Theater Viel Lärm um Nichts Mutters Courage von George Tabori


 

 

 
Ein Abend mit Tabori

George Taboris großes Thema waren der Nationalsozialismus und der Holocaust. Als Ungar mit jüdischem Hintergrund war er selbst Betroffener. Allein 80 Personen aus seinem engeren und entfernteren Familienkreis fielen der faschistischen Barbarei zum Opfer. In der Geschichte "Mutters Courage" erzählt er die atemberaubende Begebenheit, wie sich seine Mutter Else, schon auf dem Weg nach Auschwitz, den Fängen der Vernichtungsmaschinerie entzog. Tabori beschwörte in einem Interview den Wahrheitsgehalt der Geschichte. Einige Details fügte er hinzu, seine bereits verstorbene Mutter um Vergebung bittend. Ein Schriftsteller könnte sich so einen Plot schwerlich einfallen lassen, und doch entspricht er der Wahrheit.

Else Tabori wurde 1944 in Budapest auf dem Weg zu ihrer Schwester, mit der sie regelmäßig wöchentlich einen Rommee-Abend veranstaltete, von zwei aus dem Ruhestand aktivierten alten und kurzatmigen Staatspolizisten auf der Straße verhaftet. In Ermangelung eines Dienstfahrzeuges war man gezwungen, die Straßenbahn zu benutzen. Doch diese war überfüllt und so fuhr die Tram mit Elsa und ohne die Polizisten ab. Die Schaffnerin verhalf Elsa zu einem Fahrschein in die Freiheit. Doch sie stieg an der nächsten Station aus, um auf die Polizeischergen zu warten. Es war die "Inkompetenz des Guten", die sie veranlasste, dem Befehl der Staatsmacht zu gehorchen. Im Verlauf des Stückes geschehen Dinge, die unter normalen Umständen kaum glaublich erscheinen würden. Unter diesen, in jeder Hinsicht verzerrten Vorzeichen allerdings, waren sie nur natürlich. Else, eine schamhafte, immer dem "Guten und Anständigen" verpflichtete Frau, erlebt in einem Viehwagon ihren einzigen außerehelichen Geschlechtsverkehr. Schließlich forderte sie unter Zuhilfenahme einer Unwahrheit bei einem deutschen Offizier ihre Freilassung ein, die dieser ihr, vielleicht wegen ihrer schönen blauen Augen, gewährte. 4029 Mitgefangene reisten ohne sie weiter in den Tod.

Tabori verarbeitete die mütterlichen Erinnerungen erst zu Prosa, um dann schließlich ein Theaterstück daraus zu machen. Wer seine Arbeiten kennt, weiß, dass Tabori die für ihn so prägende Erfahrung mit dem Nationalsozialismus immer aus einer besonderen Perspektive beschrieb. Diese bestand in einer Mischung aus einem jüdischen Augenzwinkern und einer scheinbar fatalen Tragik. Dabei war die Komik häufig das Element, das die Wahrheiten hervorberechen ließ. Der scheinbare Fatalismus hingegen aktivierte stets den Geist des Aufbegehrens. Dabei gab Tabori nie Gebrauchsanweisungen für Gefühle mit. Er vertraute auf das Menschliche im Menschen.

Ellen Raab inszenierte den Text auf völlig unspektakuläre Weise im Theater Viel Lärm um Nichts. Ein Bühnenbild im herkömmlichen Sinn gab es nicht. Die Darsteller brachten ihre Requisiten bei ihrem ersten Auftritt mit auf die Bühne: einen Tisch, zwei Stühle, einen Kleiderständer mit den notwendigen Kostümen. Der Text wechselte ständig zwischen Beschreibung, Monolog und Dialog. Das Licht besorgte die Arrangements.

Elisabeth Englmüller gab mit einem leichten Akzent, der das Ungarische durchschimmern ließ, eine wahrhaft mütterliche Frau, die auf genierliche Weise um die Aufrechterhaltung der Formen rang. Gerade diese Haltung provozierte beim Betrachter das Grauen, das im Hintergrund lauerte. Es war weniger der Fakt, dass sie ihrer Tötung entgegen reiste, sondern die Vorstellung von erniedrigender Entblößung und Zerstörung einer aufrichtigen und menschlichen Haltung. Tabori selbst beschrieb seine Mutter im Text als eine sehr schlichte Frau im Geist. Elisabeth Englmüller vormochte es, dem ein großes Maß an menschlicher Würde entgegen zu setzen.

Andreas Berner fielen die Rollen des Sohnes George, der beiden Polizisten und des deutschen Offiziers zu. Es war sicherlich der schwierigere Part, den er allerdings nur bedingt erfüllen konnte. Die Rollen unterschieden sich in der schauspielerischen Umsetzung nur geringfügig voneinander. Hier wären einige prägnantere Farben in der Darstellung angebracht gewesen. Gelegentlich wirkte Andreas Berner ein wenig linkisch, was wohl auf mangelnde Führung durch die Regie zurück zu führen war.

Es war ein bewegender Abend für den, der sich auf diese unglaubliche Geschichte einlassen konnte. Tabori als einen Theatertitanen zu bezeichnen, in keineswegs übertrieben, wenngleich Superlative gemieden werden sollte. Das Übermenschliche seiner Leistung bestand darin, das Menschliche auf agitations- und ideologiefreie Weise sichtbar zu machen. Es muss als höchste Kunstfertigkeit bezeichnet werden, den Holocaust mit Witz betrachten zu können, ohne die Opfer zu diskreditieren. Normalerweise "dürfen" das nur Menschen mit jüdischem Hintergrund. Bei Taboris Arbeiten spielt das keine Rolle.

 
Wolf Banitzki



 

 


Mutters Courage

von George Tabori

Elisabeth Englmüller und Andreas Berner

Regie: Ellen Raab

Theater Viel Lärm um Nichts Sankt Diredare von Josef Parzefall


 

 

 
Lachen als therapeutische Maßnahme

"Ja, viele Schriftsteller, Prosaiker sowohl als Dichter, die von Natur nicht erhaben, vielleicht sogar ohne Anlage zur Größe waren, erreichten es dennoch, indem sie größtenteils gewöhnliche, im Volksmund gangbare und nichts Hervorragendes verratende Wörter gebrauchten, durch die bloße Verbindung und harmonische Fügung derselben, dass sie gar prächtig und hervorragend und nicht niedrig erschienen, so unter vielen andern Philistos, Aristophanes in gewissen Stellen, (...)." Das zu ästhetischen Fragen der Sprachgestaltung des Aristophanes von einem gewissen Herrn Pseudo-Longinos (297-349).

"... Dass sie gar prächtig und hervorragend und nicht niedrig erschienen, (...)" Will meinen: auch wenn es niedrig ist, erscheint es doch dank der Sprachgestaltung als "prächtig und hervorragend". Was aber ist niedriger, profaner, von einer kulturellen Warte betrachtet ästhetisch verwerflicher, als über Geld zu reden? Nichts!

Doch genau das geschieht in "Sankt Diredare" von Josef Parzefall im Theater Viel Lärm um Nichts. Inspiriert durch Aristophanes "Plutos" schuf er eine Mundartposse, die für den Liebhaber bairischer Mundart nichts offen lässt. Aristophanes, ein Mann der die Demokratie verabscheute, der Sokrates verleumdete und der Euripides verhöhnte, erzählte in seiner Geschichte vom Gott des Reichtums von den verheerenden Folgen, die eine moralische Betrachtung des Problems nach sich zieht. Plutos, von Blindheit geheilt, verteilt Reichtum jetzt nach moralischer Integrität. Das Ergebnis: Nun sind die Guten reich und die Bösen arm. Das Problem ist nicht aus der Welt.

Es würde wenig bringen, sich in die Diskussion um Reichtum und Moral einzubringen, denn es handelt sich um einen antagonistischen Widerspruch. Im Übrigen macht das neoliberale System (und die Politiker als seine Vollzugsbeamten) keine Anstalten, diesen Widerspruch aus der Welt zu schaffen. In zynischer Verachtung des Menschen definieren sie das "Problem" als Garant für Leistung (sagen die Reichen) und Moral (bleibt den Armen). Keine Bange, es werden keine tiefergehender Wahrheiten über den Kapitalismus verbreitet, in Frage gestellt wird er auch nicht wirklich.
 

Josef Parzefall, Claus Steigenberger, Hannes Berg

© Hilda Lobinger

 

Josef Parzefall hat die Geschichte um den blinden Gott des Reichtums nach Untergiesing verlegt. Achat Kachatzer, quirlig und dynamisch von Parzefall selbst gespielt, wird infolge eines Rates ("Häng dich an den ersten, der dir über den Weg läuft.") einer Figur habhaft, die in erbärmlicher Verfassung ist. Schlotternd und blindpanisch gegen alle Hindernisse prallend, von scheinbar existenzieller Angst ergriffen, gabt Claus Steigenberger den Sankt Diredare, eine Randfigur, wie sich im Verlauf der Farce herausstellte. Der von Hannes Berg schlaksig und temperamentvoll gestaltete Kare, Geselle vom Kachatzer, schlug sich, in Aussicht auf Reichtum, auf des Meisters Seite. Der Spechtl(Herbert Frei), ein Nachbar, fand sich ein und gemeinsam mit den schräg musizierenden und singenden alten Untergiesingern (Florian Burgmaier und Special Guest (?)) zog man nach Lourdes um eine Wunderheilung herbeizuführen. Der Streich gelang und Sankt Diredare brachte sehenden Auges den ehemals Gebeutelten Wohlstand. Auf der Strecke blieben die schlechten Menschen, die korrupten, moralisch verdorbenen.

Autor Parzefall schrieb eine bairische Farce, bestehend aus einzelnen Szenen, die, in sich relativ geschlossen, lehrhafte Dispute über das Problem beinhalteten. Regisseur Parzefall verwob diese Szenen zu einem gängigen, nicht selten derben Spektakel, das mittels Musik gut verleimt war. Der Witz resultierte aus deutlichen Zeitbezügen (das Jahr 2008 wird wohl als Jahr des Geldes in die Geschichte eingehen), wobei sich Parzefall nicht scheute Namen und Hausnummern zu nennen, und der bairischen Mundart, der der Zuschauer unbedingt mächtig sein sollte.

Neues erfuhr man nicht. Es war auch kein erhabenes Werk, das Nachhaltigkeit oder gar Moral erzeugen wollte, unterhaltsam war es allemal. Insofern war es "gar prächtig und hervorragend und nicht niedrig". Die Komik, eine Mischung aus frappanter Unfassbarkeit der gesellschaftlichen Zustände, aus unterschwelliger Angst vor der Zukunft, die wenig Gutes verheißt, und aus einer zutiefst menschlichen Sicht auf die Dinge, die nicht selten an Valentin erinnerte, befreite für eine und eine halbe Stunde. Der Volksmund sagt, dass Lachen die beste Therapie sei. Der Abend im Theater Viel Lärm um Nichts steigerte das Wohlbefinden unbestritten.

 
Wolf Banitzki

 

 


Sankt Diredare

von Josef Parzefall

nach ARISTOPHANES' Satire "PLUTOS" auf Bairisch

Hannes Berg, Florian Burgmayr, Herbert Frei, Karin Neumayr, Josef Parzefall, Claus Steigenberger

Regie: Josef Parzefall

Theater Viel Lärm um Nichts Elektra von Hugo v. Hofmannsthal


 

 

 
... den Wahnsinn einzusehen

Die Mythen der Vergangenheit sind unsere kulturelle Genetik. Darum scheint es, als könnten die Protagonisten ihren Schicksalen nicht entrinnen, Schicksale, die nicht selten durch Blut verbunden sind. Wir beschreiben die mythologischen Geschichten als zeitlos und somit als immer modern. Es wird Zeit, die Mythen so umzuschreiben, dass es ein Entrinnen und eine Einsicht in die Möglichkeit des Entrinnens geben kann. Sonst werden uns die Mythen nie aus dem Kreislauf der Gewalt entlassen, die die Geschichte der Menschheit bis auf den heutigen Tag beherrscht. Manchmal agieren diese Mythen orakelhaft aus dem Unterbewusstsein heraus, manchmal müssen sie als Argument herhalten.

Die Geschichte von Elektra ist eine Geschichte des uneingeschränkten Hasses. Elektras Mutter Klytämnestra hatte den Vater Agamemnon, einen wahrlich hassenswerten Menschen, nach dessen siegreicher Rückkehr aus dem Krieg gegen Troja gemeinsam mit dem Geliebten Aegisth auf heimtückische Weise ermordet. Die Kinder Elektra, Chrysotemis und Orest wissen um die Freveltat der Mutter. Ein normales Leben ist nicht mehr möglich. Elektra lebt mit den Hunden im Vorhof des Palastes. Orest hatte man fortgeschafft, denn das eherne Gesetz der Rache, so sahen es die Götter vor, würden ihn zu weiteren Bluttaten zwingen: " Ich weiß nicht, wie die Götter sind. Ich weiß nur, sie haben diese Tat mir auferlegt, und sie verwerfen mich, wofern ich schaudre." Folglich trachteten Klytämnestra und Aegisth dem Knaben nach dem Leben.

Für Elektra war Orest und seine Wiedergutmachung der Blutschuld einziger Lebensinhalt geworden. Im Gegensatz zur Schwester Chrysotemis war sie nur von diesem einen Gedanken der Rache beseelt. Chrysotemis hingegen träumte von einem normalen Leben, einem mit Mann und Kindern und ein wenig Glück. Sie fasste das Dilemma mit folgenden Worten zusammen: "Du bist es, die mit Eisenklammern mich an den Boden schmiedet. Wärst nicht du, sie ließen uns hinaus. Wär nicht dein Hass, dein schlafloses unbändiges Gemüt, vor dem sie zittern, ah, so ließen sie uns ja heraus aus diesem Kerker, Schwester!" Elektra aber bleibt unbeugsam, auch der Mutter gegenüber, die keinen Schlaf mehr findet. Auch ihr ist klar, und wieder wird das Blut beschworen, " auch diese Träume müssen ein Ende haben. Wer sie immer schickt: ein jeder Dämon lässt von uns, sobald das rechte Blut geflossen ist." Das rechte Blut fließt, denn Orest erscheint, und tötet beide ohne jeden inneren Zweifel. Als die Bluttat vollbracht war, fehlten Elektra die Worte: "Schweigen und Tanzen!" Doch dann verlor sie den Boden unter den Füßen. Sie hatten jeden Lebenssinn eingebüßt.
 

 

Regisseur Stephan Joachim setzte ganz auf die mythologische Substanz und ihre psychologischen Verstrickungen. Er reduzierte das Libretto auf die Begegnungen zwischen Elektra und Chrysotemis, Elektra und Klytämnestra und Elektra und Orest. Mehr bedurfte es auch nicht, den Konflikt und seine Vielseitigkeit zu transportieren. Doch Stephan Joachim, der auch den Raum gestaltete, und für den der Raum mehr ist als nur Spielort, zelebrierte durch den Minimalismus der Ausstattung (schwarzer Raum und einige Kreidefelsen) und einem relativ aktionslosen, darum aber um so intensiveren Spiel diese mythologische Unentrinnbarkeit. Ihm gelang kathartisches Theater im besten Sinn. Lena Scholles Elektra war geballte Hassenergie. Wie ein Raubtier vor dem Sprung erzeugte sie permanente Bedrohlichkeit. Nina von Düsterlho als Chrysotemis rang voller Anmut um einen Ausgleich. Sehnsuchtsvoll träumte sie von der Errettung aus dem Käfig blutschänderischer Abhängigkeit, von einem normalen Leben. Balbina Brauel gab eine wuchtige Klytämnestra, eine Königin, deren letzte Tage ihr bereits ins Gesicht geschrieben standen. Sie vermittelte glaubhaft, warum die Gattenmörderin ihre Macht im Palast noch immer aufrecht erhalten konnte. Stephan Joachim schließlich erschien als Orest auf der Bühne, vibrierend vor dem "Unentrinnbaren". Seine Darstellung war verhalten, womit der Text raumgreifend wurde. Sein Sprachduktus war natürlich und hatte einen ausgewogenen Rhythmus, etwas, was man Lena Scholle gewünscht hätte. Gelegentlich spielte sie zu sehr die Emotionen, die sie beim Publikum erzeugt wissen wollte. So konnten sich die Bilder nicht immer zur wirklichen Größe entfalten.

Das Ende kam abrupt, die innere Erschütterung ebenso. Die Katharsis war perfekt. Stephan Joachim bewies mit seiner Inszenierung nicht nur die Wirkungsträchtigkeit des Textes von Hofmannsthal, sondern auch dessen theatralische Poetik.

 
Wolf Banitzki

 

 


Elektra

von Hugo v. Hofmannsthal

Balbina Brauel, Lena Scholle, Nina von Düsterlho, Stephan Joachim

Regie und Ausstattung: Stephan Joachim

Theater Viel Lärm um Nichts Hadschi Murat von Lew Tolstoi


 

 

 
Helden und ihre Schöpfer

Lew Tolstois Geschichte und Margit Carls Dramatisierung derselben entführte den Zuschauer in die zauberhafte und gleichsam grausame Welt der Kaukasischen Berge. Eine Stimme aus dem Off (Andreas Seyferth) erzählte vom misslungenen Versuch, eine Tartarendistel für einen Blumenstrauß zu pflücken. Die Distel ging bei diesem Versuch zu Schanden. Als der Erzähler am Ende des Stücks auch seine Parabel vollendete, war der Betrachter Zeuge unerhörter blutiger Ereignisse geworden, die gar nicht weit entfernt andauern, und zwar seit gut vierhundert Jahren. Die Zahlen der Opfer haben die Million längst überschritten und niemand nimmt wirklich daran Anteil. Die Vorgänge taugen heute höchstens dazu, Nachrichtenlücken zu schließen, bevor die Bundesliga-Fußballergebnisse tabellarisch aufbereitet gereicht werden. Die Rede ist von Tschetschenien.

Der große Moralist Lew Tolstoi (1828-1910), Autor von "Anna Karenina", "Krieg und Frieden", "Die Kreuzersonate" und anderen großartigen Werken der Weltliteratur, hinterließ der Nachwelt eine Erzählung, die in einer Zeit geschrieben wurde, in der Tolstoi von sich selbst meinte, er sei am Abgrund angelangt. "Hadschi Murat" ist die Geschichte eines Heldenlebens. Sie spiegelt aber weit mehr wider als den Kampf eines Awaren aus Dagestan. Die Geschichte reflektiert das verzweifelte Ringen ganzer Völker um Menschlichkeit und Gerechtigkeit. Die Geschichte der kaukasischen Völker ist die Geschichte von Verfolgung, Okkupation, Verrat und Tod. Wer das Faltblatt zum Programmheft liest, den schaudert es. Es macht aber auch zornig über das eigene Versangen und das Versagen der wohlbestallten europäischen Politiker, die die Augen schließen, weil Interessen dies für geboten erscheinen lassen.

Autorin Margit Carls und Regisseur Andreas Seyferth politisieren und ideologisieren nicht. Sie nutzen die aufrichtige und mutige Geschichte von Tolstoi, um mit der lyrischen Wildheit und Schwermut kaukasisch-russischer Begebenheiten nach den Herzen der Zuschauer zu tasten. Die Textvorlage ist schwerlich als Drama zu bezeichnen. Vielmehr ist es ein mosaikartiger Reigen von Erzählungen und Szenen, an deren Ende ein objektiviertes Bild vom "Helden" Murat steht. Genau genommen war er wohl ein Held wider Willen.
 

Anna Budde, Robert Heinle
Hintergrund: Urte Gudian, Margrit Carls

© Hilda Lobinger

 

In der Gesamtheit betrachtet, erlebte der Zuschauer ein fremdartiges, aus der Historie aufsteigendes Schicksal, das exemplarisch für ein ganzes Volk ist. Murat verteidigt lediglich sein eigenes und das Leben seiner Familie. Durch den Akt der Selbstverteidigung und seinen unbändigen Drang nach Freiheit, gewinnt seine Person Symbolcharakter. Murat ist aber zugleich den unbarmherzigen, weil stupiden Interessen Einzelner ausgeliefert und wird so zum tragischen Helden. Mit seiner Kompromissbereitschaft endet gleichsam seine Aussicht auf ein menschenwürdiges Leben für sich und die Seinen.

Andreas Seyferth versuchte gar nicht erst, den Zuschauern in Spielszenen Figuren vorzuführen, die Identifikation zuließen. Die Inszenierung war epischer Kommentar zu einer großen Geschichte, die sich immer wieder in gestischen Andeutungen erging und Momente hoher Spannung erzeugte. Die vier Darsteller schlüpften in jede erdenkliche Rolle. Winzig anmutende Details schufen dabei die Unterschiede. Russische Offiziere und Beamte, Besatzer im Lande der freiheitsliebenden Bevölkerung, trugen Teilmasken. Während der Kaukasier seinem Gegenüber ins Auge schaute, blieb der Beweggrund, die Gefühlslage der Okkupanten unergründlich. Einzig das Wort verriet die Abgründigkeit perfiden kolonisatorischen Denkens. Selbst der Zar wurde nicht verschont. Er entpuppte sich als dümmlicher eitler Geselle, der sich der Tragweite seines Handelns, und er handelte barbarisch, nicht bewusst war.

Der artifizielle Ansatz aller Darsteller ist unbestritten, hätte aber keineswegs zu dem Ergebnis geführt, auf das das Ensemble letztlich stolz sein kann. Die Aufführung wurde permanent durch Klang und Tanz kontrastiert. Urte Gudian und Ardhi Engl erzeugten neben der Sprache fühlbare Stimmungen, die die Inhalte der Szenen vorgaben oder provozieren wollten. Die Erzeugung eines Klangteppichs durch Ardhi Engl gelang dezent und unaufdringlich. Die Musik erreicht den Zuschauer, ohne ihn von den szenischen Vorgängen abzulenken. Urte Gudian wurde in ihrer Bewegung zur Verkörperung der kaukasischen Seele, gedemütigt und gepeinigt, aufbegehrend und stolz. Regisseur Seyferth gelang die Verknüpfung zwischen szenischer Darstellung, Klang und Bewegung zu einem homogenen Werk.

Neben der künstlerischen Leistung vermittelte diese Arbeit ein Höchstmaß an historischer und politischer Aufklärung. Hier ließ sich ein Team nicht von der blödsinnigen These abschrecken, weltanschauliches Engagement schade dem Kunstgenuss nur. Hier wurde ein Team auch seiner Verantwortung gerecht.

 
Wolf Banitzki

 

 


Hadschi Murat

von Lew Tolstoi

Anna Budde, Margit Carls, Walter von Hauff, Robert Heinle, Urte Gudian und Ardhi Engl

Regie : Andreas Seyferth

Theater Viel Lärm um Nichts Oskar und die Dame in Rosa von Eric-Emmanuel Schmitt


 

 

 
Die Schönheit des Vergänglichen

Wenn Menschlichkeit in der Kunst Gestalt annimmt, dann ganz sicher auch in der Person von Èric-Emmanuel Schmitt und seinen Werken. Das bekannteste ist vermutlich die Vorlage für den Film "Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran". Die Menschlichkeit des Philosophen und Schriftstellers Schmitt geht immer auch einher mit den verschiedensten Formen von Religiosität. In der heutigen Zeit ist diese Mischung suspekt, doch bei Schmitt unverfänglich, weil heilsam. Fast möchte man meinen, Schmitt vollbringe Wunder. Im Herbst vergangenen Jahren startete die Zeitschrift "Lire" eine Umfrage mit folgender Fragestellung: "Welche Bücher haben Ihr Leben verändert?" "Oskar und die Dame in Rosa" wurde zusammen mit der Bibel, den "Drei Musketieren" und dem "Kleinen Prinzen" genannt.

Obgleich es um den Tod eines Kindes mit Namen Oskar geht, ist die Geschichte ziemlich unspektakulär. Krebskranke Kinder, Oskar hat Leukämie und ist unheilbar, werden mehr oder weniger in Krankenhäusern verwahrt. Ein Leben haben sie nicht mehr. Oskar kann diesen Mangel nicht akzeptieren. Als er begreift, dass die Erwachsenen, Eltern, Ärzte und Pfleger, sich ihm gegenüber so distanziert verhalten, weil sie mit der Unheilbarkeit der Krankheit nicht umgehen können, erkennt er seine Macht. Von nun an diktiert er die Spielregeln. Seine erste Forderung ist der freie Zugang zur Dame in Rosa, Oma Rosa genannt, wann immer es ihm gefällt. Zwischen ihr, ‚einer pensionierten Catcherin mit mehr als 150 Kämpfen', und dem Knaben entwickelt sich eine sehr befreiende Beziehung. Oma Rosa gibt Oskar Ratschläge, zu denen die anderen Menschen nicht fähig sind. Zwischen Oskar und ihr gibt es keine Lügen. Wozu auch, beide haben nichts mehr zu verlieren.

Die Fantasie schlägt Brücken und verhilft Oskar zu einem kompletten Leben. Jeden Tag durchschreitet er 10 Jahre und jeden Tag berichtet er Gott in einem Brief von seinen Höhenflügen, Erkenntnissen, Tiefschlägen und Betrübnissen. Am Ende, Oskar ist inzwischen älter als 100 Jahre und weitestgehend versöhnt mit der Welt, stellt er ein Schildchen auf seinem Nachttisch auf: "Nur Gott darf mich wecken!"
 

Eva-Ingeborg Scholz

© Hilda Lobinger

 

Regisseur Andreas Seyferth gelang ein Geniestreich mit der Besetzung. Eva-Ingeborg Scholz, Jahrgang 1928, den älteren Mitbürgern aus frühester Nachkriegsfilm- und Theatergeschichte bekannt, spielte Oskar und die Dame in Rosa. Die kleine fragile Frau mit großer Bühnenpräsenz verschmolz die Rollen geradezu in sich, war kindlich (nie kindisch) und damenhaft zugleich. Vom hohen Identitätsgrad der Darstellerin mit Text und Geschichte kündeten ihre hellwachen leuchtenden Augen und die Wellen der Begeisterung, die durch ihren zarten Körper wogten. Ausstatter Stephan Joachim, der auch für das nur aus Andeutungen bestehende Bühnenbild verantwortlich zeichnete, kleidete Eva-Ingeborg Scholz überwiegend in Rosa. Er fand das perfekte Maß, "Oma Rosa" als "die Frau in Rosa" herauszustellen, ohne sie lächerlich zu machen. Sie war einfach zauberhaft anzuschauen.

Die äußere Regie von Andreas Seyferth hielt sich in engen Grenzen, denn nach dem Auftritt, einem kurzen Dekorieren der Bühne mit Holztieren, kleinen Teppichen, alles Mitbringsel der alten Frau, setzte sich Eva-Ingeborg Scholz auf eine kleine Bank, die sie bis zum Schlussbild nicht mehr verließ. Alles konzentrierte sich fortan auf den Text und die Geschichte. Die Wechsel zwischen den beiden gespielten Figuren, zwischen Stimmungen und erzählten raumgreifenden Geschichten war filigrane Arbeit und verlangte Regie und Darstellung höchste Sensibilität ab. In vornehmlich leisen und überaus harmonischen Tönen wurde eine großartige, weil menschliche Geschichte erzählt und wenn es in der Inszenierung überhaupt Probleme gab, dann wohl auf Seiten von Andreas Seyferth. Der musste das augenscheinliche Temperament seiner achtzigjährigen Darstellerin im Zaum halten.

Es ist, wie eingangs erwähnt, eine unspektakuläre Geschichte, die auf ebenso unspektakuläre Weise auf die Bühne des Theaters Viel Lärm um Nichts in der Pasinger Fabrik gebracht wurde. Jedoch, der Zuschauer, der aufgeschlossen genug ist, kann durchaus etwas Spektakuläres erleben. In der heutigen Gesellschaft werden ganz natürliche Dinge mit Vorsatz und auf panische Weise verdrängt: Vergänglichkeit (Siechtum und Krankheit) und Alter. Im Theater viel Lärm um Nichts kann man die Schönheit von Vergänglichkeit und Alter erleben.
 
 
Wolf Banitzki

 

 


Oskar und die Dame in Rosa

von Eric-Emmanuel Schmitt

Eva-Ingeborg Scholz

Regie : Andreas Seyferth
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