Residenz Theater Im Dickicht der Städte von Bertolt Brecht


 

 

Vom Schaumschlagen und anderen theatralischen Handlungen

Gut fünfzig Jahre ist Bert Brecht nun schon tot und noch immer scheint sich die Leserschaft kein deutliches Bild von den wahren Weltanschauungen dieses literarischen Schwejks machen zu können. Nun, da kann die Kunst aushelfen - sollte man meinen. Weit gefehlt. Man fällt immer noch reihenweise auf Brecht herein und diesen würde es freuen, wenngleich er, was die Umsetzung seiner Theaterstücke anbetraf , absolut kompromisslos war. Vermutlich wäre er nach der Generalprobe zu "Im Dickicht der Städte" am Residenz Theater nicht mehr in die Premiere gegangen, wie dereinst (1947) in Los Angeles zur UA des "Galilei". Während Charles Laughton in ein künstlerisches und finanzielles Desaster schlitterte, saß Brecht in einem nahe gelegenen Restaurant, um "soziale Studien" zu treiben. Bei aller Unberechenbarkeit des Dichters wäre eines immerhin gewiss, die Tantiemen hätte er ungeniert eingestrichen.

Brecht hatte unbestritten ein künstlerisches Genie, das sich auf der Kenntnis des Lebens gründete. Er war philosophischer Dogmatiker, ohne ernsthaft Philosophie studiert zu haben. Seine Dogmen galten für jedermann, nur nicht für ihn selbst. Selbst sein Marxismus, er brüstete sich unentwegt mit der tiefen Kenntnis desselben, ging auf tönernen Füßen. Lotte Lenya wusste zu berichten, dass in seine imposante Karl Marx Ausgabe Kriminalromane eingebunden waren. Brechts unerschütterliche Weisheit entsprang einer praktischen Vernunft. Und praktisch verwertbar war seine gesamte Literatur, vergleichbar mit der Shakespeares. So verwundert es nicht, dass er weltweit nach dem großen Engländer der am meisten gespielte Autor ist. Und Brecht hat Zukunft, denn die Welt ist zwar fortgeschritten seit dem Augsburger Abkömmling, doch nicht fortschrittlicher geworden.
 
   
 

Thomas Loibl, Ulrike Arnold, Marina Galic, Wolfgang Menardi, Rainer Bock, Anne Schäfer, Ulrich Beseler

© Thomas Dashuber

 

 

Brecht in Bayern auf der Bühne zu erleben ist etwas Besonderes und die Ankündigung elektrisiert. Allerdings enttäuschte die Inszenierung von Tina Lanik selbst geringste Erwartungen.
Das Stück erzählt die Geschichte zweier Männer, die ohne ersichtlichen Grund einen Kampf gegeneinander führen. Zurück geht Brechts Einfall zu diesem Stück, wie auch zu "Trommeln in der Nacht", auf die Erkenntnis, dass die moderne Großstadt ein Dschungel sei. Diese Idee kam ihm beim Lesen der Werke Kiplings. Was naturgegeben ist, bedarf keiner Erklärung, meinte Brecht und lässt uns denn auch im Dunkeln über die Motive des Holzhändlers Shlink, den Bibliotheksangestellten Georg Garga zu besagtem Kampf zu zwingen. Der weltanschaulich noch pubertierende Brecht war neugierig auf die Verhaltensweisen des Menschen unter veränderten Bedingungen. Er war auf der Suche nach tradierten Wahrheiten über das menschliche Wesen. So ist es am Anfang ein ungleicher Kampf, denn durch Besitz und soziale Stellung ist Shlink seinem vermeintlichen Gegner haushoch überlegen. Shlink überschreibt Garga seinen gesamten Besitz und macht ihn somit zum gleichwertigen Gegner. Doch Garga ist überfordert mit der Situation und scheitert gerade an seinem neu errungenen sozialen Status. Er wird zum Säufer und Kriminellen. Seine Anschauungen, die er zu Beginn um keinen Preis verhökert hätte, werden wertlos. Garga opfert alle ihm nahe stehenden Menschen. Am Ende, für eine kurze Zeit hat er Shlink mit in den Abgrund gerissen, verweigert er sich dem Kampf mit dem Argument, es ginge nicht darum "der Stärkere zu sein, sondern der Lebendige". Shlink muss sich eingestehen: "Die unendliche Vereinzelung des Menschen macht eine Feindschaft zum unerreichbaren Ziel. (…) Ja, so groß ist die Vereinzelung, daß es nicht einmal einen Kampf gibt." Angesichts seiner eigenen hoffnungslosen Vereinsamung tötet er sich. Diese Aussage stand in der gesamten Inszenierungstradition des Stückes im Vordergrund.

Regisseurin Tina Lanik gelang es nicht, wirkliche Akzente zu setzen, die dem Zuschauer ihre Lesart verdeutlichten. Sie erzählte die Geschichte ohne wirkliche Höhepunkte. Unter ihrer Führung nahmen nur zwei Figuren deutlichere Umrisse an, Garga und Shlink, der Rest war mehr oder weniger Staffage. Rainer Bock schuf einen Shlink, der auf absurde Weise zum Sympathieträger wurde. Fast väterlich buhlte er um die Feindschaft seines Gegenüber. Seine Argumente waren stichhaltig und denunzierend zugleich. Denunziert wurde Garga, dem er immer wieder vor Augen hielt, dass er seiner eigentlich nicht würdig war, dem er (Warum eigentlich?) aber dennoch immer wieder die Partnerschaft der Feindschaft antrug. Thomas Loibl, der mit vollem Einsatz spielte, gestaltete einen Garga, der in jeder Hinsicht engstirnig, engherzig und visionslos versagte. Garga, ein Mann der Bücher gelesen hatte, dessen Geist durchaus entwickelt war, erstarb im Gestammel seiner eigenen Sprachlosigkeit.

Die keineswegs unbedeutenden Nebenrollen zeichneten sich in erster Linie durch Klischeehaftigkeit aus. So kroch Barbara Melzel kettenrauchend in ihrer hündischen Ergebenheit Shlink hinterher, der sie nicht erhören wollte. Marina Galic spreizte sich schrill und aufdringlich in Vulgarität, denn sie verkörperte die zur Hure gewordene Freundin Georg Gargas. Ulrike Arnold musste als Hotel-(Bordell-) besitzerin Wurm in schwarzen Strümpfen stolzieren und Schnaps verabreichen und Peter Albers kam in seiner Rolle als Pat Mansky über den Habitus eines dumpfen brutalen Kleinbürgers nicht hinaus. Einzig Arnulf Schumacher wirkte in diesem Reigen der Beliebigkeit glaubhaft. Als John Garga, Georges Vater, war er in seiner pragmatischen Brutalität und Emotionslosigkeit präsenter als die meisten seiner MitspielerInnen.

Kurioserweise war das Bühnenbild von Magdalena Gut ein typisch Brechtsches. Der "Brechtvorhang" war effektvoll goldfarben und auf der kargen Bühne befand sich kein Requisit, das nicht bespielt wurde. Man hielt sich in Bezug auf das Bühnenbild deutlich an die Vorgaben der durch Brecht definierten "epischen Methode". Leider, und das wurde in dieser Inszenierung eklatant deutlich, schrieb er das Stück bevor er diese Methode entwickelte hatte, also in einer Zeit, in der er der bühnenbildnerischen Opulenz durchaus noch zugetan war. Das sollte nicht auf die leichte Schulter genommen werden, denn selbst Brecht gestand 1941, dass ihm "Im Dickicht der Städte" (…) "fremd geworden" war. Es war mit den Prinzipien seiner didaktischen Methode nicht mehr vereinbar.

Zwei Vorgänge auf der Bühne waren dennoch von herausragender Bedeutung. Zum ersten war es der fulminante Schaumregen, in dem am Ende alles zu ersticken drohte. Die Bedeutung liegt dabei in der völligen Zusammenhangslosigkeit. War "Im Dickicht der Städte" eine Seifenoper? Gab es einen tieferen Sinn über die Quantität hinaus? Schaumschlagen weil es Zeitgeist ist?
Der zweite Vorgang spricht noch beredter von der Qualität der Inszenierung. Die einzige wirkliche Publikumsreaktion entstand, als eine chinesische Frau (Tina Chan) mit John Garga (Arnulf Schumacher) chinesisch redete. Es ist schon verwunderlich, wenn das Publikum erst dann reagiert, wenn es (sprachlich) nichts versteht. Zwei billige Effekte, die nichts mehr retten konnten. Es war ein läppische Inszenierung ohne verbindliche Bilder. In einem Interview sagte mir Karl Mickel einmal: "Wo keine Weltbilder mehr sind, da können auch keine Bühnenbilder mehr entstehen." Er war Brechtschüler.

Ein Blick nach nebenan hätte dabei hilfreich sein können. Im Volkstheater inszenierte Hans Neuenfels "Baal". Neuenfels hatte immerhin heraus gefunden, dass es Anarchisten wie Baal in Zeiten des allumfassenden Opportunismus nicht mehr gibt. Heute haben Rebellen eine Altersvorsorge oder sind schlimmstenfalls Hartz IV-Empfänger. Was ist heute an den Städten noch Dschungel?

Eines immerhin wird Frau Lanik mit Brecht gemein haben. Auch sie wird die Gage ungeniert kassieren.


Wolf Banitzki

 

 


Im Dickicht der Städte

von Bertold Brecht

Ulrike Arnold, Gabriele Dossi, Marina Galic, Barbara Melzl, Anne Schäfer, Peter Albers, Ulrich Beseler, Rainer Bock, Thomas Loibl, Wolfgang Menardi, Arnulf Schumacher und Sebastian Winkler

Regie: Tina Lanik

Residenz Theater Das Leben ein Traum von Pedro Calderón de la Barca


 

 

Alter Wein in neuem Schlauch

Ganz anders als Lope de Vega, der 38 Jahre ältere Dichterkollege, der seine Triumphe im Volkstheater feierte, war Calderon Staatsdichter. Als Ordensritter, Soldat seiner katholischen Majestät, Priester und Dichter - immer zum Ruhme Gottes, versteht sich - verkörperte der Mann einen Idealmenschen seiner Zeit. Bereits fünfunddreißigjährig wird Calderon von Philipp IV. mit der Leitung des Hoftheaters in Buen Retiro betraut. 108 Stücke hinterließ uns der Spanier, der zu den großen Theatermagiern seiner Zeit zählte. Sein Theater im Lustschloss von Buen Retiro war mit allen theatertechnischen Errungenschaften der Zeit ausgestattet und erlaubte große Illusion. Und damit ist auch schon der künstlerische Ansatz Calderons benannt: Für ihn stellt das Theater die Welt des Scheins dar! Doch Vorsicht, diese These bekommt einen ganz anderen Stellenwert, wenn man bedenkt, dass Calderon die Welt als ein von Gott inszeniertes Theater sah. Die Welt ein Traum, eine Illusion, eine künstlerische Inszenierung?

In "Das Leben ein Traum" beharrte er auf diesen Standpunkt. Der Ort der Handlung des Stückes ist der mittelalterliche königliche Hof Polens. Die Amtszeit von Basilius, König von Polen, angeblich kinderlos, neigt sich ihrem Ende. Neffe Astolf, Moskowiter und daher Fremder, und Nichte Estrella verhandeln über ein eheliches Arrangement, womit sie gemeinsam den Thron übernehmen könnten. Doch es gibt einen legitimen Thronfolger. Sigismund, Sohn von Basilius, wird seit der Geburt im Wald gefangen gehalten. Die Sterne sagten dem wissenschaftskundigen König voraus, dass Sigismund ein gewalttätiger Tyrann werden würde. Also hat man ihm der Obhut Clotaldos, enger Vertrauter des Königs, anvertraut. Zwei Reisende, die russische Edeldame Rosaura und ihr Begleiter Clarin verirren sich in den Wald, in dem Sigismund gefangen gehalten wird. Clotaldo erkennt in Rosaura seine leibliche Tochter, die ihrerseits unterwegs ist, um ihre Ehre bei Astolf einzufordern, der ihr die Ehe versprach.
König Basilius wagt ein Experiment. Er lässt den schlafenden Sigismund auf den Thron befördern, offenbart ihm die volle Wahrheit und lässt ihn regieren, um zu schauen, ob das Orakel Gestalt annimmt. Innerhalb von Stunden fließt reichlich Blut und man schafft Sigismund, wieder betäubt und ohnmächtig in sein Waldverlies zurück, wo man ihm erklärt, dass alles nur ein Traum war. Als das polnische Volk aufrührerisch Sigismund anstelle des fremden Moskowiters auf den Thron fordert, erscheint Sigismund, nun gewandelt, lauter und rein in seinem Bestreben, auch im Traum gerecht und menschlich zu sein. Die Lehre des Traums wird für Sigismund zum Handlungsmotiv: "Mit Bedacht und Vorsicht soll's geschehen; denn man wird uns vom Genuss (des Traums - Anm. W.B.) einst zur besten Zeit erwecken."
 
   
 

Oliver Nägele, Felix Rech, Lisa Wagner, Dirk Ossig

© Thomas Dashuber

 

 

Es ist ein berührendes Stück, das aufgrund seiner genialen Dramaturgie für alle Zeiten in den Spielplänen eingeschrieben sein wird. Calderon benutzt das Theater wie ein Labor und was daraus hervorgeht hat das Gewicht von Evangelien. Allein, seine Sicht auf die von "Gott geträumte Realität" ist überaus romantisch. Calderon, selbst von hohem seelischem Adel, forderte diesen theatralisch und sehr pathetisch ein. Das war denn auch der Grundtenor der Inszenierung am Münchner Residenz Theater. Obgleich die Übersetzung von Georg Holzer von dem Bemühen kündet, dem Stück ein wenig mehr heutige Bodenständigkeit zu verleihen, bleibt viel romantisierendes Pathos zurück. Nicht ohne Grund schwärmte Goethe über alle Maßen von Calderon und seinen Stücken. Hier trafen in der Tat zwei reinrassige Staatskünstler aufeinander. Dass die Neuinterpretation eines Calderonstückes revolutionieren kann, bewies immerhin die Inszenierung von "Der standhaft Prinz" von Jerzy Grotowski in Krakau 1965. Regisseur Alexander Nerlich, Jahrgang 1979, schien auf derartige Ambitionen nicht gezielt zu haben. Seine Inszenierung zeichnete sich in erster Linie durch das Fehlen von theatralischen Höhepunkten und deutlichen inhaltlichen Interpretationen aus. So wurde alter Wein nur im neuen Schlauch verkauft, will meinen: ein wenig bunter und peppiger. Doch das reichte nicht aus, um das Publikum nachhaltig für Calderon zu erwärmen. Anders als bei Lessings "Philotas", den Nerlich im Marstall nur eins zu eins auf die Bühne bringen brauchte, weil das Thema brandaktuell und die Botschaft überzeugend war, hätte es hier schon einiger neuer Sichtweisen bedurft, um das Stück aus der Klassikergruft zu heben.

So wenig überzeugend wie die Regiearbeit, so wenig überzeugend waren denn auch die schauspielerischen Leistungen. Laut wurde deklamiert, nicht unbedingt verständlich, aber laut und sehr pathetisch. Es hatte über längere Strecken etwas von Wiener Burg anno 1950. Oliver Nägele gab einen selbstzerfleischten König, dessen "Gejammer" nie wirklich königliche Klage war. Helmut Stange als Clotaldo wurde mehr als einmal vom Reim seines Textes überholt. Und Felix Rech als Sigismund wirkte häufig wie unter einer Überdosis - von was eigentlich? Von Leiden über sein gestohlenes Leben oder von der Machtfülle als König? Einen Unterschied konnte man leider nicht ausmachen. Anna Riedl gab eine Estrella, die mit all dem scheinbar kaum etwas zu tun hatte, viel Augenaufschlag und wenig Inhalt. Als sie dann auch noch einen Ausbruch hatte, wurde es nicht nur peinlich, sondern gänzlich unverständlich. Wenn überhaupt Schauspieler ihrem guten Ruf gerecht wurden, dann waren es vielleicht Lisa Wagner (Rosaura), deren Naturell nicht zu unterdrücken ist, und Stefan Wilkening als Clarin. Sie entsprachen am ehesten dem, was man in ihren Rollen erkennen konnte.

Es war eine banale Inszenierung, die den Staub nicht aus dem Gewand Calderons klopfen konnte. Und wenn sie überhaupt der Erwähnung wert ist, dann wegen der guten Bühnenmusik von Rudolf Gregor Knabl, die exzellent auf das Bühnenbild von Gisela Goerttler abgestimmt war. Wenn sich der polnische Königshof unter sphärischen Klängen in die Wahrnehmung des Betrachters schiebt, wird deutlich, zu welcher Illusion Theater fähig ist. Allein, mit Bühnentechnik kann man nur begrenztes leisten. Bleibt noch anzumerken, welche Moral im Raum stehen bleibt, weil Alexander Nerlich und die Seinen Calderon nicht aufgehoben und weiter getragen haben: Es ist die des katholischen Theologen, für den der Traum des Lebens mit dem Erwachen im Tod und somit in Gott endet. Selbst wenn dem Menschen ein freier Wille zugestanden wird, hat er doch den Richtspruch Gottes beim Erwachen zu fürchten. Andere Interpretationsmöglichkeiten sind frommer Wunsch, niedergelegt im Programmheft. Fazit: Es lebe die mittelalterliche Mystik!
 
 
Wolf Banitzki

 

 


Das Leben ein Traum

von Pedro Calderón de la Barca

Anna Riedl, Lisa Wagner, Oliver Nägele, Dirk Ossig, Felix Rech, Helmut Stange, Stefan Wilkening und Eike Jon Ahrens, Dennis Herrmann, Martin Liema

Regie Alexander Nerlich

Residenz Theater Moliéres Misanthrop in der Fassung von Botho Strauß


 

 
Die Inszenierung mit dem "Pling"

Selten wurde in einem Theaterstück die Welt so deutlich in Schwarz-Weiß gezeichnet wie in Molières "Le Misanthrope" und selten kam ein Dichter der Wahrheit über das menschliche Wesen damit so nahe. Dabei ist das Stück nur eines aus dem Katalog der Laster, den der französische Dichter für die Nachwelt in aller Verbindlichkeit, wie die Spielpläne dieser Welt beweisen, verfertigte. Die Frage, warum die Stücke Molières so wirkungsvoll sind, beantwortete ein anderer großer Franzose: Jean Anouilh. "Dank Molière ist das wahre französische Theater das einzige, wo man nicht die Messe liest, sondern wo man lacht wie die Männer im Krieg - die Füße im Schmutz, die warme Suppe im Bauch und die Waffe in der Hand - über unser Elend und über unser Entsetzen."

Molière schuf mit seinem Alceste einen Menschen, der in seinem Anspruch nicht unter dem höchstmöglichen Ideal bleiben wollte, und stellte den "Rest der Menschheit" damit in ein unerträgliches Spannungsfeld. Der Ansatz, obgleich im Text auf überzeugendste Weise konkret, war ein philosophischer. Und genau darin unterschied sich der Dichter, wie Voltaire festhielt, von seinen Zeitgenossen: "Molière hatte Corneille, Racine und La Fontaine das Verdienst voraus, Philosoph zu sein." Kurioserweise strebte Molière gar keinen philosophischen Exkurs über das menschliche Wesen an. Dieses Stück war vielmehr eine ironische Selbstreflexion, in der Molière, im Leben wie auch auf der Bühne, den Alceste verkörperte und in der seine kokette Ehefrau Armande Béjart die Célimène gab. Molière liebte die Frau, die ihm unentwegt Hörner aufsetzte.
 
   
 

Anne Schäfer, Juliane Köhler, Matthias Lier, Jens Harzer, Mark-Alexander Solf, Marina Galic, Dirk Ossig, Thomas Loibl

© Thomas Dashuber

 

 

Nun wurde dem Publikum nicht der reine Molière zur Anschauung gebracht, sondern "Molières Misanthrop" in der Fassung von Botho Strauß. Das ist beileibe nicht dasselbe und bedarf einiger Anmerkungen. Botho Strauß erschien Anfang der 1970er Jahre am Theaterfirmament. Peter Stein hatte sich gerade angeschickt, mit der Inszenierung der Klassiker gleichsam Kritik an den Klassikern zu üben. Die erste Zusammenarbeit war die Inszenierung der Strauß-Fassung von Ibsens "Peer Gynt". Die Theatergeschichte nennt es einen Geniestreich und verweist auf die von Strauß entwickelte besondere Perspektive. Georg Hensel formulierte es wie folgt: "Der Zuschauer wurde in eine Distanz gerückt, die ihn durch die Komik des Antiquierten, durch die vorgetäuschte Einfalt der Darbietung bezauberte und die ihn zugleich zur kritischen Beurteilung der Vorgänge anregte - die Lust am Spiel und die Lust des Denkens fielen zusammen." Auf Strauß geht der Begriff "Neue Sensibilität" zurück, die nichts anderes bedeutet, als die Emotionalisierung des politischen Agitations- und Belehrungstheaters.

Dass dieser Text jeden enthusiasmiert, der Theater liebt, steht außer Frage. Im Residenz Theater verführte er nun den Chefdramaturgen Hans-Joachim Ruckhäberle zu einem Ausflug ins Fach Regie. Und da Dramaturgen vornehmlich dem Text huldigen, wurde es denn auch eine äußerlich recht karge Geschichte. Stefan Hageneiers Bühnenbild verdiente diese Bezeichnung kaum. Es war vielmehr ein Torso, die Andeutung eines Bühnenbildes. Ein schwarzer Vorhang begrenzte die Bühne im Hintergrund bis auf die halbe Höhe. Davor wurden Stühle arrangiert. Aus den Arrangements wurde nur selten deutlich, um welchen Ort es sich handelte. Der Salon Célimènes war erahnbar, wenn sich die Gesellschaft um sie scharte. Man spielte im freien Raum, eher unverbindlich, und eine konkrete Suggestion von Ort und Zeit blieb aus. Die Szenenwechsel erfolgten jeweils nach einem eindringlichen "Pling". Auf- und Abgänge, die leider nur Auf- und Abgänge waren, entzauberten so die wenigen Anflüge von Atmosphäre. Überhaupt fehlte der Inszenierung dieses Stücks, das sich für die hemmungslose Spielart der Commedia dell'Arte geradezu empfiehlt, die Sinnlichkeit. "Die Lust am Spiel und die Lust des Denkens fielen", um es mit Hensel zu sagen, leider nicht "zusammen".

Allein, der Text von Strauß erwies sich als unverwüstlich und trug über die zwei Stunden hinweg. Hinzu kam die Besetzung, die besser kaum sein konnte. Jens Harzer brachte als Alceste überzeugend "die vorgetäuschte Einfalt der Darbietung" ein, von der die Strauß-Texte leben. Genau dieser Aspekt ist ein ausgeprägtes Mittel in Harzers darstellerischem Repertoire. Die daraus resultierende, häufig sehr überraschende Komik war nie zweidimensional. Marina Galics Célimène hingegen erschien sehr zurückgenommen, geradezu defensiv. Damit betonte Regisseur Ruckhäberle einen Aspekt, der als "soziales Handeln" verstanden werden soll. Dieses soziale Handeln ist verbunden mit Ängsten und Zwängen, den bestmöglichen Effekt im sozialen Kontext zu erzielen. Leider rückte die Darstellerin damit in den Schatten des von unwidersprochener Komik schäumenden Jens Harzer.

In Molières Vorstellungen sollte das Stück unentschieden enden. Der in seiner ideellen Maßlosigkeit verhaftete Alceste wurde ebenso der kritischen Bewertung des Zuschauers anempfohlen wie die Verkommenheit der Gesellschaft. In der Residenz Theater-Inszenierung vermag jedoch kaum eine Figur wirklich gegen den von Harzer gestalteten Alceste zu bestehen. Thomas Loibl brillierte mit wenigen Gesten und einer verhaltenen Mimik als Oronte, Gegenspieler des Alcestes. Als hochgradig karikierten Protagonisten des eitlen, selbstverliebten, dümmlichen Möchtegernpoeten agierte er allerdings in einem ganz anderen komödiantischen Fach. So gewann Harzer mit den Argumenten des Alcestes eine gewaltige Übermacht.

Dabei verbirgt sich im Stück von Molière/Strauß eine überzeugende, weil menschliche Lösung. Wenn sich Philinte, Alcestes Freund (Mark-Alexander Solf), und Éliante, Célimènes Cousine (Anne Schäfer), zum ewigen Bund in die Arme stürzten, bewiesen sie eine Einsicht, zu der Alceste in seiner selbstverliebten Verbohrtheit nicht gelangte. Es ist die fehlende Einsicht in Tatsache, dass einige menschliche Schwächen unausrottbar sind. Bei Ruckhäberle hatte diese Schlüsselszene eher marginalen Charakter. So blieb der Geschmack von einem unbeugsamen Heroismus zurück, als Jens Harzer verkündete: "Ich will mir ein Stück Erde suchen, weit entfernt, wo man die Freiheit hat, so ernst zu sein, wie man muss."


Wolf Banitzki

 

 


Moliéres Misanthrop

in der Fassung von Botho Strauß

Sibylle Marina Galic Juliane Köhler, Anne Schäfer, Jens Harzer, Matthias Lier, Thomas Loibl, Dirk Ossig, Mark-Alexander Solf, Fred Stillkrauth

Regie: Hans-Joachim Ruckhäberle

Residenz Theater Der Gott des Gemetzels von Yasmina Reza


 

 

"Die Kunst des zivilisierten Umgangs" und ihre Folgen

Ferdinand hat Bruno, beide elfjährig, mit einem Stock zwei Zähne ausgeschlagen. Véronique und Michel, Eltern Brunos, haben Annette und Alain, Eltern Ferdinands, zu sich in die Beschaulichkeit gutbürgerlichen Wohnens eingeladen, um diesen "bestialischen Akt" vermittels der "Kunst des zivilisierten Umgangs" gütlich beizulegen. Das Stück beginnt mit dem Abfassen einer gemeinsamen Erklärung. Die immer wieder beschworene "Kunst des zivilisierten Umgangs", eine Chimäre, wie sich sehr schnell herausstellt, geht alsbald in Kotz-, Schrei- und Bezichtigungsorgien unter. Das Ende liegt auf der Hand.

Es handelt sich bei Yasmina Rezas Stück um eine unterhaltsame und überaus witzige Komödie, die Dieter Dorn mit sehr viel Feingefühl und hemmungsloser Situationskomik in Szene setze. Dabei kann getrost ignoriert werden, dass die Grenze des Klamauks in bedrohliche Nähe rückte, denn Theater soll auch wider den tierischen Ernst unterhalten. Jürgen Rose, der für Bühne und Kostüme verantwortlich zeichnete, mied die große Illusion. Ein Prospekt vom Bühnenhintergrund vor dem Bühnenhintergrund ließ klar und deutlich erkennen, hier findet Theater im Theater statt. Er platzierte an der Rampe ein Podest, das die Maße des Houilléschen Wohnzimmer vorgab. Auf diesem Laboratoriumsplateau befand sich nur das Unvermeidliche, vier Sitzmöbel, ein Tisch, einige Stapel Kunstbücher und zwei Vasen mit üppigen Sträußen weißer Tulpen.
 
   
 

Sibylle Canonica, Michael von Au, Sunnyi Melles, Stefan Hunstein

© Thomas Dashuber

 

 

Die gutbürgerliche Beschaulichkeit wandelte sich bereits nach den ersten Worten zum Schlachtfeld. Véronique, Schriftstellerin, die, wie ihr Mann wissen ließ, auch arbeite, halbtags, war augenscheinlich Initiatorin dieses Zusammentreffens. Sibylle Canonica war eine Idealbesetzung für die Rolle der emanzipierten Frau, deren geistiger Horizont bis zu den Massakern von Darfur reichte. Engagiert bis zur schmallippigen Verbissenheit, propagierte sie die Werte der westlichen Zivilisation, zu der sie sich glücklich zugehörig fühlte. Ihr Ehemann Michel, Großhändler für Sanitäranlagen und Küchenbedarf, war in seiner geistigen Orientierung weniger hochfliegend. Michael von Au brillierte in der Rolle des bodenständigen Kleinbürgers, dem ein zwölfjähriger Rum näher war als die Aufrechterhaltung des Kantschen Moralprinzips. Sunnyi Melles fungierte in der Rolle der Annette als Katalysator für den schnellen Fortgang des "zivilisatorischen Verfalls". Eingangs sehr naiv und komisch fragend, brachte sie nach einer Kotzorgie auf Beckmann und Bacon (Insignien der Kultiviertheit) die Dinge mit zunehmendem Alkoholpegel brachial auf den Punkt: Alles war nur Fassade, Verlogenheit! Der wahre Gegenspieler zu Véroniques zivilisiertem Umgang war jedoch Alain, Eheman Annettes, Anwalt seines Zeichens. Verstrickt in die inhumanen Machenschaften eines Pharmakonzerns, rief er dann in höchster Not den "Gott des Gemetzels" aus. In schlichter Übersetzung: Jeder gegen jeden. Was Stefan Hunstein in dieser Rolle leistete, war höchste Schauspielkunst.

Das Publikum bedachte diese Inszenierung mit begeistertem, nicht enden wollendem Lob. Es bleibt zu hoffen, dass dieses Lob der Leistung der Schauspieler und der Regie galt. Das Thema des Stücks sollte doch eigentlich betroffen machen, denn dieses war "(…) ja die grandios gedankenlose Schlampigkeit, mit der man die Fragen des Zusammenlebens unter gebildeten Menschen behandelt, je nach Moment und Empfindlichkeit beantwortet und das Ergebnis des Versuchs, vor sich und den anderen eine gute Figur zu machen, (…)." (Rolf Schröder im Programmheft)

Immerhin, das Theater fungierte ohne Zweifel als Spiegel der Gesellschaft. Fragt sich nur, ob die Wucht der künstlerischen Qualität derartige Überlegungen auch zuließ. Das Stück von Yasmina Reza ist unbestritten eine sensitive Höchstleistung. Doch ist die fatalistische Starre, in der sich die Figuren am Ende wieder finden auch dazu angetan, kathartisch zu wirken? Wohl kaum, denn es ist erklärtes Credo der Autorin, dass `Engagement für den Bürger, nicht aber für den Schriftsteller Sinn macht`. Wie soll der Bürger zu den Horizont erweiternden Schlüssen kommen, wenn sich die Autorin solchen notwendigen Schlüssen verweigert.

Für die Botschaft wird beschränkt gehaftet, was an die ökonomische Einrichtung "GmbH" erinnert: "Seine Botschaft (die des Stücks - Anm. W.B.) liegt darin, dass es vor der Verlockung des poetischen Fundamentalismus so wenig wie vor den aufgeregten Übertreibungen der Kolportage kapituliert. Das Stück sucht die Punkte heraus, an denen der Eifer für eine gute Sache ins Pharisäische umkippt, ohne dem Exzess des egoistischen Gens zu applaudieren." (Rolf Schröder im Programmheft) Fraglos leistet dies Stück nicht weniger, aber bestimmt auch nicht mehr. Aber, und diese Frage muss erlaubt sein, wird mit der Formulierung "Verlockung des poetischen Fundamentalismus" nicht auch jede Form von Vision vorab disqualifiziert und verhindert?

Was im Münchner Residenz Theater so frenetisch beklatscht wurde, war die Bankrotterklärung der bürgerlichen Gesellschaft, in der sich die Zuschauer mehr oder weniger gut eingerichtet haben. Selten gab ein Satz in einem Programmheft, in dem von Kant bis Sloterdijk intellektuell hochfliegend zitiert wird, so deutlich Auskunft über den Charakter eines Stücks. Dieser Satz stammt von Hans-Joachim Ruckhäberle, einem Dramaturgen, dem Popper anempfohlen sei, der sinngemäß meinte: Wenn man die Dinge nicht klar und deutlich artikulieren kann, sollte man schweigen und lernen, die Dinge klar und deutlich zu sagen. Chefdramaturg Rückhäberle fasste zusammen: "Le dieu du carnage, der Gott Gemetzels, den Alain im Stück anruft, ist nicht die antibürgerliche Provokation der künstlerischen Avantgarde, sondern die Verneinung der Entwicklung des Menschen an sich."

Diese "Verneinung der Entwicklung des Menschen an sich" wird dem Residenz Theater ausverkaufte Vorstellungen garantieren, womit sich der Kreis des vom Geld regierten Menschen wieder schließt.

 

Wolf Banitzki

 

 

 

Der Gott des Gemetzels

von Yasmina Reza

Deutsch von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel

Sibylle Canonica, Sunnyi Melles, Michael von Au, Stefan Hunstein

Regie: Dieter Dorn

Residenz Theater Romeo und Julia von W. Shakespeare


 

 

Was Sie schon immer über Liebe wissen wollten, sich aber nicht …

Jetzt ist es raus! Bei der Liebe geschieht "im Hirn genau dasselbe wie bei einem psychiatrischen Wahn. Als psychobiologische Abfolge." (…) "Die Liebe ist ein Wahn mit Realität.", so Prof. Dr. Eckart Rüther, ehemaliger Leitender Oberarzt an der Psychiatrischen Klinik der Universität München und Professor für Psychiatrie an der Universität Göttingen und, und, und - also eine echte Kapazität. Auf die Frage, "Welche Prognose geben Sie als Psychiater dieser Paarbeziehung (die von Romeo und Julia - Anm. W.B.)?", antwortete Herr Rüther: "Die funktioniert nicht. Nie! Deswegen ist Shakespeare auch so klug, wenn er diesen Tod erfindet. Weil diese Liebe nicht möglich ist. Das, was die beiden sich voneinander erwarten, wird niemals in Erfüllung gehen. Nie. Und das würden sie nicht verkraften. Lieber sterben sie vorher." (Zitat Programmheft zur Inszenierung am Residenz Theater)

"Lieber sterben sie vorher." - Lieber? Man kann sicherlich eine Menge hineindeuten in die überspannte Psyche der beiden Liebenden, Julia ist mit dreizehn Jahren immerhin noch pubertierend, doch gewiss keine echte Todessehnsucht. Wo bliebe schließlich die herzanrührende Tragik, wenn die Todesfolge Vorsatz gewesen wäre? Und das weiß auch Herr Rüther besser, denn immerhin verdient er seine Brötchen damit, Menschen wie Romeo und Julia zu helfen. Also: "Wenn Romeo und Julia zu mir (Herrn Rüther - Anm. W.B.) als Paartherapiepatienten kämen, dann würde ich ihnen sagen: ‚Jetzt bringt mal diese beiden Eltern her, und dann versuchen wir mal, mit denen zu sprechen.' Die beiden Eltern würden nicht kommen, dann wären die beiden wieder allein. Dann würde ich ihnen sagen: ‚Hört mal, jetzt versuchen wir, innerhalb von einem Jahr zu schauen, ob eure Liebe noch trägt. Wir machen soviel Geheimnis drum herum, wie möglich. …"

   
 

Felix Rech, David Rott, Wolfgang Menardi, Shenja Lacher

© Thomas Dashuber

 

 

Wie? Sie fragen sich, was das mit Theater und mit Shakespeare und mit Romeo und Julia zu tun haben soll? Sie sind sich sicher, dass Sie in diesem Zusammenhang nicht erfahren wollen, dass es sich bei Liebe um ein Aha-Erlebnis, um einen "Übersprung in ihrem Zentralnervensystem" handelt, "in dem sie wissen und unkorrigierbar festhalten, dass der andere der Richtige für sie ist"? Ja, wie sind sie denn bisher überhaupt durchs Leben gekommen? Auch wenn ich es selbst nicht recht verstehe, es muss was mit Theater zu tun haben, sonst würden diese psychiatrischen Auslassungen nicht ein ganzes Programmheft füllen. Es mag auch sein, dass sich darin durchaus kluge und wissenswerte Gedanken finden. Immerhin weist ein Programmheft zumeist auch ein paar Pfade auf, die die Regie zu gehen versucht, und das kann durchaus hilfreich für das Verstehen einer Inszenierung sein. Im Zusammenhang mit der "Fleischwerdung" auf der Bühne des Residenz Theaters wird der Zuschauer diese Pfade vergeblich suchen.

Nüchtern betrachtet ist dieses Rührstück wahrlich nicht das stärkste, wenngleich wohl das populärste des Engländers. Ein Beweis für die Trotzdem-Popularität ist der berühmte Balkon in Verona, der der Tourismusindustrie Vorort viel Geld beschert, obgleich er weder etwas mit Romeo und Julia, noch mit Shakespeare zu tun hat. Hier wabert der Kitsch, den das Drama auch(!) auslösen kann.
Der Plot des Stückes, nämlich der tragische Tod der beiden Liebenden basiert zudem auf der Verhinderung einer Botschaft in Folge einer Seuchenquarantäne. Keinem anderen Dichter hätte man diese Waghalsigkeit, - oder auch Einfallslosigkeit durchgehen lassen.
Und dann gibt es schließlich noch so etwas wie einen "Ohrwurm" im Text, der sogar bei Mitmenschen ohne gesteigertem Theaterinteresse haften bleiben kann: "Es war die Nachtigall und nicht die Lerche, die eben jetzt dein banges Ohr durchdrang;" (Übersetzung A. W. von Schlegel)

Es ist eine ziemlich aufgeblasene Geschichte, die einen menschlichen Wunschtraum, nämlich die Liebe bis in den Tod (nicht gegen den Tod!), bedient und die nebenher auch etwas über wahnhafte Feindschaft erzählt. Dabei war es die sprachliche Genialität, die diesen Text in die erste Liga der dramatischen Literatur katapultierte. Hinzu kommt das Jahrhunderte lange Bemühen von jungen und gelegentlich auch älteren Schauspielern, die Herzen mit dieser Geschichte erfolgreich zu rühren.

Allein, im Residenz Theater bringt man dem Zuschauer eine Übersetzung von Thomas Brasch zu Gehör. Übersetzungen von Brasch zeichnen sich in erster Linie durch Vulgarität aus, die es in Shakespearetexten durchaus gibt, die aber von Brasch überbetont und zelebriert wurde. Brasch ist starker Tobak, eine Provokation an sich.

Tina Lanik zog dann auch recht mutig vom Leder. Oder zumindest glaubte sie das. Textlich gab es keine Hemmungen und viele "Ärsche und Titten und Schwänze" besiedelten phonetisch die Szene. Pech hatte der Zuschauer, der für derartige Auslassungen nicht aufgeschlossen war. Für den wurden die drei und eine Viertel Stunde verdammt lang. Auch wer nicht unbedingt auf Action stand, hatte schlechte Karten. Der Kampf zwischen Mercutio (Felix Rech), Tybald (Wolfgang Menardi) und Romeo (David Rott) nahm viel Raum und auch Zeit in Anspruch. Alle involvierten Darsteller vollbrachten physische Höchstleistungen, wofür sie vom Publikum am Ende belohnt wurden. Es hatte allerdings etwas von einer Sportveranstaltung. Mercutios Tod war dann auch opernreif. Fast hätte man ihm zurufen mögen: Bleib endlich liegen!

Die zweite Schlüsselszene war die 5. Szene im 3. Akt, jene bereits erwähnte mit Nachtigall und Lerche. Bühnenbildnerin Magdalena Gut hatte eine riesige schräg stehende Spiegelwand eingerichtet, die im sanften Spot das nackte Liebespaar nach der Hochzeitsnacht in vollendeter Schönheit abbildete. Hier wurde viel Aufwand für einen sich in Grenzen haltenden Effekt getrieben. Das restliche Bühnenbild, erst Schaukasten, später erweitert auf eine zweite höhere (Balkon-) Ebene, hatte den Charme einer halbfertigen Ikea-Anbauwand.

Zwei Figurenpaare standen seit Anbeginn für den Erfolg des Stückes. Das erste ist selbstredend Romeo und Julia. David Rott überzeugte in seiner Darstellung nicht wirklich. Er blieb weitestgehend farblos, gestaltete seinen Part ordentlich - mehr nicht. Ein glücklicher Umstand war die Besetzung der Julia mit Lisa Wagner. Sie ist eine unverwüstliche Darstellerin, die sich mit ihrer sprachlichen und gestischen Gestaltungskraft über jedes Regiekonzept (wenn den eins sichtbar wird) hinweg zu setzen vermag, wenn ihre künstlerische Intention ihr dies abverlangt. Das zweite Paar von überragender Bedeutung im Stück ist die Amme und Bruder Lorenzo. Die Amme wurde von einer recht blassen und wenig präsent wirkenden Elisabeth Schwarz gegeben. Die Frau, die lustvoll Intrigen spinnt und aus dem Stand die Fronten wechseln kann, ist ein Garant für Menschlichkeit in einer Geschichte, deren Zentrum eine idealisierte und übermenschliche Liebe ist. Frau Schwarz konnte der Geschichte ihren Stempel nicht aufdrücken. Robert Joseph Bartl erfuhr geradezu eine Vergewaltigung. Man hatte ihn mit einer Fettleibigkeit ausgestattet, die es ihm nicht ermöglichte sich gefahrlos zu bücken, noch differenziert körperlich zu gestalten. Was hatte Frau Lanik im Sinn? Dieser Bruder Lorenzo, dem nichts Menschliches, also auch nichts Sinnliches fremd ist und der gerade aus diesem Grund einen gesunden Geist repräsentiert, war zu einem McDonalds-Fettmonster degeneriert.

Jörg Hube und Beatrix Doderer zeichneten sich in ihren Rollen als Herr und Frau Capulet vornehmlich durch Lautheit und Grobschlächtigkeit aus. Wenn man dem Programmheft Glauben schenken darf, ging es in dieser Inszenierung auch um Psychologie. Die jedoch blieb deutlich auf der Strecke. Überhaupt war schwer nachvollziehbar was diese Inszenierung bewirken wollte. Vermutlich versuchte Tina Lanik einen Spagat zwischen intellektueller Analytik und tabuloser Sinnlichkeit. Wenn man der Inszenierung eines mit Sicherheit bescheinigen kann, dann ist es das Fehlen von Sinnlichkeit. Mit großem Aufwand wurden Emotionen dargestellt, jedoch keine erzeugt. Und das wäre die Kunst gewesen, auf die der Zuschauer ein Anrecht hat.

Wolf Banitzki

 

 

Romeo und Julia

von W. Shakespeare

Übersetzung Thomas Brasch

Beatrix Doderer, Elisabeth Schwarz, Lisa Wagner, Robert Joseph Bartl, Jörg Hube, Shenja Lacher, Hannes Liebmann, Matthias Lier, Wolfgang Menardi, Felix Rech, David Rott

Regie: Tina Lanik
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