|
|
|
|
Robert Joseph Bartl
© Thomas Dashuber
|
|
Sein Feuerbach verriet bereits in der ersten Sekunde seines Auftauchens das unausweichliche Scheitern. Dieses wurde um so grandioser, als Bartl Momente großer Schauspielkunst spielte und zugleich erzeugte. Am Ende wusste der Betrachter, dass es sich hier um ein Opfer handelte, ein Opfer des Zeitgeistes, der Institution Theater und seiner selbst. Nüchtern und distanziert agierte Shenja Lacher als Assistent. Er verkörperte die Interesselosigkeit am Medium Kunst (Kunst als Job) und die Ignoranz der Vergangenheit gegenüber. Feuerbach sagte ihm sofort voraus, dass er, der Assistent, keine Zukunft haben wird. Erschreckend für den Betrachter war, dass Feuerbach Recht hatte.
Veit Güssow inszenierte mehr als nur eine Komödie, die vor gut zwanzig Jahren geschrieben wurde. Er zeigte auf komödiantische Weise ein tiefe Krise im menschlichen Denken und im Rezeptionsverhalten auf. Kunst hat, wie es scheint, den Anspruch heilig zu sein, längst verloren. Dem Regisseur gelang es, auch dank der wunderbaren Leistung von Robert Joseph Bartl, zu zeigen, dass Kunst einen rechtmäßigen Anspruch auf Heiligkeit hat. (Das Wort heilig bedeutete ursprünglich: Zauber, günstiges Vorzeichen, Glück.) Genau dieser Moment entsteht in Güssows Inszenierung, wenn Feuerbach einen Schwarm Vögel durch den Geist des Betrachters schweben lässt. Der Zauber ist vollkommen. Doch er hält nicht lange, denn stets unerwartet und störend fallen Bühnenarbeiter ein und verrichten teilnahmslos ihre Arbeiten. Feuerbach, das Zentralgestirn des Theateruniversums, wird immer wieder aus der Bahn geworfen. Niemand nimmt Anstoß daran.
Es ist eine Inszenierung, die ausgesprochen unterhaltsam ist, die aber gleichermaßen verstört und Nachdenklichkeit erzeugt. Hier wurde nicht auf Kosten eines eitlen und auch lächerlichen Menschen die Zeit totgeschlagen, sondern hier wurde Menschlichkeit und das, was die Zeit darunter versteht, auf den Prüfstand gestellt. Das Ergebnis ist bedrückend.
Wolf Banitzki
Ich, Feuerbach
von Tankred Dorst
Robert Joseph Bartl, Shenja Lacher, Gabriele Scheuchenpflug
Regie: Veit Güssow |