Theater im Marstall Himmel sehen von Ann-Christin Focke


 

 

Gefangen

"Saubauern zahlen 30 Mark und ein Kleid. Man bekommt wenig zu essen und viel Schläge. Normale Bauern zahlen 40 Mark und zwei Kleider, eine Jacke und ein paar Schuhe. Man muss Kühe hüten und bei der Ernte helfen. Herrschaften zahlen 50 Mark und man bekommt ein Kleid, das um die Mitte enger ist und eine weiße Schürze mit Spitzen." , weiß Anna der jüngeren Charlotte eindringlich zu sagen. Anna geht bereits zum zweiten Mal über die Berge von Tirol ins Schwabenland. Sie möchte in diesem Jahr als Dienstmädchen zu einer Herrschaft.

Vom "Schwabengehen" handelt Ann-Christin Fockes Theatertext "Himmel sehen" . Von den harten Schicksalen der Kinder armer Bauernfamilien erzählen diese Geschichten, von der Notwendigkeit und dem ökonomischen Erfolg für beide Seiten ist darin die Rede. Vor allem die ökonomische Seite betont die Autorin in ihrem Werk. Wieder und immer wieder trägt Anna die Rechnung vor, als wäre diese ein Heilsgebet. Schnell wird klar, dass es um Hierarchie und Hackordnung geht und um die Unausweichlichkeit dieser Mechanismen. Jede ist sich selbst die Nächste und so stirbt bereits nach der Überquerung des Berges der Dialog zwischen Anna und Charlotte. Er weicht, um wiederholtem "herunter beten" von Teilen der persönlichen Geschichte oder der Rechnung Platz zu machen. Erneut reflektiert eine junge Autorin die Unfähigkeit in der Gesellschaft zu Dialog. Auch ist es kein dramatischer Konflikt, der den Weg auf die Bühne fand, sondern geschickt konstruierte Veranschaulichung von psychologischen Vorgängen. Es ist der nackte Selbsterhaltungstrieb, der sie zwingt, an der persönlichen Geschichte durch Wiederholung und Wiederholung festzuhalten. Die Mädchen und die Frau Baronin teilen ein Schicksal und die, die sich am besten einfügen kann, hat Aussichten auf Aufstieg. Rollentausch heißt das Zauberwort, das verspricht, einen Blick in den "Himmel" werfen zu dürfen - welche Illusion.
 
 

 

 
 

Ulrike Arnold, Katharina Gebauer, Lena Dörrie

© Thomas Dashuber

 

 

Mit Kreide zogen die Darstellerinnen Linien auf schwarzem Boden, steckten die Räume ab, machten die Rechnung auf. Bildhaft wurde so deutlich, es ist ein Lehrstück, weiße Kreide auf schwarzem Grund. Die Regisseurin Steffi Baier ließ die Schauspielerinnen erst auf der Bühne in ihre Rollen schlüpfen und setzte so gelungen den Bezug zwischen Gegenwart und Vergangenheit um. Lena Dörrie brillierte als dreizehnjährige Anna, die bereits die Regeln kennt und die Mechanismen beherrscht. Ihr Spiel war klar und präzise, ihre Haltung ließ keine Zweifel offen. Am Ende zeigte sich, sie wird ihren Weg gehen. Sie hatte ihr Ziel, Rollentausch, deutlich vor sich, verlor es keinen Moment aus den Augen. Katharina Gebauer als jüngere zurückhaltende Charlotte kam die "undankbare" Rolle zu, den "Himmel" nicht erreichen zu können. Das Programmheft spricht ihr den moralischen Sieg zu. Die Baronin, gegeben von Ulrike Arnold, erkannte in Anna sich selbst wieder und machte mit ihrer Geschichte dieser den Preis des "Himmels" deutlich.

Wie wenig sich seit dem 16. Jahrhundert geändert hat zwischen Herrschaftlichkeit und Armut kann jeder sehen, der heute offenen Auges durch Mitteleuropa geht. Dieses unmenschliche System wird immer noch von beiden Seiten hofiert, darin sind sich Herr und Sklave einig. Sie erfüllen gleich Gefangenen ihre "Pflicht" als wäre diese eine heilige, unausweichlich und als einzige heilsbringend. Möge der Theatertext immerhin ein Zeichen setzen und zum Nachdenken anregen.



C.M.Meier

 

 


Himmel sehen

von Ann-Christin Focke

Lena Dörrie, Ulrike Arnold, Katharina Gebauer

Regie: Steffi Baier

Theater im Marstall Tänzerinnen + Drücker von Franz Xaver Kroetz


 

 

Statische Massenbewegung

oder Deutschland live. Fauteuil, Stehlampe, Bierkasten, Fauteuil, Stehlampe, Bierkasten, Fauteuil, Stehlampe, Tisch, Sofa, Stuhl, Tisch, Rollstuhl, ein Mops, sieben Personen - sieben Fernseher. Das Bühnenbild signalisiert - Singlegesellschaft, Vereinsamung - nein - denn es herrscht eine alles vereinnahmende und damit verbindende mediale Wirklichkeit, in die man sich längst bedingungslos ein- oder untergeordnet hat.

Vier Männer unterschiedlicher Ausprägung, doch alle TV-Zapper und Wechselwähler, sind verbunden über das Eine, das Fernsehen mit seinen verschiedenen Programmen - 10.30 Reich und schön 11.15 kurz & rund 11.30 Hit Giganten (Wiederholung) 12.00 Heute aktuell ... Marcus Calvin, Robert Joseph Bartel, Christian Lerch und Peter Albers traten als geballte Kraft auf. Mit einer Stimme, einig, oder abwechselnd auf Zuruf reagierend, spulten sie das Repertoire möglicher Reaktionen männlicher Fernsehkonsumenten ab, die sich unbeobachtet fühlen. Die Hand hoben sie nur noch, um nach der Fernbedienung zu greifen oder sich zu vergewissern, dass sie doch noch Männer sind. Sex, Gewalt, Politik bestimmten den medialen Pool in dem sie sich tummelten.
 
   
 

© Thomas Dashuber

 

 

Die ungenießbaren Krautwickerl des Heimes waren die Verbindung zwischen Eva Schuckardt, Jennifer Minetti und Sibylle Canonica. Sie, die Frauen, waren beständiger in ihren Fernsehgewohnheiten, hielten Pfarrer Fliege oder James Dean die Treue. Sie waren vormals Pornostar oder Tänzerin in einem echten Leben und ihre letzte Chance auf Aufmerksamkeit wäre ein grandios inszenierter Tod. Sie suchten ihn, suchten ihn mit poetischen Bildern. Das Blut lief bereits aus den Adern, doch die Nachtschwester mit dem Putzlappen kam nicht, um es aufzuwischen.

Franz Xaver Kroetz warf einen kritischen Blick auf die Mediengesellschaft, die in den 70zigern propagiert wurde und heute von Mogulen wie R. Murdoch, R. Mohn, S. Berlusconi u.u.u. gesteuert und benutzt wird. Gelungen ist ihm in seinem TV-Massaker neben satirischer Betrachtung und Unterhaltung, eine entlarvende psychologische Skizze sowohl exemplarisch über die einzelnen Figuren, als auch das System an sich. Was oberflächlich betrachtet als reine Reflektion herrschender Zustände daherkommt und sich offensichtlich provokant gibt, entdeckt auch die Abgründe und die damit verbundene Tragik. Kroetz bringt in seiner Inszenierung den übriggebliebenen ungenießbaren Extrakt von vormals Menschlichem auf die Bühne und setzt diesen in Bezug zum Apparat.

Doch das typisch deutsche Fernsehpublikum dürfte im Marstall der Residenz allerdings wohl weniger unter den Zuschauern vertreten sein, als die Medienmacher per se, sowie andere Drahtzieher und Systembediener. Also Gaudium auf Kosten der Quotenbringer? Da ist Kroetz vor: "Es kann nicht sein, dass wir als Zuschauer geboren werden und als Wegschauer unsere maximale Entwicklung nehmen!" Während Wissenschaftler darüber konferieren, dass mediale und nichtmediale Wirklichkeit verschmelzen, "amüsieren wir uns zu Tode", wie der bekannte amerikanische Medienkritiker Neil Postman schon vor Jahren feststellte. Sein Appell verhallte und der von Kroetz?
Der Zug ist, so scheint es nicht nur, längst abgefahren und es sangen die Männer beim Abgehen von "Einigkeit und R... undfunk und F... ernsehen (Variation des Kritikers) für das deu...", wie eine Kampagne des wirklichen Diktators dies derzeit vorgibt - die Macher und ihre Marionetten.

Die anregende Inszenierung ist im Gegensatz zur Fernsehrealität keinesfalls statisch, sondern gehört zu den bewegenden Ereignissen. Die durchweg brillianten Leistungen der Schauspieler machten jede der Aktionen zu einem sinnlich erfahrbaren Genuss. Im Gegensatz zur Mattscheibe entstehen hier noch echte Emotionen, können Erkenntnisse resultieren.



C.M.Meier

 

 


Tänzerinnen + Drücker

von Franz Xaver Kroetz

Marcus Calvin, Robert Joseph Bartel, Christian Lerch, Peter Albers, Eva Schuckardt, Jennifer Minetti, Sibylle Canonica, Daniel Reinhard (Souffleur)

Regie: Franz Xaver Kroetz

Theater im Marstall Der Hässliche von Marius von Mayenburg


 

 

Schön. Schön.

Schön ist, was gefällt, hieß es früher im Volksmund. Ist im Zuge des allgemeinen Wandels heute nur noch schön, was dazu erklärt wurde? In einer Gesellschaft, in der das Selbstgefühl der Menschen extrem stark von ihrem Äußeren abhängt und es keine Probleme mehr verursacht, diese Oberflächen zu korrigieren, kann alles in perfekte Form gebracht werden. Ist das aber bezeichnete Perfekte nicht lediglich die Umsetzung einer Vorstellung, damit Reduktion des in sich individuell Vollkommenen? Die Perfektionierten gleichen sich, nur die Hässlichen unterscheiden sich deutlich.

Der Hässliche, Lette, ist ein begabter Ingenieur, welcher eine grandiose Erfindung gemacht hat. Dass er hässlich ist, erfährt er erst von Scheffler, seinem Chef, als es um die Vorstellung seines Produktes auf dem Markt geht. Seine schöne Frau Fanny hat ihm bislang immer ins linke Auge geblickt und daran ihre Liebe zu ihm festgemacht, oder an seiner Stimme. War ihre Beziehung zu ihm also bisher eine rein akustische? Da Lette nicht hinter seinen Assistenten Karlmann zurück treten möchte, bleibt ihm nur eine Schönheitsoperation. Chirurg Scheffler will aber erst überredet werden, denn die Aufgabe scheint übergroß.

"Aber ich finde, Narzissmus ist nichts, was man anprangern kann, nicht mit gutem Gewissen und nicht vernünftiger Weise, und so schlimm ist das alles nicht. Sondern in erster Linie lustig.", so Marius von Mayenburg. Wahrnehmungen und Vorstellungen bilden den Kern in seinem Stück "Der Hässliche". In dieser Komödie, die durchaus Tiefgang hat, geht es um den Umgang mit Schönheit und Individualität in der modernen Gesellschaft. Gewitzt, satirisch, mit trockenen Pointen geht der Autor heran. Seine Figuren hinterfragen sich auch, selbst wenn nichts dabei heraus kommt. Gerade das macht den Reiz des Werkes aus. Und das darzustellen, war die Kunst, die die Darsteller Jens Harzer, Thomas Loibl, Marina Galic und Peter Kampwirth mit Bravour meisterten. Sie stellten abwechselnd verschiedene Figuren dar und wechselten gekonnt mitten in der Szene Text und Charakter, ohne sich äußerlich zu verändern. Mit vollem Einsatz, sprachlich mimisch und körperlich, hatten Thomas Loibl und Jens Harzer die Komödie zum Laufen gebracht. Zwei große komödiantische Talente spielten sich zu, stockten schon mal, kaum merklich, da das Spielvergnügen auch ihr Zwerchfell reizte. Das übertrug sich auf die Zuschauer und beförderte die Dynamik dieser Inszenierung.
 
   
 

Jan-Peter Kampwirth, Thomas Loibl, Marina Galic, Jens Harzer

© Thomas Dashuber

 

 

Die Absurdität der Vorgänge fand nicht nur sprachlich Ausdruck, sondern wurde auch in drastisch komischen Situationsbildern vorgeführt. Chirurg Scheffler (Thomas Loibl) bearbeitete seine Patienten mit vollem Körpereinsatz, drang geradezu bis zu ihrem innersten Wesen vor. Stets begann er mit der Nase, "... denn die steht am weitesten vor im Gesicht". Jens Harzer vollzog die Wandlung vom unbedarften hässlichen, doch liebenswerten, bis zum selbstgefälligen Zeitgenossen, vor dessen Tür die Frauen um ein Autogramm Schlange standen. In Gestik und Mimik fein intensiv und unnachahmlich, forcierte er den Text. Marina Galic und Jan-Peter Kampwirth sprangen überzeugend von Figur zu Figur in einer Szene.

Die klare Inszenierung von Britta Schreiber, die karge Bühne (Halina Kratochwil), die wenigen Requisiten lenkten die Konzentration auf die Sprache und den Witz hinter Text und Darstellung. So sollten die Bilder in den Köpfen der Betrachter entstehen. Doch die Realität auf der Bühne fesselte die Aufmerksamkeit bisweilen weit mehr.

Perfekt ist das Werk nicht, vielmehr ist es sehenswertes Theater, das durch ausgezeichnete Inszenierung und hervorragende Darsteller besticht.

 
C.M.Meier

 

 


Der Hässliche

von Marius von Mayenburg

Jens Harzer, Marina Galic, Thomas Loibl, Jan-Peter Kampwirth

Regie: Britta Schreiber

Theater im Marstall Böse Märchen von Brüder Grimm, Andersen, Afanasjew, Perrault


 

 

Vorsicht Märchen!

Märchen sind mehr als nur Erbauungs- oder Einschlafgeschichten. Sie sind unser mythologisches Gedächtnis. In ihnen sind die Codes unserer Wesenhaftigkeiten gespeichert. Wenn wir vor den "Bösen Märchen" zurück schrecken, dann schrecken wir gleichsam vor uns selbst zurück, denn wir sind in diesen Geschichten eingewoben, grob zwar, aber doch deutlich sichtbar.

Die Idee, mit den "Bösen Märchen" - im Gegensatz zu den "Guten Märchen", denen es aber an Authentizität gebricht - einen Theaterabend zu gestalten, erwies sich in jeder Hinsicht als sinnvoll. In einer Zeit der Haltungs- und Anschauungslosigkeit wird der Betrachter ohne jegliche ideologische Repression auf sich und seine Vorfahren zurück geworfen. Da es Märchen sind, kann der Betrachter die Distanz wahren. Vielleicht ist es gerade diese Perspektive, die ihm den Zugang zum eigenen Unterbewusstsein, denn hier schlummern die Codes, ermöglicht. Die kathartische Wirkung, wir wenden sie mittels Märchen allzu gern bei unseren Kindern an, ist unbestritten. Hans-Joachim Ruckhäberle brachte es in seinem Text im Programmheft auf den Punkt: "Keiner verändert die Welt im Märchen, manche aber ihre Stellung in dieser Welt."
 
 

 
 

Lena Dörrie, Richard Beek

© Thomas Dashuber

 

 

Die Auswahl der "Bösen Märchen" geschah wohl kaum von ungefähr. Vermutlich sind diese noch ungefiltert, noch nicht neu gedeutet oder temporären Moden angepasst. Irving Fetscher beschäftigte sich eingehend mit Märchen und der Brechung der Geschichten im Zeitgeist. Er fand z.B. eine Quelle für das altbekannte Märchen von der Gold- und der Pechmarie. Den historischen Hintergrund dieser Geschichte bildete das wüste Treiben eines Burgvogtes, der sich zu seinen Saufgelagen Dorfmädchen auf die Burg bestellte. Waren sie ihm und seinen Spießgesellen zu Diensten, wurden sie mit Preziosen beschenkt, waren Goldmarien. Eine jedoch verweigerte sich und wurde daraufhin geteert und gefedert. Die Geschichte ist verbrieft und es entbehrt nicht einer gewissen bitteren Ironie, wie sie von den Grimmbrüdern umgedeutet wurde.

Marcel Keller, der für Regie und Bühnenbild verantwortlich zeichnete, erzählte alle Märchen nebeneinander. Auf der Bühne stand ein "märchenhafter" Würfel, der alle Spielorte auf und in sich vereinigte. Naturgemäß wird wenig gespielt und viel erzählt. Wer da nun glaubt, da man die Geschichten ja hinlänglich kennt, es sei ein spannungsloser Vortrag, der irrt gewaltig. Wieder einmal wird deutlich, dass sich kein gesunder Mensch der Faszination dieser Uraltgeschichten entziehen kann. Und wieder einmal wird unübersehbar, dass wir in unserer Hightechwelt unsere Fantasie noch nicht eingebüßt haben. Aller Rationalismus, auf den wir so stolz sind, fiel ganz plötzlich von uns ab, wenn Richard Beek von einem Wissenschaftler erzählte, der von seinem eignen Schatten eingeholt und vernichtet wird. Wir taumelten in unsere Kindertage zurück, als Heide von Strombeck uns den "Tod des Hühnchens" nahe, und zwar ganz nahe brachte. Aber wir waren ganz heutig, als Lena Dörrie und Katharina Gebauer katzenhaft Maximilian Löwenstein bedrängten, der ausgezogen war, um das Gruseln zu lernen. Die Botschaften konnten deutlicher kaum sein. Dramaturgisch geschickt begann der Abend mit Andersens "Schatten" und endete auch mit ihm. Als Maximilian Löwenstein und Matthias Eberth Hand an Richard Beek anlegten, um ihn auf Befehl des Schattens und der Königin zu Tode zu befördern, wussten wir, dass auch in der heutigen Welt nicht selten der Schein das Sein regiert.

Dieser Abend hielt mehr als eine Wahrheit bereit. Dramaturg Ruckhäberle umschrieb das Anliegen wie folgt: "Das Märchen kennt keine Liebe, nur Hass und Missgunst; es kennt keine individuelle Beziehung der Menschen untereinander, nur Abhängigkeiten, Macht und sozialen Aufstieg. Auf vertrackte Weise verbindet sich damit die pure archaische Ordnung des Märchens mit unserer pur ökonomisch organisierten Welt."

Und noch einer Wahrheit ist man nach diesem Abend gewiss: Märchen kommen aus den Mythen und wurden nicht für Kinder überliefert. Die Erwachsenen sollten sie lesen, denn die Kinder sind vorerst noch klüger als sie.

 
Wolf Banitzki



 

 


Böse Märchen

von Brüder Grimm, Andersen, Afanasjew, Perrault

Lena Dörrie, Katharina Gebauer, Heide von Strombeck, Richard Beek, Matthias Eberth, Maximilian Löwenstein

Regie/Bühne: Marcel Keller

Theater im Marstall Country Music von Simon Stephens


 

 

Es ist wie es ist

Was der Blues für schwarze, ist Country Music für weiße Bevölkerungsschichten. Sie transportiert, wie alle volkstümlichen Musikstile, Lebensgefühl und Weltanschauung. Hier werden Träume artikuliert, finden Liebe, Glück, Zugehörigkeit und "heile Welt" ihren Ausdruck. Kitsch, könnte man dazu sagen, doch, wie das Wort bezeichnet, schließt sie die Lücken, die zwischen einer kalten Realität und einer bedürftigen Emotionalität entstehen. Diese Musik ist also Lebensmittel und sie ist alles, was Jamie Carris, dem Protagonisten in Simon Stephens Stück am Ende bleibt.

Jamie sitzt mit Lindsey im Auto; es ist spät nachts. Er spricht von schönen Tagen am Meer und Nächten in einer kleinen Pension ... Er bietet ihr Chips an, die er ebenso wie den Tequila an einer Tankstelle "mitgenommen" hat; den Jungen, der sich ihm in den Weg stellte, setzte er durch Messerstiche außer Gefecht. Der Wagen gehört dem Freund seiner Mutter; er hat ihn nicht nur einfach genommen. Lindsey möchte zurück ins Heim, hat Angst vor Jamies Unberechenbarkeit. Seine Träume handeln von kleinbürgerlichen Glücksvorstellungen und doch sind sie, wie es scheint, unerreichbar. Neun Jahre später sitzt Jamie im Gefängnis. Er hatte seinen Stiefbruder Matty vor dem Kinderschänder beschützt, dem er seinerzeit nicht hatte entgehen können. Von Matty erfährt er, dass Lindsey und die gemeinsamen Tochter dem Heimatort den Rücken gekehrt haben. Nachdem Jamie aus der Haft entlassen wurde, er arbeitet mittlerweile als Automechaniker, trifft er an einem Samstag seine Tochter Emma. Sie ist mittlerweile siebzehn Jahre alt, erinnert sich kaum noch an ihn. In einer Rückblende sieht man Jamie und Lindsey an dem Tag, bevor alles begann, als noch alle Möglichkeiten offen standen und alles hätte anders kommen können. Wäre da nicht ... Jamie.
 
 

 
 

Felix Klare

© Thomas Dashuber

 

 

Sozialkritisches hat auf der Insel Tradition und steht, anders als in Mitteleuropa, wo es eher ums Verdecken und Vertuschen geht, im Mittelpunkt künstlerischen Schaffens. Simon Stephens, einer der erfolgreichsten jungen englischen Dramatiker der Gegenwart, wird in eine Reihe mit den zornigen jungen Männer Englands, wie John Osborne, gestellt. Er beobachtet und entwirft in moderner knapper Sprache scharfe Bilder. Im Stück zeichnet er in vier Szenen den Werdegang eines Mannes vom missbrauchten Jungen zum unberechenbaren und gescheiterten. Gewalt ist das einzige Mittel, das er kennt. Gewalt ist allgegenwärtig und von den Medien bis zur Straße begegnet man ihr laufend. Längst hat sie sich als Regulativ in vielen Bereichen legitimiert.

Die Gewalt geht in der westlichen Zivilisation mit Leere einher. In der menschlichen Vereinzelung fehlen emotionaler Hintergrund und Bindungen. Ohne diese tritt nur die Befindlichkeit der Figuren an den Tag, in den Vordergrund. Diese Befindlichkeit hat der Autor in seine Figuren eingefangen, klischeehaft wie in einem Psychogramm, bestimmt die soziale Determinierung den Lebensverlauf, schlittert der Protagonist in sein sogenanntes Schicksal. Gewalt - da ist noch ein Rest "Mensch" der sich auflehnt.

In dem realistisch kargen Bühnenbild, gestaltet von Gisela Goerttler, inszenierte Alexander Nerlich intensives psychologisches Spiel. Die Geschichte trat hinter die entwickelten Figuren zurück. Felix Klares Jamie standen die inneren Vorgänge nicht nur ins Gesicht geschrieben, sondern drückten sich durch die ganze Erscheinung aus. Er wandelte sich vom jungen ungestümen Träumer zum verlassenen ausgeschlossenen Typ. Er wirkte in jedem Moment glaubhaft und brillant. Felix Rech gab überzeugend Matty; unsicher und verletzlich zupfte er an seiner Hose, suchte Halt beim älteren Bruder. Lindsey, ein junges Mädchen mit dem Wunsch nach Liebe und einem Zuhause, wurde dargestellt von Franziska Rieck. Lena Dörrie, als Tochter Emma, schwankte gespannt im Zwiespalt zwischen Neugier und Furcht. Empfindsam vermittelte sie die emotionalen Probleme eines Teenagers.

Psychologie begegnet uns in der modernen Welt bei fast jedem Schritt. An Hand dieser wird der Mensch analysiert und in kausale Zusammenhänge gesetzt. Umfassende berechenbare Mechanisierung ist eine Prämisse der Zeit. Doch es bleibt ein unzulänglicher Versuch, Funktionalität im emotionalen Bereich herzustellen und durch Gewalt vermeint der Mensch dem Zufall noch ein Schlupfloch ins Leben öffnen zu können. Dabei ist es nur der Wunsch nach ein wenig angenehmem Leben, nach einem kleinen Ausbruch aus dem längst akzeptierten und verinnerlichten Alltag, "Fahren wir nach Margate ...." .

Mit Alexander Nerlichs Inszenierung von Simon Stephens "Country Musix" fand ein Lehrstück für empfehlenswertes zeitgenössisch-psychologisches Theater den Weg auf die Bühne.

 

C.M.Meier

 

 


Country Music

von Simon Stephens

Felix Klare, Franziska Rieck, Felix Rech, Lena Dörrie

Regie: Alexander Nerlich
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