Teamtheater Tankstelle ... und unseren kranken Nachbarn auch von Sascha Schmidt




Eins und Eins ist Eins

(…)
Wollst endlich sonder Grämen
Aus dieser Welt uns nehmen
durch einen sanften Tod!
(…)
Verschon uns, Gott! mit Strafen,
Und laß uns ruhig schlafen!
Und unsern kranken Nachbarn auch!

Matthias Claudius (1740 - 1815)

Mit "unseren kranken Nachbarn" spielt Autor und Regisseur Sascha Schmidt auf den "Kannibalen von Rothenburg", wie die Presse Armin Meiwes titulierte, an. Im März des Jahres 2001 hielt die Aufklärung des Falles das ganze Land in Atem. Erschütterung und tiefe Betroffenheit machte sich breit und der "normale Bürger" fragte sich, wie ist so etwas möglich? Die Medien leisteten wenig oder gar nichts zur Aufklärung der Hintergründe und so blieb die Geschichte eine unerhörte und exotische in unser ach so zivilisierten Gesellschaft.

Sascha Schmidts Arbeit hingegen gab Aufschluss. Er zeichnete zwei in sich sehr geschlossene Psychogramme, das des Täter und das des vermeintlichen Opfers, und bewies, dass die Tat wider alle Erwartung durchaus gesellschaftlich determiniert und gar nicht so abwegig war. Das Reizwort Kannibalismus verlor durch die Darstellung Michael Gabels sehr schnell seinen Reiz. Spätestens, wenn er Jesus zitiert, "esst das Brot, es ist Fleisch von meinem Fleisch und ich werde in euch sein und ihr werdet in mir sein…", eröffnet sich eine neue Dimension.

Armin Meiwes, ein vereinsamter Mensch, sehr mutterorientiert, war auf der Suche nach einer absoluten Form der Liebe, die er in einer Formel auf den Punkt brachte: 1+1=1. Er war ein Romantiker, dessen sexuelle Fantasien sich verselbständigt und ins Abnorme verstiegen hatten. Völlig bindungslos zu seiner Umwelt suchte er die letzte Konsequenz, das Einswerden mit einem anderen Menschen. Das Bild ist archaisch, man denke nur an Penthesilea.

 


Michael Gabel

© Marion Dobberke


Das vermeintliche Opfer wollte dasselbe und meinte doch etwas anderes. Es suchte nicht die Vereinigung, sondern das blutige Fanal. Der Narziss, in der Realität war er ein Körperfetischist und Sportfanatiker, wollte mit diesem finalen Akt sich und der Welt seine absolute Freiheit verdeutlichen. Er benutzte Meiwes, zwang ihn geradezu zu dieser Tat. Eine fatale Konstellation. Wer will darüber richten? Wer kann darüber richten?

Und dabei handelt es sich nicht um einen Einzelvorgang, wie der Regisseur im Gespräch verriet, sondern um ein gesellschaftliches Phänomen. Seine Recherchen ergaben, dass es inzwischen kannibalistische Fanclubs gibt. Im Internet findet eine Meiwes Verehrung statt. Sascha Schmidt berichtete von illegalen "Fight-Clubs" in denen Menschen töten, den Tod riskieren oder ihn sogar suchen. Spätestens hier müsste deutlich werden, dass die Gesellschaft nicht mehr das Bindeglied ihrer Individuen ist.
Die ästhetische Herangehensweise der Regie war schlüssig und gelungen.
Die weißen Schlachthausfolien von Bühnenbildner Thomas Preikschat wurden zu Projektionsflächen, auf denen Opfer und Täter jeweils Täter und Opfer ergänzten. Vielmehr fand sich nicht auf der Bühne, ein Kinderstuhl, ein Kindertisch und eine monströse Waschmaschine, die uns sagte, man kann alle Spuren tilgen.

Michel Gabel gestaltete beide Rollen, wobei der Widerpart jeweils per Video präsent war. Das erhöhte den dokumentarischen Charakter der Inszenierung. Die aufwendige Arbeit funktionierte perfekt und die Fiktion wurde bedrückend realistisch. Gabel unterschied die Figuren so prägnant, dass ein Blick ins Programmheft notwendig wurde, um sich davon zu überzeugen, ob es tatsächlich ein und derselbe Schauspieler. Die frappierende Ähnlichkeit zu Armin Meiwes war, wie der Regisseur beteuerte, zufällig.

Der Zuschauer erlebte einen Abend, der sehr nachdenklich machte. Wo steht diese Gesellschaft, dass der einzelne Mensch über alle moralische Maßstäbe hinweg so entartet? Es ist wohl in erster Linie das Fehlen eines humanistischen Wertesystems, das die Menschen untereinander verbindet. Gepriesen wird der Individualismus, der keiner Ethik mehr folgt. Ethik setzt idealistisches Denken voraus und Idealismus wird heute sogar schon in den Medien belächelt, weil er nicht den Vorgaben der pekuniären Welt folgt. Ein Idealist kann es nicht schaffen! Was schaffen?

Matthias Claudius war noch erfüllt von dem Idealismus, der Mensch möge Mensch werden. Büchner lässt seinen Woyzek zwei Dezennien später sagen: Der Mond ist wie ein blutig Eisen! Und heute…?


Wolf Banitzki

 

 


... und unseren kranken Nachbarn auch

von Sascha Schmidt

Die Geschichte eines Kannibalen

Michael Gabel

Regie: Michael Gabel, Sascha Schmidt

Teamtheater Tankstelle Die Stühle von Eugéne Ionesco




Tragische Heiterkeit garantiert!

"Unglückliches Beginnen: von der Anhäufung … (von) Wortleichen erdrückt und von den Automatismen der Konversation abgestumpft, erlag ich beinahe dem Ekel und einer unnennbaren Traurigkeit, einer nervösen Depression und einer richtigen Erstickung. Trotzdem konnte ich die mir selbst gestellte unsinnige Aufgabe zu Ende führen. Ein junger Spielleiter, in dessen Hände dieser Text ganz zufällig geriet, hielt ihn für ein Theaterstück und führte ihn auf." (Eugène Ionesco in "Arts" 1956) Es wurde kein Erfolg, diese erste Aufführung von "Die kahle Sängerin". Erst sieben Jahre später, 1957, in der Inszenierung von Nicolas Bataille, war dem Stück der Durchbruch beschieden. Ionesco selbst gab vor dem kleinen "Théâtre de la Huchette" im Quartier Latin den Anreißer, wie es bei den zwielichtigen Etablissements üblich ist. Für den theaterliebenden Parisreisenden ist der Besuch des 80 Plätze zählenden Theaters ein Muss, denn dort kann sie oder er noch immer die Uraufführungsfassungen von "Die kahle Sängerin" und "Die Unterrichtsstunde" bewundern.

Mit "Die kahle Sängerin" drang ein neuer Begriff in das gesellschaftliche Bewusstsein: "Antitheater". Dieser Begriff ist eben so irreführend, wie die Bezeichnung "Absurdes Theater" falsch ist. "Antitheater" meint nicht "Gegen das Theater", sondern anderes Theater als beispielsweise das didaktische Theater von Brecht. Falsch ist der Begriff "Absurdes Theater", weil das Theater nicht absurd ist, sondern weil es die Absurditäten des Daseins zum Gegenstand hat. Folglich heißt es richtig: "Theater des Absurden". Es wäre schön, wenn sich dieser nicht unbeträchtliche Unterschied im Bewusstsein durchsetzen würde. Diese Einsicht könnte doch ein besseres Verständnis vom Geschehen auf der Bühne befördern.

"Die Stühle", eine tragische Farce, erlebte 1952 im Théâtre du Nouveau Lancry in Paris das Licht der Bühne und fiel durch. Erst 1956 erreichte es den Zuschauer, nachdem Jean Anouilh das Drama im "Figaro" mit den Worten rühmte: "Ich glaube, es ist besser als Strindberg, weil es einen ‚schwarzen Humor' à la Molière hat, auf eine manchmal irre komische Art, weil es entsetzlich, drollig, ergreifend, immer wahr ist und weil es (…) klassisch ist."

 

Ludo Vici, HP Trauschke

© Stephan Rumpf


Das Stück erzählt die Geschichte zweier Alten, die die gesamte Menschheit zu einer Abendgesellschaft eingeladen haben. Unentwegt läutet die Türglocke und man schafft eifrig unzählige Stühle herbei, auf denen die unsichtbaren Gäste Platz nehmen. Man macht einseitig Konversation mit den Erschienen und kündigt die große Rede an, die Aufschluss geben soll über die noch ungeklärten Fragen des Daseins. Allerdings bleibt diese einem Redner vorbehalten, der sich schließlich als taubstumm entpuppt und dessen schriftliche Niederlegungen unleserlich sind. Noch ehe die Rede stattfindet, stürzen sich die beiden Alten aus dem Fenster.

Was sich in der einstündigen Vorstellung im Teamtheater Tankstelle abspielte, kann getrost als theatralisches Ereignis gewertet werden. Selten bekommt man ein Stück von Ionesco so glaubhaft, so suggestiv, so hochartifiziell aufgelöst geboten. HP Trauschke, der für die Regie verantwortlich zeichnete, und Ludo Vici transkribieren Absurditäten und Sinnentleerungen in eine Körpersprache, die deutlicher kaum sein kann. Es ist die physische und sprachliche Komik, die den Zuschauer unablässig davon abhält, das Unverständliche verstehen zu wollen, um so am Ende unerschütterlich zu wissen, wie absurd große Teile unseres Denkens und Handelns sind. Gerade an dieser Stelle wird deutlich, wie wichtig es ist, den Unterschied zwischen "Absurdes Theater" und "Theater des Absurden" verstanden zu haben, denn schließlich wirkt nur letzteres aufklärend.

HP Trauschke schuf eine Bühne, die durch eine Ersetzung von Stühlen durch Obstkisten einen starken Kunstraumcharakter erhielt. Der Bühnenentwurf war gleichsam auch ein bildnerisches Ereignis, ging weit über die Ansprüche des Stückes und einer Funktionalität hinaus. Eingangs noch Raum schaffend, verwandelte sich die Szenerie alsbald in Chaos, Raum zerstörend, irritierend, sogar bedrohlich.

Beide Figuren waren Unpersonen, in rote Overalls gewandet, die ihre Oberhaut verloren und mehr und mehr in Schwarz übergingen. Sie verflüchtigten sich in ihrer Sichtbarkeit, bis sie ins schwarze Wasser der Vergänglichkeit stürzten. Zwischendrin Gesichter, aus denen Menschlichkeit kündete, bisweilen simpel, nicht selten pathetisch. Eine ausgefeilte Lichtregie zauberte eine Entrückung, die den kleinen, von Unzulänglichkeiten behafteten Raum im Teamtheater vergessen ließ.

Wer sich das "Theater des Absurden" noch nicht recht erschließen konnte und es nach wie vor für "Absurdes Theater" hält, dem sein diese Inszenierung dringend angeraten. Denen, die Ionesco lieben, sei vorab versichert, dass diese bravouröse Inszenierung dem Meister in jeder Hinsicht gerecht wird. Eine große tragische Heiterkeit ist garantiert.



Wolf Banitzki

 

 

 


Die Stühle

von Eugéne Ionesco

Ludo Vici, HP Trauschke, Bugs

Regie: HP Trauschke

Teamtheater Tankstelle Schloss Gripsholm von Kurt Tucholsky




Liebelei und Weltgeschichte

Eine kleine Geschichte sollte es werden, ein Lückenfüller für Verleger Ernst Rowohlt und eine Fingerübung für den Dichter Kurt Tucholsky. Tatsächlich wurde es eine der bekanntesten Geschichten der deutschsprachigen Literatur, ein echter Dauerbrenner, verlegt, verfilmt, dramatisiert und auf die Bühne gebracht. Diesem Versuch, Prosa auf die Bühne zu bringen, gebührt Nachsicht, und diese fordert nicht nur die Inszenierung am Teamtheater ein.

Was macht den Reiz der Geschichte aus, dass Theatermacher immer wieder nach ihr schielen? Zum einen ist es ein genialischer Text, mit leichter Feder geschrieben. Die Ingredienzien: Liebe, Erotik und Poesie. Zum anderen ist es ein überaus politischer Text, der auf sensibelste Weise eine große Bestürzung vor dem aufziehenden Nationalsozialismus vermittelt.

Horst Ulrich Wendler, der die Prosavorlage für das Theater szenisch aufbereitete, versuchte glücklicher Weise gar nicht erst, ein Theaterstück daraus zu machen. Und daran tat er gut, denn die innere Struktur der Tucholskyschen Erzählung ist dafür absolut ungeeignet. Er setzte auf die lyrischen Werte, ohne die Geschichte aus dem Auge zu verlieren. Heraus kam eine neue Vorlage für ein Erzähltheater, welche sich szenisch strukturieren lässt.

Markus Menzel , Ursula Berlinghof, Johanna Friedrich

© Stephan Rumpf


Daddy und Lydia reisen gemeinsam nach Schweden, um dort Urlaub zu machen. Sie sind ein Paar der besonderen Art. Lydia, eine selbstbewusste Frau, ist zu abgeklärt, um im Zusammensein eine endlos währende Romanze zu sehen. Daddy, hinter dieser Figur verbirgt sich Tucholsky selbst, macht seinerseits keinen Hehl daraus, dass er bislang noch jede Frau betrogen hat, zumindest mit seiner Schreibmaschine. Die Prämissen stimmen und so bleibt die Beziehung zwischen beiden unbeschadet, als sich erst Karlchen, Freund von Daddy, und später Billie, Freundin von Lydia, für einen kurzen Zeitraum den beiden in erotischer Weise zugesellen. Tucholskys Plädoyer für erotische Experimente ist eines der bemerkenswerten und macht einen Großteil des Reizes in dieser Literatur aus.

Die politische Komponente ist jedoch nicht weniger wirkungsvoll angelegt. Tucholsky wählt die Figur eines Kindes, um den Zuschauer vor dem aufziehenden Regime der Unmenschlichkeit und der Repression zu warnen. Ada, ein sechs- oder siebenjähriges Mädchen lebt im benachbarten Internat unter der Fuchtel einer "Führerfrau". Gemeinsam wenden sich die Freunde an die in der Schweiz lebende Mutter, um das Kind aus den Fängen der Furie zu befreien. Als der Urlaub zu Ende ist, reisen sie zu dritt, die kleine glückliche Ada als verbindendes Glied, in Richtung Schweiz. Hinter diesem Bild steht dann auch mehr, als der erste Schein vermuten lässt, der Exodus von zahllosen Intellektuellen und Künstlern. Damit dieses Bild nicht verloren geht, bedarf es eines sensiblen Umgangs mit dem Text und einigen deutlichen Fährten für den Zuschauer, denn was würde vom Text übrig bleiben ohne diese historische politische Aussage? Kaum mehr als eine mäßige und belanglose Liebesgeschichte.

Regisseur Ernst Matthias Friedrich bemühte sich deutlich um die Doppelbödigkeit der Geschichte, wenn gleich das Bühnenbild von Esther Toronszky dieses Anliegen nicht sonderlich unterstützte. Mehr als eine gelungene Bühnenrückwand, die Details von Vorgängen und Figuren sichtbar machte, war wenig Sinnvolles und viel Überflüssiges auf der Bühne, das gelegentlich auch schon mal weggeräumt werden musste.

Das Spiel der Darsteller war intensiv und von der Regie sinnfällig gesteuert. Allein, während Franziska Ball als Billie noch erotische Fantasien beim Zuschauer provozieren konnte, war das Spiel von Ursula Berlinghof so herb, dass es einiger Vorstellungskraft bedurfte, zu verstehen, warum Daddy (Markus Menzel) unbedingt das Lager mit ihr teilen wollte. Menzel entwickelte immerhin die Figur des Dichters auf sehr originelle Art und mit deutlichem Habitus, ohne plakativ oder klischeehaft zu sein. Philipp Weiches Karlchen erfüllte die Erwartungen, die ein Leser nach der Lektüre des Prosatextes von diesem skurrilen und erfrischenden Burschen hat. Franziska Ball hatte zudem noch die Gelegenheit, als "Führerfrau" ihre Wandlungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Das tat sie mit Nachdruck.

Wenn gleich von der verführerischen und idyllischen Kulisse des Schlosses Gripsholm in der Teamtheater-Inszenierung wenig zu spüren war, wurde der Geist der Tucholskyschen Erzählung, die eine heitere ist, befördert. Und auf den sollten wir auch fürderhin nicht verzichten.


Wolf Banitzki

 

 


Schloss Gripsholm

von Kurt Tucholsky

In einer szenischen Bearbeitung von Horst Ulrich Wendler

Markus Menzel, Ursula Berlinghof, Philipp Weiche, Franziska Ball, Johanna Friedrich

Regie: Ernst Matthias Friedrich

Teamtheater Tankstelle Die Marquise von O. nach Heinrich v. Kleist




Die Provokation - ein fader Kompromiss

Könnte es sein, dass Heinrich von Kleist Probleme mit seiner und mit der Sexualität an sich hatte? Denken wir an "Penthesilea" und der dem Stück innewohnenden kannibalistischen Variante von Liebe und Sexualität, die Goethe gemäßigt "Verwirrung der Gefühle" nannte. Selbigem wollte Kleist übrigens den Lorbeer vom Haupt reißen. In "Amphitryon", man bedenke den psychoanalytischen Aspekt, findet Stellvertretersex statt. Und schließlich die "Marquise von O…", Vergewaltigung oder unbefleckte Empfängnis? Ein bemühtes Werk, dass heute wie damals vom hintergründigen Effekt lebt, welchen das Opfer auslöst. Einer tugendhafte Frau widerfuhr ein Schwängerung ohne eigenes Bewusstsein. Und dann auch noch von dem Mann, der sie beschützte und der ihr engelsgleich erschienen war. Wenn diese Hinweise noch nicht reichen, sei die Biografie des Dichters zitiert. Der machte 1800 eine Reise, deren Ziel darin bestand, sich in Wien oder Straßburg entmannen zu lassen, um "eheunfähig" zu sein. Nicht Genuss, sondern Tugend war seiner Meinung nach die Basis jedes Glückzustandes. Aus pekuniären Gründen endete die Reise gottlob schon in Würzburg. Also blieb ihm nur, unter seiner "tierischen Natur" zu leiden und das Leiden war sein Pläsier ganz im Schillerschen Sinn, der seinen Don Karlos sagen lässt: "Unrecht leiden schmeichelt großen Seelen".

Also Kleists Werke auf die Halde der Literaturgeschichte? O nein, davor ist seine Sprache, die ihresgleichen auf der Bühne sucht und höchstens von Hölderlin in seinen Antikeübersetzungen erreicht wurde. Diese Sprache ist in seiner Dramatik ebenso gewaltig wie in seiner Prosa und um solche handelt es sich bei der "Marquise von O…".


Nanette Bauer, Martin Maecker

© Stephan Rumpf


Die Macher der gleichnamigen Aufführung am Teamtheater ließen sich denn auch nicht vorbehaltlos auf die Kleistsche Geschichte ein, sondern stellten Fragen. Das klingt nach Experiment und ein solches sollte es unbedingt sein. Antworten bezüglich des Wahrheits- oder doch wenigstens des Wahrscheinlichkeitsgehaltes der Geschichte konnten sie nicht geben. Das "Happy End" fand statt und der Vergewaltiger wurde Ehemann des Opfers und ihm wurde verziehen.

Die von Kleist aufgestellte These, und mehr ist die Geschichte nicht, kann keinen Beweis finden. Also suchte man die ästhetische Auflösung, die vielleicht Hintergründe bloßlegen könnte. Theoretisch ist das möglich, doch geschehen ist dies nicht. Mich erinnerte die Inszenierung überdeutlich an Frank Castorfs "Kokain", ein wunderbarer Skandal und nicht mehr. In einem Bühnenbild von Michele Lorenzini, bestehend aus einem kahlen Bühnenraum, möbliert wie ein Gastarbeiterwohnheim der 50er Jahre, fand sich alles, was Castorfsches Theater ausmacht. Da war der private Spielplatz. Hier spielte man unbeeindruckt von der Anwesenheit des Publikums Karten. Unverzichtbar auch das Sprachtrommelfeuer a la Pollesch, die Big Brother Kamera, die Videoleinwand (70er Jahre Filmschund flimmerte über selbige), der Fernseher und das Massaker an Nahrungsmitteln. Hier entfesselten Zwiebeln den Tränenfluss, der sich nicht einstellen wollte, weil die Geschichte nicht überzeugte. Das ist ohne Zweifel Kleists Schuld. Dass die Geschichte schließlich völlig auseinanderbrach, hingegen die der Regie.

Da fuchtelte der Vater der Marquise plötzlich mit der Pistole herum, um der "gefallenen" Tochter nachdrücklich die Tür zu weisen. Man stieg aus dem Spiel aus und dachte in Alltagssprache darüber nach, ob das wohl angemessen sei? Und da man keine Antwort hatte, verschob man das Nachdenken auf die Zeit nach der Vorstellung in die Kantine. Der Effekt war ebenso billig wie berechenbar: Heiterkeit im Publikum.

Immerhin ist der Regisseurin Alexia Hermann etwas nicht gelungen, nämlich "die Schauspieler (gänzlich - W.B.) aus ihren künstlerischen Zwängen" zu befreien. So definiert Castorf seine Ästhetik und meint nichts geringeres als die Vermeidung von tradierten künstlerischen Mitteln im Spiel. Roland Peek (Graf von F…) und Martin Maecker als Bruder ließen sich nicht von einem innerlich intensiven Spiel auf hohem gestischen Niveau abhalten. Nanette Bauer als Marquise fiel da schon eher der Regieauffassung zum Opfer. Ihr Spiel büßte die Homogenität der Figur im Rein und Raus in und aus der Figur ein. Franz Westner und Beatrice Murmann als Vater und Mutter wurden hingegen gänzlich vor den Karren der Regieobsession gespannt.

Es gab Lacher und Heiterkeit in einer Geschichte, die doch eher auf Katharsis zielen sollte, denn es geht um Humanismus. Damit liegt die Inszenierung im Trend der verblassenden Postmodernen, in der Humanismus zum Schimpfwort geworden ist. Kleist und seinem Text wird diese Inszenierung nicht gerecht.
Eine Revolte ist es ebenso wenig, weder ästhetisch noch inhaltlich. Da hätte man Castorfs Auffassungen konsequenter folgen müssen. Aber vielleicht war das das Maximum dessen, was im behäbigen München möglich ist, ein fader Kompromiss.


Wolf Banitzki

 

 


Die Marquise von O.

nach Heinrich v. Kleist

Nanette Bauer, Roland Peek, Franz Westner, Beatrice Murmann, Martin Maecker

Regie: Alexia Hermann

Teamtheater Tankstelle Nathans Dackel von Franzobel




Wenn Sterben zum Privileg wird

Wenn Sterben zum Privileg wird, dann haben wir es geschafft. Ewige Jugend, das Denken weitestgehend abgeschafft, der Lebensraum bis auf den letzten Millimeter verplant und der Große Bruder, der alles im Auge hat - ist das nicht der Weg, den wir längst beschritten haben? Bei genauerem Hinsehen werden einige Parallelen deutlich, auch wenn wir bei "Nathans Dackel" einer Farce zuschauen. Der Österreicher Franzobel verrät mit seinem Werk, das auch als "Geradebiegung der Ringparabel" verstanden werden will, ein gehöriges Maß an Fantasie, wenn er seine Figuren von Fettleibigkeit, von uneingeschränkter Bewegung und von dem vorzeitlichen Begriff "Natur" träumen lässt.

Wenn ein Österreicher über den Tod philosophiert, verliert dieser naturgemäß seinen Schrecken, sollte man meinen. Aber das vermeintliche Privileg stellt sich alsbald als Horror heraus. Als Hans Nat, Zugewanderter, Arzt und Proletenzüchter, endlich dieser zweifelhaften Gnade teilhaftig wird, packt ihn die Angst und er schleunigst seine Habseligkeiten nebst Tochter Aphrodite und sucht die Weite, die es nicht mehr gibt. Er landet schließlich in der Wohnzelle von Frau Zucker, alt wie Methusalem, und deren Sohn Herbert, Jüngling seines Zeichens und noch keine hundert Jahre alt? Der Polizeiobere Hallawachel, mit Frau Zucker liiert, entdeckt die beiden "zugewanderten Subjekte", die von Herbert als Schauspieler vorgestellt werden, um vom Verdacht, es handele sich um die Flüchtigen, abzulenken. Ein Buch wird von der geisterhaften Hand Zylinders, einer Unperson mit schicksalhaften Zügen, ins Spiel gebracht und endlich ist man bei Lessing und seiner Ringparabel. Die "Geradebiegung" erfolgt dann auch ziemlich brachial.

 

Michael Schernthaner, Sylvia Eisenberger

© Stephan Rumpf


Am Ende wir müssen erkennen, dass, wenn wir nur weit genug zurück gehen in der Genealogie des Fleisches und bei Adam und Eva ankommen, wir alle vom selben Fleische stammen und das war proletarisch.
Was sich im Titel so abenteuerlich anpreist, ist im Stück letztlich nur eine Erklärung der Ringparabel für Unterbelichtete. Die oder der Eine oder Andere im Publikum wird sich erinnern. Da gab es einmal etwas, das nannte sich Aufklärung. Nicht? Auch gut. Franzobels Aufklärung ist ohnehin griffiger und eingängiger als die des Universalgeistes Lessing. Und lustiger ist sie oder könnte es zumindest sein, wenn der Text seinen Meister findet.

Regisseur Burchard Dabinnus erwies sich nicht unbedingt als solcher. Er inszeniert in weiten Teilen am Text, seinen grotesken Brüchen und seinem absurden Witz vorbei. Es entstand Hast und Aktionismus anstelle von Turbulenz, Deklamation und Plakation anstelle von Figuren, in denen doch immerhin Blut fließt. So verhinderte er ziemlich effizient, dass der Atem der (Franzobelschen) Aufklärung bis ins Publikum schlug und der Witz nicht wirklich über die Rampe hinaus gelangte. Einen großen Anteil daran hatte Luzia Gossmann, deren Kostüme wunderbar waren, deren Bühnenbild sich jedoch als hinderlich herausstellte. Sie schuf ein horribles Gemälde von einer Zukunft, das so pervers-barock gerann, dass es die Schauspieler entweder an den Rand der Bühne drängte oder verschlang.
Selbst die Revolution, man spreche das Wort einmal langsam, von der gelegentlich geflüstert wurde, blieb in dieser Inszenierung eine Marginalie, die den Charakter von Jahrmarktsbelustigung nicht kaschieren konnte. Dabei waren doch viele Voraussetzungen gegeben. Den Schauspielern gelang andeutungsweise immer wieder der Beweis, dass es hätte gelingen können. Allein das Tempo verschlang diese Ansätze, ehe sie zum Tragen kamen. So waren die Schauspieler die Verlierer des Abends, die in ihrer Spiellust nicht zum Zuge kamen.

Auch Franzobel und seine Geschenke ans Publikum blieben auf der Strecke. Seine Sätze bedürfen mehr als der flüchtigen Verkündigung. Wir finden sie alle und deren bis in den Schwachsinn getriebene Psychologie in den Nebensätzen unseres täglichen Lebens wieder. Dieses deutlich zu machen, hätte die Inszenierung leisten können. Der Spaß jedenfalls, hielt sich in Grenzen. Dann vielleicht doch lieber Lessing und ein neuerliches Schwelgen in Humanismus?


Wolf Banitzki

 

 


Nathans Dackel

von Franzobel

Bianca Bachmann, Stefan Born, Sylvia Eisenberger, Michael Schernthaner, Wolfgang Thon, Antoinette Wosien

Regie: Burchard Dabinnus
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