Neues Haus Sicherheitskonferenz von Stefan Kaegi (Rimini Protokoll)


 
 
Dokumentation vs. Theater

Es fällt schwer, sich als Theaterkritiker zu „Sicherheitskonferenz“ von Stefan Kaegi zu verhalten. Nicht, dass das Gesehene nicht interessant gewesen wäre; nicht, dass das Gesehene nicht den Horizont um einige Details erweitert hätte; nicht, dass das Gesehene nicht notwendigerweise an die Öffentlichkeit gebracht werden muss; doch, was hat das Gesehene mit Theater zu tun? Meine Nachbarin meinte, es wäre doch gut, mal neue Wege zu gehen. Neu sind diese Wege gewiss nicht. Seit Erwin Piscator und dem proletarischen Agitproptheater, spätestens aber seit dem „Gesang vom Lusitanischen Popanz “ (ein farbiges Agitprop-Musical) von Peter Weiß sind derartige Experimente keine neuen Wege mehr. Was allerdings neu ist, das ist der weitreichende Verzicht auf eine Theaterästhetik, die bereits in der Sprache beginnt.

Stefan Kaegi brachte in „Sicherheitskonferenz“ Menschen auf die Bühne, die mehr oder weniger mit dem Thema konfrontiert waren. Am deutlichsten wurde das bei Wolfgang Ohlert, der über ein Viertel Jahrhundert Chefkoordinator der Münchner Sicherheitskonferenz war. Ohne Frage war es sehr interessant, einem Mann wie Wolfgang Ohlert, der direkt eingetaucht war in die Dunstkreise der Macht, zuzuhören, wenn er aus dem Nähkästchen plauderte. Nicht weniger interessant waren die Auslassung von Heide Mößlang, die seit den 70er Jahren als Konferenzdolmetscherin tätig war. Sie wurde von der Schauspielerin Annette Paulmann vertreten. Ebenfalls ständig präsent auf der Veranstaltung, deren Ziel Sicherheit und Frieden war und sein soll, war Herr Andreas Meier (Name aus verständlichen aber nicht nachvollziehbaren Gründen geändert), Mitglied der Geschäftsführung eines Rüstungskonzerns mit Firmensitz in Bayern. Der Figur von Herrn Meier lieh Schauspieler Jochen Noch sein Gesicht. Die ständige Anwesenheit eines Waffenherstellers und -händlers war nicht zuletzt ein Indiz für die Absurdität dieser ganzen Veranstaltung.

Diesen Eindruck zu erwecken, muss auch Anliegen der Macher gewesen sein. Immerhin sollte eine konsequent jährlich veranstaltete „Sicherheitskonferenz“ zu mehr Frieden und Sicherheit führen. Dass das Gegenteil der Fall war und ist, belegte der Politologe Konstantinos Tsetsos, der zum Thema „asymmetrische Kriegsführung“ forscht und der sich mit „konferenz- oder computerbasierte, strategische Planspiele und Simulationen zu sicherheitspolitischen Themen“ beschäftigt.

Nebenher wurden Einzelschicksale eingeflochten, wie das von Amran Abdilahi Ahmed, die mit 16 Jahren aus Somalia vor dem Bürgerkrieg floh und z.Z. in München eine Ausbildung als Damenschneiderin absolviert. Anthony Lamothe ist freischaffender Kameramann, der sich nach einigen Kriegseinsätzen für die Familie entschied und nach dem 11. September 2001 von mehreren Sicherheitskonferenzen Bilder lieferte. Schauspielerin Caroline Ebner erzählte in der ersten Person die Geschichte der eher unpolitischen Soldatin Christiane Enst-Zettl, die, nachdem sie Zweifel an der Richtigkeit der Organisation des Afghanistaneinsatzes angemeldet hatte, gemaßregelt und nach Deutschland zurückversetzt wurde. Erst über gerichtliche Schritte gelang es ihr, den Vorwurf der Dienstverweigerung abzuwehren. Sie ist zur Zeit in ihrem 2. Afghanistaneinsatz. Sidigullah Fadai, aktiver Widerstandskämpfer gegen die sowjetische Besatzung, floh aus Afghanistan und organisierte 2001 in München-Freimann eine Afghanistan-Konferenz, bei der sämtliche afghanische Konfliktparteien anwesend waren. Und last but not least vermittelte der Programmierer Klaus Wintermayr einen Eindruck von der technischen Entwicklung und ließ dabei ahnen, welche Konsequenzen daraus für die moderne Kriegsführung resultieren.

Eva-Maria Bauer hatte den Spielraum des Neuen Hauses in den Konferenzraum des Bayerischen Hofes verwandelt. Ein großer ovaler Konferenztisch mit Galerien für die Beobachter und Berater vermittelte einen authentische Eindruck. Die obligatorische Flasche Wasser nebst Glas und die Kopfhörer ließen eine Ahnung aufkommen, wie es sein könnte, direkt dabei zu sein.
 

Amran Abdilahi, Caroline Ebner, Sidigullah Fadai, Anthony Lamothe, Jochen Noch, Wolfgang Ohlert, Annette Paulmann, Konstantinos Tsetsos

© Arno Declair

 

Im scheinbar zusammenhanglosen Wechsel berichteten die Protagonisten, multimedial aufwendig unterstützt, über Leben, Krieg und Politik im Konkreten und im Allgemeinen. Dabei sprachen sie vornehmlich von und über sich. Die Auskünfte hatten durchweg dokumentarischen Charakter, wobei die sprachliche Gestaltung unartifiziell war und vom Vermögen der Beherrschung der deutschen Sprache der ausländischen Mitbürger abhing. Von Gestaltung konnte, mit Ausnahme der drei Schauspieler, die sich allerdings zu Gunsten des dokumentarischen Grundkonzeptes deutlich zurücknahmen, nicht gesprochen werden. Technische Spielereien wie Kampfmaschinen, ferngesteuerte Aufklärer, nicht größer als eine Zigarettenschachtel oder das Model einer Drohne, die bedrohlich durch den Raum surrte, suggerierten zwar auf bedrückend faszinierende Weise, dass die zukünftigen Kriege durch Technik entschieden werden, lenkten aber ein wenig davon ab, dass die Opfer in jedem Fall leibhaftige Menschen sein werden, und zwar weniger Soldaten als vielmehr unschuldige Zivilisten.

 

Die breit angelegte Dokumentation, es sträubt sich in mir, ihr das Attribut theatralische zuzuordnen, hatte Aufklärung zum Ziel. Wirkliche Aufklärung konnte allerdings nur erfahren, wer politisch desinteressiert ist und nicht über eine kritische Weltanschauung verfügt. Das Wesentliche war bekannt, nur einige Details überraschten. Die Veranstaltung ist einmal mehr ein bedingt tauglicher Versuch, aufzurütteln. Fragt sich nur wofür? Das Ergebnis aus dieser Art des Aufrüttelns sind Lichterketten, Betroffenheitsbekundungen, Mahnwachen. Nicht, dass die Menschen, die auf die Straße gehen, darum gering geschätzt werden sollen, ganz im Gegenteil. Aber Kunst, und die hat leider nicht stattgefunden, könnte, wenn sie sich vom platten Realismus und dessen Reflexion einmal lösen würde, zu eigenen „Planspielen“ kommen, die zum Ziel haben könnten, den Begriff Sicherheit neu zu definieren. Dabei sollte man mit der Frage beginnen: Wer fällt die Entscheidungen, Krieg zu führen? Antwort: Die Politiker. Zweite Frage: Könnte es sein, dass Politiker schon lange nicht mehr den Regeln menschlicher Vernunft folgen? Dritte Frage: Politiker sind keine von Gott gegebene Kaste, braucht die Welt überhaupt Politiker?
Kunst sollte der Realität nicht hinterher laufen. Sie hat deutlich mehr Potenzen. Und nicht vergessen, Radikalität in der Kunst ist zumindest in Deutschland NOCH straffrei. Erst wenn Kunst zum „Sicherheitsrisiko“ wird, werden wir Sicherheit erlangen, Sicherheit vor denen, die uns Sicherheit versprechen.

 

Wolf Banitzki

 

 


Sicherheitskonferenz

von Stefan Kaegi (Rimini Protokoll)

Amran Abdilahi, Caroline Ebner, Sidigullah Fadai, Anthony Lamothe, Jochen Noch, Wolfgang Ohlert, Annette Paulmann, Klaus Wintermayr

Regie: Stefan Kaegi (Rimini Protokoll)

Neues Haus Chatroom von Enda Walsh


 

 

 
Cyber und Welt

Enda Walsh, in Dublin geborener und in London lebender, Autor, Schauspieler, Regisseur ist an den Münchner Kammerspielen und anderen deutschen Bühnen kein Unbekannter. Erst im vergangenen Oktober hatte seine Auftragsarbeit "The New Electric Ballroom" in den Kammerspielen Premiere. Davor fand die Deutschsprachige Erstaufführung seines Stückes "Bedbound" am Hause statt. Das neueste Werk, "Chatroom" , schrieb er für das "Shell Connections Festival" des National Theatres London, in dessen Rahmen es im vergangenen März uraufgeführt wurde. Bei der Deutschsprachigen Erstaufführung des Stücks, das mit seiner Authentizität bereits an eine Reality-Doku erinnert, führte er selbst Regie.

 

Leopold Geßele, Moritz Herle, Rosanna Graf, Enda Walsh, Elisa Leroy, Moritz Geiser, Laura Ettel

© Andreas Pohlmann

 

Chatroom - ein einfacher glatter Holzkasten in dem die Fäden zusammenlaufen. Es ist ein Holzkasten, den Bühnenbildner David Hohmann als Raum für die virtuelle Welt vorgesehen hatte, der durch Flügeltüren zu betreten und zu verlassen ist, beliebig, keine Sperrstunde. Sechs Jugendliche treffen sich hier zur Abrechung mit den Erwachsenen, mit Joanne Rowling und Harry Potter, mit Britney Spears und ihren Titten oder zum Austausch von Befindlichkeiten. Was als Smalltalk beginnt, entwickelt sich rasch zu einem mörderischen Spiel. Jim, sensibel und sinnsuchend, der im Forum der "Selbstmörder" von Laura keine Antwort auf seine unausgesprochenen Fragen erhält, wechselt daraufhin in das Forum der "Verdammten Besserwisser". Und hier findet er schließlich Rat, den Rat, der ihm endgültig aus seinem persönlichen Dilemma helfen kann. Denn William, seines Zeichens bekennender Zyniker, sieht seine Chance gekommen, ein Zeichen zu setzen. Gemeinsam mit Eva, deren erfüllendes Lebenszeichen aus einer Stunde Demonstration für den Frieden besteht, treibt er Jim vorwärts, ein Zeichen zu setzten - durch öffentlichen Selbstmord. Und Jim wird aktiv, auf seine Art.
Zeichen der Revolution wollen sie setzen, wie vor ihnen die Kommunisten, die 68er oder die letzten Zeichensetzer, die Punks der 70er. Doch es gibt heute keine Zeichen mehr zu setzen und so ist es eine Revolution ins Establishment, in die Anpassung. Das jugendliche Aufbegehren, der Ansatz zu Bewegung und Welterneuerung, mündet heute in die Virtualität, die ein anonymes Ausspielen der eigenen Veranlagungen gestattet und schließlich in die Einfügung - Einfügung pur, in das bestehende reale System. Enda Walsh hat diese Tragik einer Generation berührend formuliert. Was als witzige Darstellung der zeitlos gültigen Befindlichkeiten von Pubertierenden beginnt, reflektiert einfühlsam ihre Probleme in der heutigen Welt, trifft exakt ihre Sprache. Es entlarvt aber auch das Internet nicht nur als Hort vielfältiger virtueller Gewalt in dem durch Anonymität alles möglich erscheint, sondern auch als Treffpunkt kontaktarmer Einzelgänger.
 
Es ist eine klare Inszenierung ohne Schnickschnack, angepasst an die Möglichkeiten der Akteure, die den überaus begeisterten Beifall für ihre darstellerischen Leistungen wohl verdient haben.
Es sind Mitglieder aus dem Jugendclub M8 MIT! der Münchner Kammerspiele. Mit dieser Initiative setzt Intendant Frank Baumbauer auf seine Weise Zeichen, sucht er die Jugend vor, auf und hinter der Bühne zu begeistern und die Welt des Theaters den kommenden Generationen zu erschließen.

Zeichen, Zeichen, Zeichen, daraus besteht die Cyberwelt, das Paralleluniversum zur Realität. Hier findet die Bewegung, hier findet der emotionale und mentale Kontakt statt.
Ob es Enda Walsh gelungen ist, mit diesem Stück ein Zeichen zu setzen, ein reales Zeichen für die Gesellschaft und eine Generation? Ob eine stille Revolution zur Überbrückung der parallelen Systeme möglich ist? Oder, ob es bei einem anrührend unterhaltenden Abend bleibt, wird erst die Zeit zeigen …

 
C.M.Meier

 

 

 


Chatroom

von Enda Walsh

Leopold Geßele, Moritz Herle, Rosanna Graf, Elisa Leroy, Moritz Geiser, Laura Ettel

Regie: Enda Walsh

Neues Haus Solidarität ist Selbstmord von René Pollesch nach Carl Hegemann


 

 

 
Schall und Rauch

Isoliert und verdichtet sich die Aussage "Ich denke, also bin ich" , so entsteht als scheinbar logische Konsequenz ein Gedankenschwerpunkt. Ansammlungen solcher Punkte nennt man Thinktank. Hier werden, zumeist aus dem Gedankengut der Vergangenheit, Vorgaben für die Verstandestätigkeit der Zeitgenossen entwickelt. Als Blick in einen Thinktank kann die in den Kammerspielen im Neuen Haus inszenierte Bühnenschau verstanden werden: Lohnarbeit, Pornografie, Filmindustrie, Gold, Verbrechen, Lüge, Liebe und weiteres aktuelles Schlagwortmaterial fließen in "Solidarität ist Selbstmord" ein. Sechs Darsteller und ein Souffleur bringen die von Carl Hegemann entworfenen Gedanken zu Gehör. Auf der von Janina Audick gestalteten Bühne bewegen sie sich zum einen zwischen Bar, Bett und Livecam und zum anderen auf einer Gartenterrasse vor einem Spiegelschrank.

Mit den Mitteln der Boulevardkomödie brachte Pollesch Humor in die kreative Beliebigkeit dieses Thinktanks. Zweifelsohne wurde das vom Publikum dankbar angenommen und mit Lachern quittiert. Pollesch schaffte es damit, einen Nerv in der Gesellschaft zu treffen, einen Spiegel vorzuhalten. Er zeigte, wie sie sich im Spagat zwischen Weltkleinbürgertum und großsprachiger Analyse vergeblich selbst wahrzunehmen und zu positionieren versuchen, Pendler sind. Am Ende der Aufführung formieren sich die Akteure nach strukturierten Vorlagen, die in Rauch aufgehen.

Pollesch fand Umsetzungen, die den Aussagen Hegemanns zu deutlicher und unterhaltsamer Bildhaftigkeit verhalfen. Es wurde aufgezeigt, keine Lösung oder zumindest Hinweise angeboten. Dabei lag der Schwerpunkt doch vornehmlich darin, einen Diskurs am Laufen zu halten.
 

Anna Böger, Sylvana Krappatsch, Bernd Moss, Lasse Myhr, Mira Partecke, Sebastian Weber

© Arno Declair

 

Das Verstecken der Liebhabers im Schrank gilt als eine bürgerliche Attitüde. Sie dient der Schaffung eines Geheimnisses und dieses wiederum ist unerlässlich, um eine Lüge in die Welt zu setzen. Die Lüge schafft die Lücke im Gesamtbild, eröffnet unter anderem den Raum für Träume. Das Leben erfüllt Träume, ohne sich in der Wahl der Mittel zu beschränken. Nur der Mensch maßt sich an, wählerisch sein zu dürfen und zu beurteilen, will seine Vorstellung realisiert wissen (was in Theater und Film möglich ist). Schwingt in der Erotik noch das Geheimnis mit, so beschränkt sich die heute im Vordergrund stehende Pornografie auf die Darstellung eines mechanischen Vorgangs, ist plakativ und bestenfalls tierisch. Alles wird offen und scheinbar ehrlich. Es zeigt die Realität in ihrer vollen Banalität. Hier sterben Illusionen und Träume, scheitert die Wirklichkeit. Der Mensch, seiner Träume und Geschichte entkleidet, also nackt, ist eine zutiefst verlorene lächerliche Figur. Darüber hilft auch keine abstrakt kon- oder destruktive Intellektualität hinweg.

"Ich performe Gedanken, also entwickle ich." Vorstellungen sind Schall und Rauch, bleiben es auch ... "die nur so tun als ob".

 
 
C.M.Meier

 

 

 


Solidarität ist Selbstmord

von René Pollesch nach Carl Hegemann

Anna Böger, Sylvana Krappatsch, Bernd Moss, Lasse Myhr, Mira Partecke, Sebastian Weber, Viktor Herrlich

Regie: René Pollesch

Neues Haus Macht und Rebel von Matias Faldbakken


 

 

 
Und das Narrenschiff segelt weiter …

Wer Macht und Rebel zu begegnen wünscht, wartet vergeblich. Statt dessen aber kommen Hänsel, Gretel und die Hexe. Das ist auch ganz nett, insbesondere, wenn sich herausstellt, dass Macht und Rebel zum einen ein hübscher Reim und zum anderen ein Wortspiel ist zu einer Methode der Nazis, Menschen bei "Nacht und Nebel" aus Gründen der Abschreckung verschwinden zu lassen. Entweder hat Regisseur Kamerun hier etwas übersehen oder er hat den Dichter Faldbakken nicht recht verstanden. Dem geht es immerhin darum: Das ganze Gedankengebäude, auf dem unsere Gesellschaft beruht, zum Einsturz zu bringen. Vielleicht gelingt das im Roman, auf der Bühne des Neuen Hauses der Kammerspiele passierte jedenfalls nichts dergleichen.

Zwei Jugendliche, man nennt sie Hänsel und Gretel, kommen in ein Camp für Problemkids. Dort sollen sie einer Gehirnwäsche unterzogen werden, indem man sie mit den ultimativen Rebellionen des Geistes und des Körpers konfrontiert. Empfangen werden sie von Hexe, einem Knaben, der diese Tortur schon zum achten Mal durchläuft. Oberhaupt des Camps ist ein parlierenden General, der "stinkig ist" und bei allem, was er tut, noch stinkiger wird. So entsteht ein Form von Zynismus, die ebenfalls als exemplarisch angesehen werden darf (Verbirgt sich dahinter gar eine Spiegelung unserer Gesellschaft?). Das Ultimative hat den höchsten Stellenwert, weil man sich auf einem niedrigen Level nicht mehr bewegen kann. Am Ende werden weitere Neuankömmlinge von Hexe, jetzt im neunten Durchgang, und Hänsel, er ist stolz darauf, zum zweiten Mal dabei zu sein, empfangen und das Ganze beginnt von vorn.

Die theatralische Romaneinrichtung lässt weitestgehend eine dramatische Struktur vermissen. Dieses Manko soll durch episodenhafte Auftritte wett gemacht werden, was mit Sicherheit nicht gelingt. Da erklärt ein Troll, dass Laborratten abstumpfen können, und ein Makler versucht Urlaubsreisen nach Brandenburg und Hoyerswerda zu verkaufen. Tatsächlich schreckt man vor derartigen Plattitüden nicht zurück. Da tut es auch nichts zur Sache, dass, wie unlängst ans Tageslicht kam, mehr als 20 % der bayerischen Bevölkerung nationalsozialistische Gesinnungsbestandteile tief verinnerlicht haben. Das Logo Nazis suggeriert, und darauf ist Verlass, sofort den Osten Deutschlands. Das ist übrigens ein wesentlicher Punkt, der einen, ohne Kenntnis des Programmheftes oder der Vorankündigung, nicht unbedingt anspringt. Autor Faldbakken und Kamerun als theatralischer Vollstrecker vertreten die Ansicht, dass die moderne Industriegesellschaft Parallelen zum Nationalsozialismus aufweist, auf die man das Publikum nachdrücklich hinweisen muss. Wenn das tatsächlich notwendig sein sollte, kann diese Gesellschaft gleich das Handtuch werfen, denn es würde bedeuten, dass es kein objektives Geschichtsbild mehr gibt.

 

Sebastian Weber, Anna Böger, Lasse Myhr

© Arno Declair

 

Regisseur Kamerun will provozieren, um Wahrheiten zu schaffen. Diese Inszenierung schafft jedoch alles andere als Wahrheiten. Würden nicht so wunderbare Schauspieler wie Josef Bierbichler, Anna Böger, Lasse Myhr, Sebastian Weber und Jochen Noch die Aufführung tragen, wäre es nur eine weitere Peinlichkeit in der nicht enden wollenden Serie von Events, die vorgeben, Theater zu sein. Kamerun hoffte vergebens, dass Multimedia und Live-Musik die Inhaltslosigkeit übertünchen könnten. Der Zuschauer erfuhr nichts, was er nicht schon wusste. Die ästhetische Brechung dieser allbekannten Vorgänge war ebenso unspektakulär wie die Inhalte. Dennoch gab es einige Besucher im Publikum, die mehr als artigen Beifall spendeten. Mancher freut sich halt, wenn er sich in seinen Anschauungen (und seien es nur Spiegelbilder) bestätigt fühlt.

Am Ende sei dem Autor noch einmal das Wort erteilt:"Das Buch stellt zwar vieles grundsätzlich in Frage, enthält aber keine Lösungen." Na bitte. Also lasst uns weitersegeln auf dem Narrenschiff.



Wolf Banitzki

 

 


Macht und Rebel

von Matias Faldbakken

Bühnenfassung von Schorsch Kamerun

Anna Böger, Josef Bierbichler, Schorsch Kamerun, Lasse Myhr, Jochen Noch, Sebastian Weber, Benedikt Figel, Konstantin Frolov, Julia Jelinek, Matthias Kelle, Benjamin Kempf, Franziska Machens, Sarah Meyer und die Band: Jan Kahlert, Martin Lickleder, Peter Pichler

Regie: Schorsch Kamerun

Neues Haus DOWN UNDERSTANDING von Schorsch Kamerun


 
 
 
Garantiert wider den tierischen Ernst

"Down Understanding heißt das schräge Projekt von Schorsch Kamerun an den Münchner Kammerspielen, mit dem der Underground-Musiker und Anti-Theatermacher mal wieder ein genau geplantes Chaos inszeniert." (Zitat: Website Münchner Kammerspiele) Chaos bedeutet zumeist eines mit Sicherheit: Orientierungslosigkeit. Die ist garantiert. Aber, und das scheint Programm zu sein, darauf kommt es gar nicht an, denn: Schorsch Kamerun entwirft "Theaterabende, die mit ausgetüfteltem Dilettantismus, Ironie und Beklopptheit jede Sehnsucht nach gesellschaftlich sanktioniertem Verhalten als obsolet erklären und so die Schwerkraft jeder politischen Debatte im Theater aufheben." Was kann das wohl bedeuten?

Nun, zuallererst einmal, dass es hier zwar um ernste Themen ging, diese aber sehr unernst angegangen wurde. So war das Zentrum des Schwachsinns der heutigen Realität ein Wolpertinger. Dieser entpuppte sich alsbald als ein Australier griechischer Abstammung. Dies wissend, wurde der Titel verständlich, wenngleich einige Informationen über das Wesen des fünften Kontinents nicht schaden könnten, damit sich die Hintergründigkeiten von Downunder, resp. Down Understanding entfalten können. Der Wolpertinger fand sich nach einem kurzzeitigen Koma (die ganz normale Begleiterscheinung beim Besuch des Oktoberfestes) auf einem deutschen Amt wieder, wo man ernsthaft und mit der dem deutschen Beamten gegebenen Fantasie (Wer glaubt, dies sei ein Anachronismus, der irrt!) versuchte, dessen Identität zu ergründen. Ist er vielleicht doch ein "Taliban", der mit der "Talibahn" aus "Binladistan" angereist war? Im Hintergrund, hinter Glas, denn es handelte sich um geschlossene Räume, liefen die Rituale von Einwanderungsbehörden ab, deren Handlungsweisen keine vertrauensbildenden Maßnahmen sind. Wie auch, müssen wir doch unsere Freiheit schon am Hindukusch und unsere Leitkultur auf dem Frankfurter Flughafen verteidigen.
 

Schorsch Kamerun, Bernd Moss, Jan Kahlert, Peter Pichler

© Arno Declair

 

Soviel zur Headline. Dahinter verbargen sich Geschichten und Geschichtchen, erzählt vom Wolpertinger. Bernd Moss gab ihn privat und intim, war dem Publikum so nahe, dass man sehr die Nähe und weniger die Botschaft genoss. Und worum ging es? Zum Beispiel wurde die Showstareintagsfliege Jürgen Drews als deutsche Peinlichkeit zur Sau gemacht und an anderer Stelle erzählt, dass ein Mann (der Bullendozer - www.cowtipping.com) allein eine schlafende Kuh umschubsen kann. Mythologische Dimensionen bekam die Thematik, als der Wolpertinger eine Geschichte erzählte, die sich in Wladiwostok zugetragen hatte. Und dann waren da noch Frau Weber, gleichsam Autorität 1, und Herr Erich, Autorität 2. Herr Erich war mehrfach in Griechenland und kannte sich aus. Dem konnte man nichts vormachen. Ist es nicht schön, dass unser Beamten auch reisen und sich bilden und somit ihren analytischen Verstand schärfen? Das war gar nicht zum Lachen! Lasse Myhrs schneidende Kälte in der Stimme, ließ denn auch das Blut der (unerwünschten) Eindringlinge gefrieren. Ihm zur Seite eine ebenso beflissene Sylvana Krappatsch. Beide hielten sich jedoch fast ausschließlich hinter dem milchigen Glas des von Bühnenbildnerin Constanze Kümmel entworfenen "Transitraumes" auf und konnten dem Publikum kaum mehr als ihre Stimmen und verschwommene oder, wenn sie über die Monitore zappelten, verwackelte Bilder bieten. Nicht viel anders erging es Tabea Bettin, die aus dem Kreis ihrer zu betreuenden Kindern heraus erklärte, wie eine osteuropäische Nanny einen "Wertzuwachs", erfährt, quasi zum Label wird, und wie sie diese Mutation zur Ware genießt. Leider waren ihre eigenen Kinder dabei auf der Strecke geblieben, hatten sich von der Mutter entfremdet. Diese anrührende Szene war ausschließlich auf dem Monitor zu verfolgen.

Schorsch Kamerun leistete neben dem gesanglichen Part auch einige Dialoge. Seine Herkunft aus dem Underground war unüberseh- und hörbar. Höhepunkt war seine Gegennationale, die auf "Die Gegennationale als bestes Gefecht" endete. Dieser Text gab mehr Rätsel auf, als dass er erhellte. Aber es war ja schließlich auch die Gegennationale.

Und dann gab es noch eine Überraschung, nämlich Ouzo und ein griechisches Fest, das mit einem Kindertheater mit den Worten: "Herr Staatsanwalt, bereiten sie diesem Schmierentheater ein Ende", dann auch bald ein Ende fand. Und wenn sich das Publikum fragen sollte, warum ein griechisches Fest, dann sei erwähnt, jeder zehnte Grieche ist Australier. Alles klar?

Schorsch Kamerun ging es ganz sicher nicht darum, dem Publikum die Problematik erklärend näher zu bringen. Vielmehr konnte der Betrachter die den Vorgängen innewohnende Absurdität erkennen, wenn er oder sie nur die richtige Perspektive fand. Oder, wie es die Werbung des Theaters formuliert: "Mit offenen Augen gegen Einsteckecken!"

Wer hehres Theater mit einer gewissen Getragenheit erwartet, sollte den Ort meiden. Wer Lust auf Chaos hat, das gelegentlich und scheinbar auch versehentlich Wahrheiten produziert, wird sich über das, was für die betroffenen Menschen bitterer Alltag ist, wohl amüsieren können. Wer Ouzo mag, bekommt einen gratis.

 
 
Wolf Banitzki

 

 

 

 

DOWN UNDERSTANDING

von Schorsch Kamerun

Tabea Bettin, Schorsch Kamerun, Sylvana Krappatsch, Bernd Moss, Lasse Myhr

Regie Schorsch Kamerun
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