Theater im Marstall Der Gehülfe von Robert Walser


 

 

Kein Lob der Welt

"Es ist immer ein Risiko, einen Roman in einen Theaterabend zu verwandeln. Ein Roman, dessen Hauptfigur so schwer fassbar bleibt, macht diese Aufgabe zugleich schwierig und reizvoll." Mit diesen Worten führt Dramaturg Georg Holzer seinen Artikel im Programmheft zur Marstall-Inszenierung von Robert Walsers "Der Gehülfe" aus, der mit "Aus dem Leben eines Kaltblüters" überschrieben ist. In dieser Aussage verbergen sich zwei Thesen, die, wie die ganze Inszenierung vor dem Hintergrund des Walserschen Romans zur Auseinandersetzung reizen. Das Risiko, das Holzer formuliert, ist unwidersprochen. Dass es sich jedoch um das Leben eines Kaltblüters handeln soll, verwundert. Mag sein, dass der dramaturgische Ansatz der Inszenierung unter dieser Prämisse steht, im Roman handelt es sich keinesfalls um einen kaltblütigen Menschen.

Doch zur Geschichte: Joseph Marti tritt als angestellter Bürogehilfe in das Unternehmen des Ingenieurs Carl Tobler ein. Die ganze Sache entpuppt sich für ihn weitestgehend als ein Glücksfall, denn er bewohnt das Turmzimmer der exorbitanten Villa "Abendstern". Er wird auf das vorzüglichste versorgt und die Arbeit lässt sich ohne großes Kopfzerbrechen erledigen. Die Atmosphäre ist familiär; man speist und feiert gemeinsam. Was der unkundige Zuschauer im Stück nicht erfährt, sind zwei wichtige Fakten zum Verständnis der Figuren. Joseph Marti verlor seine vorherige Anstellung wegen seiner Unfähigkeit, die er durch eine Lüge zu vertuschen suchte. Carl Tobler war, ehe er Dank eines plötzlichen Geldsegens in die Selbständigkeit ging, ein unbedeutender Hilfsingenieur. Der Utopist, durch eine glückliche Fügung in den gesellschaftlichen Rang eines "bedeutenden Erfinders" aufgestiegen, ist angesichts seiner lächerlich anmutenden Projekte von vornherein zum Untergang verurteilt.
 
 

 
 

Michael Vogtmann, Stefan Wilkening

© Thomas Dashuber

 

 

Martis Begehr hingegen ist, seine Sache so gut zu machen, dass kein Grund zur Klage oder Anklage gegeben ist. Dabei ist er keineswegs ein Kaltblüter, sondern ein von tiefsten Ängsten beherrschter Mensch. Im Roman wird diese Behauptung durch die fluchtartige und emotional tiefe Hinwendung zur Natur gestützt, in der Inszenierung paradoxerweise durch die Darstellung Stefan Wilkenings. Der gab einen Marti, der stets wie elektrisiert Ausschau hielt nach den Fallstricken seines Daseins. Grüblerisch, devot und gleichermaßen aufbegehrend, schuf Wilkening glaubhaft und eindringlich eine Figur, die kafkaeske und somit tiefenpsychologische Züge trug.
Joseph Marti ist kein Mensch, der (durch Dienen - Georg Holzer) bewusst herrschen, sondern der irgendwie durchkommen möchte in einer Welt aus Demagogie, Selbstentfremdung und aus Dummheit geborenem Horror, der Folter gegen das ungeliebte Kind Silvi (Lena Dörrie) nicht ausspart.
Nicht zuletzt soll auf das Schicksal Walsers verwiesen sein, der sich in der Figur Martis selbst beschreibt und der 51jährig - an der Realität zerbrochen - gegen seinen Willen in eine psychiatrische Heilanstalt eingewiesen wurde.

Die Auseinandersetzung mit dem dramatischen Entwurf auf der Bühne des Marstalls und dem Walserschen Roman muss letztlich unentschieden bleiben, womit die Unternehmung der Theatermacher keinesfalls ins Abseits gerät.
Als Rechtfertigung soll die Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz der Unternehmung gestellt werden und die kann nur positiv beantwortet werden. In Zeiten gesellschaftlicher und sozialer Unsicherheiten keimen immer wieder Ängste auf, Ängste die aus der Unwissenheit und Visionslosigkeit resultieren und die in der Figur Joseph Martis Gestalt annehmen. Auch Carl Tobler, gelegentlich ein wenig zu polternd von Michael Vogtmann verkörpert, widerfährt Gerechtigkeit. Er trägt zutiefst menschliche Züge, die gerade im Scheitern als Unternehmer deutlich werden. Anna Riedl als Frau Tobler, in ihrer Gestaltung war sie Stefan Wilkening ebenbürtig, zeigte eine weitere Facette gesellschaftlicher Entwicklung. Ihr kam die Rolle als "gute Hausfrau und Mutter" zu, die sie als solche nur bedingt erfüllen konnte. Dieses voremanzipatorische Familienkonzept ist heute unübersehbar wieder auf dem Vormarsch.

Geht man einmal davon aus, dass die Theatermacher einen Gegenentwurf zu Walser machen wollten, dann wird auch verständlich, warum die lichte Villa Abendstern in der Umsetzung von Bühnenbildnerin Katja Schröder eher an ein Kellerbüro von Charles Dickens erinnert. Dergestalt zündelt die Inszenierung und entfacht einen emotionalen Schwelbrand, der den Zuschauer in das frühkapitalistische 19. Jahrhundert zurück versetzt und Ahnungen verbreitet, die, angesichts der Tagespolitik, nicht zwanghaft aus der Luft gegriffen sind.

Abgesehen davon macht die Inszenierung wieder neugierig auf das Walsersche Werk. Sollte der eine oder andere Zuschauer den Drang verspüren, den 1908 entstandenen Roman zu lesen, so sei ihm dazu geraten. Er komplettiert den Abend und erhält die Bühnenbilder als andere Lesart am Leben.

 
Wolf Banitzki

 

 


Der Gehülfe

von Robert Walser

Michael Vogtmann, Anna Riedl, Lena Dörrie, Stefan Wilkening, Ulrike Arnold, Christian Lerch, Marga Kegel, Yogo Pausch

Regie. Hans-Ulrich Becker

Theater im Marstall Das Rad des Glücks von Werner Fritsch


 

 

Der Abend der Jennifer Minetti

Courasch ist Sinti, gute achtzig Jahre alt und Überlebende von Auschwitz und Ravensbrück. Sie lebt - widerwillig - im Altersheim. In ihrem Bett liegt Enkelin Mira, verbotener Weise, schwanger und bereits in den Wehen. Wessen Kind trägt sie in sich? Diese Frage bewegt Courasch am heftigsten. Nur kein deutsches Kind soll es sein. Ein böhmisches, ja, das ginge an, oder ein Zigeunerkind, selbst wenn der Vater drogensüchtig ist. Alles wäre erträglich, wenn es nur kein deutsches Kind ist. Courasch hat nie "einen deutschen Schwanz" in sich gehabt und ist stolz darauf. Das ist vielleicht ihr größter Sieg über ihre Peiniger, abgesehen davon, dass sie die meisten überlebt hat. Während Mira sich in den Geburtswehen windet, erzählt Courasch ihre Geschichte, angefangen bei der unbeschwerten Kindheit über die Hölle der Internierung im KZ Auschwitz, der Verlegung in das Lager Ravensbrück, das ihr vergleichsweise wie ein Caféhaus vorkam, und dem Überlebenskampf mit Zigeunerwitz nach dem Krieg. In ihrem Leben ging es immer mehr oder weniger um das Überleben. Als Hand- und Kartenleserin hatte sie ihr Auskommen. Ihre Spezialität ist das "Rad des Glücks", welches sie ihrer Enkelin legen möchte, nicht zuletzt, um die Herkunft des Mannes zu erfahren, der Mira "gebrannt" hat. Vergeblich, denn Mira hat mit sich zu tun.
 
 

 
 

Jennifer Minetti

© Thomas Dashuber

 

 

Werner Fritsch, in der vergangenen Spielzeit mit "Cerubim" am Residenztheater deutlich in Erscheinung getreten, will mit seinem Stück "Das Rad des Glücks" ein Zeichen setzen zum 60sten Jahrestag des Kriegsendes. Mit der Geschichte will er aufmerksam machen, dass es neben dem Holocaust der Juden auch einen der Sinti und Roma gab. Das ist ein lobenswerter Ansatz und notwendig zudem. Als Hörspiel konzipiert, brachte er den Text in eigener Regie auf die Bühne des Marstalls. Schon nach wenigen Sätzen wurde dem Zuschauer deutlich, dass Fritsch einer von Sprache Besessener ist. Wie schon in "Cerubim" entwickelte er auch hier eine eigene Kunstsprache, deren durchgearbeitete Metrik schnell deutlich wird. Er verzichtet weder auf Lyrismen noch auf lyrische Stilmittel. Auch das wäre lobenswert angesichts der schwindenden künstlerischen Substanz bei zeitgenössischer Bühnensprache, wenn sich der Vorsatz nicht so überdeutlich breit machen würde. Ein Blick ins Programmheft verrät, welchen Aufwand Fritsch bei der Sprachfindung getrieben hat. Das würde jedem Germanisten alle Ehre machen. Nur, der Germanist ist der natürliche Feind des Dichters, denn Dichtung ersteht aus der Geschichte auf und nicht aus dem Vorsatz zur sprachlichen Gestaltung. So wird alle sprachliche Spitzfindigkeit bald ermüdend und kontraproduktiv. Hätte Autor Fritsch mehr Energie darauf verwendet, die Geschichte besser zu strukturieren, als den Olymp der Sprachgestaltung zu erklettern, wären dem Zuschauer einige Längen erspart geblieben und Fritsch wäre dem Thema gerechter geworden. Und Gerechtigkeit ist bei so einem Thema zwingend.

Ohne Zweifel ist die Geschichte der Courasch (anders als im "Cerubim") ein fiktive. Die Dichte der Schicksalhaftigkeit einer Sinti- oder Romaexistenz zu Zeiten der Nationalsozialisten und auch danach, denn auch die Nationalsozialisten überlebten, ist in diesem Text kaum mehr zu steigern. Alles Leid einer total pervertierten Welt muss die Courasch über sich ergehen lassen und überleben. Und sie muss dies als Mensch schaffen, darum auch der Name Courasch. Allein, der Horror, das kaum glaubliche Grauen ging zwischen den Lyrismen und den zum Teil überflüssigen Wiederholungen der grauenhaften Vorgänge schlichtweg verloren. Das Grauen blieb erklärtes Grauen und entstand nicht im Zuschauer. Damit war einer der wichtigsten Wirkungsmechanismen des Theater verpufft. Es mag durchaus sein, dass der Text als Hörspiel funktioniert, denn in diesem Fall wird der Zuhörer nicht mit Bildern konfrontiert und durch diese gelenkt. Es liegt bei ihm, diese zu schaffen. Als Bühnentext bleibt er wohl umstritten.
Tatsächlich gibt es keine wirkliche dramatische Konstellation. Die Figur Miras, eindruckslos von Judith Al Bakri gegeben, blieb jedenfalls ein Implantat, zumal sie ohne Text auskommen musste und keinen Einfluss auf den Fortgang der Geschichte nehmen konnte. So wurde sie in ihrer Rolle der leidend und stöhnend Gebärenden nicht selten zum Störfaktor.

Bei alledem muss sich der Autor an seine Verantwortung diesem Thema gegenüber erinnern lassen. Jeder nicht konsequent gelungene Versuch, das Thema des Holocaust einer Ethnie zu bearbeiten, macht schuldig, schuldig den Opfern gegenüber.

Wenn dieser Abend dennoch nicht ohne Eindruck auf die Zuschauer blieb, dann vornehmlich wegen der geradezu titanischen Leistung von Jennifer Minetti. Normalerweise taugen Superlative ja nur für Polemik, aber angesichts der Leistung dieser Grande Dame des Theaters sind sie unvermeidbar. Die physische Präsenz der körperlich kleinen Frau hatte etwas riesenhaftes. Ihre Stimmgewalt drohte die Mauern des Marstalls bisweilen zu sprengen. Vor dieser Leistung konnte man sich nur verbeugen. Das Publikum honorierte ihren eineinhalbstündigen Monolog mit sehr warmherzigem Applaus.
Allerdings, die Mängel des zum Theaterstück erklärten Textes und seiner Inszenierung konnte auch sie nicht vergessen machen.

 
Wolf Banitzki

 

 


Das Rad des Glücks

von Werner Fritsch

Jennifer Minetti, Judith Al Bakri

Regie: Werner Fritsch

Theater im Marstall Genua 01 von Fausto Paravidino


 

 
Eine unmissverständliche politische Stellungnahme

"Das war die realistische Situation damals: eine totale Unzugehörigkeit." Nein, dieser Satz stammt so nicht aus der "modernen Tragödie" von Fausto Paravidino, sondern aus dem Tagebuch (1965) von Peter Weiss, aus der Zeit unmittelbar vor Beginn der Arbeit des Dichters an "Viet Nam Diskurs". Sinngemäß ist der Gedanke aber in "Genua 01" enthalten, wenn es im Prolog heißt, dass die Vertreter der G8, die selbsternannten Führer dieser Welt, globale Weichen stellen, um der Demokratie weltweit zum Durchbruch zu verhelfen. Man möge es bitte nicht falsch verstehen und Demokratie als idealisierten Zustand eines umfassenden Humanismus begreifen, den es anzustreben gilt. Demokratie meint heute lediglich das freie und ungebremste Walten der Ökonomie, an der bedauerlicher Weise nur ein eher geringer Teil der Menschheit partizipiert. Es bedarf schon einiger Fantasie, den Humanismusgedanken (wohlgemerkt ein älteres Menschheitsideal) aus den Reden der Mächtigen herauszuhören. Und so stellt Paravidino auch unumwunden die These auf, die Globalisierungsgegner sind die Stimme derer, die in der Globalisierung "total unzugehörig" sind.

Es verblüfft, wie sich die Zeiten gleichen. Wieder einmal führt Amerika einen schmutzigen Krieg im Namen der Demokratie und meint doch im Interesse des Kapitals. Wieder einmal entsteht spontaner Widerstand und wieder gehen die Staatsmächte, die sich den Ideen des Kapitalismus verpflichtet fühlen, repressiv gegen die eigenen Bevölkerungen vor. Terrorismusbekämpfung nimmt schließlich den Charakter von Hexenverfolgung an. Doch der Konflikt ist tiefer und wenn Paravidino meint: "Die Tendenz im Moment scheint zu sein, die Klassenschranken in der Welt wieder aufzurichten", dann kommt er der Sache näher. Der Klassenkampf war durch den Niedergang des Ostblocks nur ausgesetzt. Die Probleme, die den Klassenkampf auf den Plan riefen, waren es nicht, auch wenn die Apologeten des Kapitals sie wegzubeten nicht müde wurden. Es ist das System des Kapitalismus, das diese Probleme gebiert und nicht die Ideologen oder Vorreiter des Klassenkampfes. Um das zu begreifen reicht kausales Denken aus. Dazu bedarf es nicht einmal dialektischen Denkens, obgleich uns das weiter bringen könnte.
 
   
 

Peter Nitzsche

© Thomas Dashuber

 

 

Was hat das nun alles mit Theater zu tun, fragt man sich? Nun, die Geschichte des Todes Carlo Giulianis während der Proteste gegen den G8-Gipfel in Genua wurde in szenischer Aufbereitung in einem Theater gespielt. Zudem ist der Text dergestalt, dass wir es nicht mit handelnden Personen im üblichen Rollenverständnis zu tun haben. Es werden weder Charaktere entwickelt, noch unterscheiden sich die handelnden Personen durch Sozial- oder wie auch immer definierten Sprachduktus. Der Zuschauer erlebte eine reportagehafte Erhellung der tatsächlichen (rekapitulierten) Vorgänge, die Hintergründe beleuchten sollten und die tiefe Einsichten in die fortschreitende "Erosion der Demokratie", wie Dramaturg Georg Holzer es nennt, lieferten. Das gelang unbestritten und hatte eine Wirkung, die der des Theaters entspricht. Es war weder neues Theater, noch haben Paravidino und sein Regisseur Alexander Jung eine neue Ästhetik erfunden. Vielmehr bedient man sich hier der Mittel eines Theaters, welches auf das Agitproptheater der 20er Jahre des 20. Jahrhundert zurückgeht und im Ostblock bis zu dessen Niedergang praktiziert wurde. An dieser Stelle relativiert sich auch die Kritik westlicher Theatermacher, die aus dem Elfenbeintürmchen heraus den osteuropäischen Kollegen vorwarfen, dass ihr Theater das leiste, was die Medien leisten sollten und nicht taten. So schnell kann es gehen, dass sich Theatermacher in dem Zwang sehen, die Aufgaben der Medien zu übernehmen, weil diese, aus welchen Gründen auch immer, ihre Arbeit zum Erhalt von Freiheit (Und frei können nur wissende Menschen sein!) nicht mehr machen.

Die Entscheidung, diese Inszenierung mit jungen Schauspielern der Bayerischen Theaterakademie zu realisieren, war nicht nur lobenswert, sondern auch sinnfällig, denn dieses Theater war episches Theater und die Schauspieler traten hinter ihre Texte zurück. So blieben dem Zuschauer allerlei Rückerinnerungen an andere Inszenierungen erspart, die die Gesichter der Stars des Residenztheaters zwangsläufig evozieren. Der artifizielle Ansatz der Inszenierung lag folglich auch nicht unbedingt im Spiel der Akteure, sondern in der sprachlichen und gestischen Nuancierung, um gesicherte Wahrheiten von Vermutungen zu trennen und dadurch vordergründige Ideologie zu vermeiden. Hinzu kam ein gelungenes Bühnenbild von Mark Späth, bestehend aus einer medialen Mauer, die von unterschiedlichsten Kräften durchlöchert und schließlich abgetragen wurde. Die Symbolik entsprach dem Vorgang und hatte ihren Schauwert. Das Ganze dauerte eine Stunde und die verging wie im Flug. Es war eine aufrüttelnde Inszenierung, an der sich die Geister scheiden werden, wie sich die Gesellschaft an der teilweisen "Unzugehörigkeit ihrer Individuen" spaltet. Hier hatte immerhin ein Autor den Mut zu einer unmissverständlichen politischen Stellungnahme und ein Theater unterstützte ihn dabei.
 
 
Wolf Banitzki

 

 


Genua 01

von Fausto Paravidino

Esther Kuhn, Birthe Wolter, Benjamin Mergarten, Peter Nitzsche, Anas Ouriaghli, Norman Sonnleitner

Regie: Alexander May

Theater im Marstall Gier von Sarah Kane


 

 

Ich-Welten

Sarah Kane - die wohl bekannteste der jungen englischen Dramatiker durchwatete ihr Leben mit großer Sensibilität und Intensität. Sie blickte schonungslos auf sich selbst und in die Gesellschaft. Ihre Stücke sind von besonderem Blickwinkel und verstörender Kraft. Es sind vier Stücke die sie hinterlassen hat. Mit "Gier" gelang ihr ein außergewöhnliches, abstrakt anmutendes Kunstwerk.

Tina Lanik setzt mit der Inszenierung auf Sarah Kane und die Kraft die dem Text innewohnt. Sie schafft klare Strukturen, geht in diesem vermeintlich handlungslosen Stück sparsam mit Bewegung um, doch nicht mit Spannung. Jeder Satz ist ein Schwergewicht. Was erst scheinbar zusammenhanglos daherkommt, erzählt so nach und nach vom Mißglücken der Versuche um Beziehungen. Erinnerungen, Lebenserfahrung und Psychosen breiten sich aus und lassen die Mechanismen des Scheiterns zutage treten, das zutiefst Menschliche. Die Unzulänglichkeit des Individuums wird auf der leeren frei im Raum hängenden Ebene noch deutlicher sichtbar.
Magdalena Gut gestaltete die Spielfläche, ein über dem Sand schwebendes offenes Strandhaus. Der weitestgehende Verzicht auf Requisiten konzentriert die Aufmerksamkeit nochmals auf die Sprache. Die Darsteller sind Stimme, Spannungskörper und Gesinnungsträger. Wenn Beziehung aufkommt so geschieht dies vor dem Sonnenuntergang über dem Meer, der Idylle, die sich vor den schwarzen Hintergrund schiebt. Doch hart und unerbittlich wird die Ebene ausgeleuchtet auf der die Figuren sich vom Hintergrund absetzen.
 
 

 
 

Felix Klare, Marina Galic, Siemen Rühaak, Barbara Melzl

© Thomas Dashuber

 

 

Die Aufführung ist ein Drahtseilakt, den die Darsteller bravourös meistern. Barbara Melzl gibt scheinbar gelassen und abgebrüht die ältere Frau, die auf der Suche nach dem lebenserfüllenden Kind an einen jungen Mann gerät. Sehnsucht, Ablehnung, Begehren, Sex und der Wunsch nach Liebe prallen aufeinander. Felix Klares junger Mann durchlebt emotional vielfältig alle Facetten einer Beziehung, um letztlich doch an deren Unmöglichkeit zu scheitern. Siemen Rühaak, der ältere Mann ist einer jungen Frau verfallen. Er geht auf in dem Begehren nach Nähe, seinen Gefühlen, dem Wunsch, ihr Lebensteilhaber zu sein. Doch Marina Galic junge Frau ist abweisend, verstrickt in ihre Erinnerungen, verstrickt in die Hinterlassenschaften ihrer Mutter. Emotionslos blickt sie auf den Tod, sucht ihn geradezu. Dem älteren Mann bleibt nur die Flucht in den Zynismus und rückwärts zur vertrauten Partnerin. Es sind Ich-Welten, die parallel auf einer Bühne agieren und vergeblich den Weg zu einem Wir, das absolute bedingungslose Liebe braucht, suchen.
Den Ich-Welten sei Aristoteles Ausspruch "Das Glück gehört denen, die sich selber genügen." nahegelegt. Er kann Hoffnung schaffen, denn zuletzt stirbt die Hoffnung - und wenn das Suchen des Todes den letzten Ausweg darstellt, so ist die Hoffnung bereits gestorben. Was bleibt dann noch?

Das Stück seziert die Psyche des Menschen, legt frei, macht schonungslos sichtbar. Für alle Liebhaber psychologischen Theaters sollte diese Inszenierung ein Muss sein.
 
 
C.M.Meier

 

 


Gier

von Sarah Kane

Marina Galic, Barbara Melzl, Felix Klare, Siemen Rühaak

Regie: Tina Lanik

Theater im Marstall Philotas von Gotthold Ephraim Lessing


 

 

Philotas - Fleischwerdung eines fragwürdigen Symbols

1756 vollführte Friedrich II von Preußen einen Präventivschlag gegen Sachsen und eröffnete den bis 1763 andauernden Siebenjährigen Krieg. Der König hatte Preußen in einen Militärstaat verwandelt, wie man ihn seit Sparta nicht mehr gesehen hatte. Er, einer der menschenverachtendsten Könige in der deutschen Geschichte, trieb seine Truppen mit dem Ausruf "Hunde, wollt ihr denn ewig leben?" massenhaft in den Tod. Zur selben Zeit schrieb Gotthold Ephraim Lessing sein Trauerspiel "Philotas". Es ist ein Antikriegsstück. Als Preuße erschien es ihm allerdings nicht ratsam, einen direkten Bezug zum Krieg seiner Zeit herzustellen, und so griff er ein antikes Sujet auf.

Lessing beschreibt in "Philotas" die Geschichte des gleichnamigen Prinzen, der durch Übereifer in Gefangenschaft geraten war. Als Faustpfand in den Händen des Feindes war sein Vater erpressbar geworden. Es stand zu befürchten, dass der Vater, gezwungen durch die Liebe zu seinem Sohn, in diesem Streit unterliegen würde. Philotas sieht sich als Verräter und Vernichter seines Volkes. Als er erfährt, dass auch der feindliche Prinz, der Sohn König Aridäus, von seiner Truppe gefangen gesetzt wurde, scheint seine Schuld gemildert. Ein Patt verheißt angesichts der tödlichen Bedrohung eine friedliche Lösung des Konflikts. Ein "Vernünfteln" scheint möglich. Doch Philotas ist besessen von der Idee, seinen Beitrag zu einem Sieg mit Waffen zu leisten und wählt den Freitod, um seinen Vater in eine bessere Ausgangslage zu bringen. Im Heldenwahn, sein glorioses Bild in der Geschichte vor Augen, löscht sich der Nochknabe aus. Die Geschichte beflügelt das Nach-Denken, denn ein Viertel Jahrtausend später gehen noch immer täglich religiös und politisch verblendete Männer und Frauen den sinnlosesten aller Wege. Welches Stück könnte angesichts dieser existenziellen Botschaft aktueller sein?

Bühnenbildnerin Gisela Goerttler verwandelte den Marstall in einen schwarzen Raum, der keinerlei Bezug zu einem konkreten Topos mehr zuließ. Auf einem schwarzen Podest inszenierte Alexander Nerlich ohne Eingriffe in Lessings dramatischen Entwurf und ohne vordergründige Aktualisierung ein zeitgemäßes Thema. Einziges Requisit war ein Schwert und mehr bedurfte es auch nicht, um die Tötungsmaschinerien dieser Welt zu beschwören. Felix Klare ließ das Publikum schnell vergessen, dass es sich um ein Drama der Archaik handelte. Der Zuschauer konnte der Fleischwerdung eines fragwürdigen Symbols beiwohnen. Mit jeder Bewegung, jeder Miene, jedem Wort schuf der Darsteller einen temperamentvollen und intelligenten Mann, der die ihn zum "Manne machende Toga" erst wenige Tage trug. Kindlicher Zorn wechselte mit staatsmännischer Pose und beides zusammen schuf eine selbstmörderische Kreatur, deren Bild von Heros und Tod, hier untrennbar verquickt, keinen Ausweg mehr offen ließ.
 
 

 
 

Fred Stillkrauth, Gerd Anthoff, Felix Klare

© Thomas Dashuber

 

 

Lessing war, als er dieses Drama schuf, noch nicht angekommen in seinem Humanismus, der ihn zum Morgenstern der deutschen Aufklärung machte. Dennoch ging er schon weit über den Geist seiner (und wie es scheint auch unserer) Zeit hinaus, die der Vernunft den Vortritt noch versagte. Aber gerade diese deutete sich in der Figur des Königs Aridäus an, den Gert Anthoff souverän, - geradezu königlich gestaltete: "Ja, Prinz; was ist ein König, wenn er kein Vater ist! Was ist ein Held ohne Menschenliebe."
Eines der augenscheinlichsten Indizien für Lessings In-der-Zeit-verhaftet-sein ist die Rolle des Strato, mann- und glaubhaft von Fred Stillkrauth dargestellt. Seine Feldherrenpose sollte eine Ethik des Krieges suggerieren. Leider, und hier hätten einige entlarvende Zungenschläge gut getan, führen heutige Politiker und Terroristen diese immer noch im Munde. Sie erfinden eifrig immer neue moralische Rechtfertigungen für das Töten. Dabei steht doch längst fest, dass es keine Ethik und keine Moral im Krieg gibt. Aridäus: "Glaubt ihr Menschen, dass man es nicht satt wird?" Es ist die Ultima Ratio, die bar aller menschlichen Vernunft, wie sie Lessing verstand, ist.

Der Abend im Marstall war ein bewegender. Er war es umso mehr, da nicht zuletzt durch Lessings epigrammatisch dichte Sprache deutlich wurde, wie alt und neu dieses Stück doch ist. Es gibt kaum etwas vergleichbares in der modernen Dramatik, das soviel Aufklärung zum Thema Krieg und Wahn leisten könnte. Alexander Nerlich gebührt das Verdienst, keine Silbe dieses Textes verschenkt zu haben. Seine geschlossene Inszenierung, getragen von einem engagierten Felix Klare, demonstrierte die Vielschichtigkeit menschlichen Denkens, Handelns und Irrens. Wer dennoch mit mehr Fragen als Antworten aus dieser Inszenierung geht, dem seien Georg Holzers essayistische Anmerkungen zum Thema im Programmheft empfohlen.



Wolf Banitzki



 

 


Philotas

von Gotthold Ephraim Lessing

Gerd Anthoff, Christian Friedel, Felix Klare, Fred Stillkrauth

Regie: Alexander Nerlich
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