Halle 7 Casting in Kursk von Alexander Galin


 

 
Russland sucht den Superstar

"Casting in Kursk" zum Auftakt der neuen Staffel des Theaters Halle 7

In Zeiten, in denen Sendungen wie "Germany's next Topmodel" oder "Deutschland sucht den Superstar" die Einschaltquoten zuverlässig in die Höhe treiben und der geneigte Zuschauer miterleben und -leiden darf, wie sich mehr oder minder begabte Selbstdarsteller vor einer unbarmherzigen Jury zum Affen machen, scheint die Entscheidung, Alexander Galins "Casting in Kursk" auf die Theaterbühne zu bringen, mehr als nur folgerichtig.

Claus Peter Seifert inszeniert und weiht mit der Premiere des 2000 in Moskau uraufgeführten Stücks des russischen Erfolgsautors auch gleich die neuen Räumlichkeiten des Theaters Halle 7 auf dem Optimolgelände ein. Deren Verortung in einer der etabliertesten Partyzonen Münchens sowie die Tatsache, dass eine Etage höher bis vor einigen Jahren das horizontale Gewerbe sein "Unwesen" getrieben haben soll, können als augenzwinkernde Schmankerl betrachtet werden.

In der gar nicht mehr so düsteren darkBOX versetzt Annika Fischer (Bühne und Kostüme) das Publikum von Anfang an optisch und olfaktorisch in östliche Sphären. Dafür sorgen großzügig auf der aus Paletten zusammengeschusterten, absolut Absatz-unfreundlichen Bühne verteilte Kartoffeln und Zwiebeln sowie eine nicht zu übersehende Reihe leerer Wodkaflaschen im Hintergrund. Dieses Casting findet offensichtlich nicht in einem sterilen Fernsehstudio statt. Ein alter Kinosaal, in dem nicht nur das "Vom Winde verweht"-Plakat von besseren Zeiten erzählt, ist Schauplatz eines Defilees von Traumtänzern, die die Hoffnung auf eine bessere Zukunft in den eiseskalten Raum treibt.
 
   
 

Erika Ceh, Angela Eickhoff , Britta Scheerer, Sonia Abril Romero, Susanne Lehmann, Glenn Giera-Bay

© Hilda Lobinger

 

 

Endstation Sehnsucht
Sie könnten unterschiedlicher nicht sein diese Frauen, die zu Beginn nacheinander auf die Bühne taumeln. Rein optisch bietet sich ein hinreißendes Panoptikum modischer Scheußlichkeiten der 1980er Jahre: Militärparka, Push-up BHs, Micro-Miniröcke und biederes Kostüm werden gepaart mit abenteuerlichem Make-up und einer den CO2-Ausstoß gefährlich in die Höhe treibenden Menge Haarspray.

Olga, Nina, Tamara und die ihre Töchter Lisa und Katja begleitende Warwara (Christine Kättner erspielt sich als gewieft-patente, die Truppenmoral hochhaltende Mutter Courage Sympathiepunkte) haben den Fehler begangen, den Anzeigentext der japanischen Firma im örtlichen Lokalblatt wörtlich zu nehmen: Frauen gesucht, sängerische und tänzerische Begabung von Vorteil. Was genau für die Nightshow in Singapur gesucht wird, blutjunge Mädchen nämlich, die gestresste Männer möglichst unbekleidet und lasziv vom Alltag ablenken, ist offensichtlich. Conferencier Albert (Glenn Giera-Bay) sieht sich zu seinem Schrecken mit sechs Damen konfrontiert, die ihrem Beharren auf Teilnahme und faire Bewertung nachdrücklich Ausdruck verleihen und damit die Durchführung des Castings des jungen, schönen und zeigefreudigen Teils der Kursker Bevölkerung empfindlich erzögern.

Fortgeschrittenes Alter, Ehemänner und überflüssige Pfunde scheinen irrelevant angesichts der "künstlerischen" Fähigkeiten der Anwesenden. Was dem eiligst herbeigeholten japanischen Firmenvertreter (Taro Berger ist im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos und überzeugt mit auf den Punkt gebrachter reduzierter Mimik und Gestik) im Laufe des Abends präsentiert wird, ist zugleich lustig und in seiner verzweifelt-inbrünstigen Unbeholfenheit herzzerreißend. Geologenlied, Zaubershow im Tigeroutfit, ein Schlangentanz, bei dem Mary Wigman die Tränen gekommen wären oder die Schulmädchen-Version eines Lesbenstrips, alle geben ihr Bestes. Der Mut der Verzweiflung treibt an, Warjas Selbstgebrannter tut sein Übriges.

Trotz aller Situationskomik bleibt ein schaler Nachgeschmack zurück. Alexander Galin beschreibt Situationen, die bekanntermaßen nicht nur in Russland gang und gäbe sind. "Ich habe nichts mehr zu verkaufen außer meinem Körper" - Prostitution als letzter Ausweg aus Armut, Ehehölle oder desolaten familiären Verhältnissen. Die Bilder, die Claus Peter Seifert auf die Bühne bringt, kennt man; wenn nicht aus persönlicher Erfahrung dann doch zumindest aus dem Fernsehen. Wenn Erika Ceh und Britta Scheerer als Nina und Katja Wolkowa versucht verrucht die Höschen fallen lassen, wirkt das trotz der Bühnen-Situation in seiner Unbeholfenheit so realitätsnah, dass man eigentlich eigentlich lieber wegschauen würde.

Die Ankunft der Ehemänner verbessert die Situation keineswegs. Wassili (Patrick Hellebrand) zerlegt enthemmt die Bühne, weil Gattin Tamara (Susanne Lehmann) die ihr geschenkten Filz-Pantoffeln nicht in gebührendem Maße würdigt. Boris (Anton Koelbl als pseudo-intellektueller, rückgratloser Softie) säuselt so lange, bis seine nach einem richtigen Mann lechzende Frau Nina (schön bieder: Angela Eickhoff) kurzfristig zu erwägen scheint, sich dauerhaft dem eigenen Geschlecht zuzuwenden. Und Rudi Knauss gibt den selbstzufriedenen Neureichen Puchow, der sich mit seiner alles-ist-käuflich Mentalität nur beim männlichen Teil der Anwesenden Freunde macht.

Galins Figuren sind auf der Suche. Nach Halt, Liebe, Rollenbildern oder der eigenen (Geschlechts-)Identität. Traurige Seelen, die für ein bisschen Glück und finanzielle Sicherheit alles geben würden. Am Ende dieses Theaterabends ist ihr Schicksal ungewiss, aber man wünscht ihnen alles Gute. Alltägliche Geschichten wie das Leben sie schreibt - packend inszeniert und mit Herzblut umgesetzt.

 
Tina Meß

 

 


Casting in Kursk

von Alexander Galin

Erika Ceh, Angela Eickhoff , Christine Kättner, Susanne Lehmann, Sonia Abril Romero, Britta Scheerer, Taro Berger, Glenn Giera-Bay, Patrick Hellenbrand, Rudi Knauss, Anton Koelbl

Regie: Claus Peter Seifert

Halle 7 Retten - Zerstören von Robert Woelfl


 

 

Kein Licht am Ende des Tunnels

"Ich würde nicht gern den Begriff ‚Abbild' oder ‚Bestandsaufnahme' verwenden, auch nicht ‚Panorama'. So einen Anspruch kann kein Stück erfüllen. Ich würde eher von Schlaglichtern sprechen." Robert Woelfl, Jahrgang 1965, übt sich in Bescheidenheit. Das ist nur verständlich, denn würde ein Autor diese Ansprüche artikulieren, würde man ihn ohne Zweifel verlachen. Und doch leistet Woelfl mit seinem dramatischen Text mehr, als er eingestehen möchte. Seine Schlaglichter verdichten sich in Claus Peter Seiferts Inszenierung in der Halle 7 zu einem bedrückenden Gefühl, das durchaus als ein wesentliches Gefühl unserer Zeit betrachtet werden kann.

 Sie existieren zwischen Exzess und Selbstmord, wobei der Zwischenraum, das eigentliche Leben, nicht mehr gefüllt wird. Zwei Selbstmorde und ein Versuch, der letztlich in einer beiläufigen Tötung gipfelt, zeichnen ein Bild des Grauens. Hat hier ein Autor die dramaturgischen Möglichkeiten ausgereizt um den größtmöglichen Effekt zu erzeugen? Schauen wir den Realitäten ins Auge: Alle 47 Minuten stirbt in Deutschland ein Mensch durch Suizid, alle 4 Minuten macht ein Mensch in Deutschland einen Suizidversuch, mehr als 11.000 Menschen sterben in Deutschland jedes Jahr durch Suizid. Angesichts dieser Zahlen muss man dem Autor einen echten Realitätssinn bescheinigen. Mit zwei Selbstmorden in einer und einer halben Stunde hält er sich sogar an die Statistik.

Der Grund ist brüchig, auf dem wir den Balanceakt vollführen, der sich Leben nennt. Katrin Gerheusers Bühnenbild spiegelte das deutlich wider. Der gesamte Bühnenboden bestand aus aufgebrochenem marodem Asphalt. Mehr bedurfte es nicht! Darauf vollführten die zehn Darstellerinnen und Darsteller ihren Krieg gegeneinander und ihren Selbsterhaltungskampf, der Menschlichkeit weitestgehend vermissen ließ.
 
   
 

Uwe Kosubek, Milan Pešl, Mykola Bogdanow, Leonid Semenov, Nadja Saeger

© Hilda Lobinger

 

 

Die Geschichte ist sehr komplex. Jana (Melina von Gagern) ist eine sensible Frau, die im Firmenmobbing nicht besteht und erfüllt von Todessehnsucht der Realität zu entfliehen versucht. Ihr Partner Hendrik (Markus Fisher) überschüttet sie mit seinem Positivismus und gebärdet sich wie ein Motivationstrainer. Dabei hat er sie längst verraten und beschläft einmal in der Woche (mehr rituell als sexuell) Sophia ( Nadja Saeger). Die wiederum weiß gar nicht, warum sie diese körperliche Beziehung pflegt. Sie wartet ab, um den Grund herauszufinden. Ihre Verlorenheit gipfelt darin, dass sie gar nicht erst bereit ist, ein Leben zu gestalten. Sie wartet darauf. Marian (Milan Pešl), selbst potentieller Suizidkandidat, verhindert Janas Selbstmord, ist aber zu keiner Beziehung mit der Frau fähig. Der Grund liegt im Elternhaus (Marion Niederländer, Leonid Semenov), das behauptet, "doch alles getan zu haben". Dabei ist seine Persönlichkeit auf der Strecke geblieben. Marian ist Bankrotteur. Er ist auf verhängnisvolle Weise der "Alles ist möglich!"-Mentalität des heutigen Neoliberalismus aufgesessen. Nelly (Daniela Voß) ist Teenager, flieht vor der verbiesterten Mutter (Dunja Bengsch), sucht Einen, der mit ihr geht und träumt vom schmerzfreien Tod, den es in Holland oder Belgien zu kaufen gibt. Am Rande des Geschehens reflektieren Richie (Mykola Bogdanow) und Michael (Uwe Kosubek) ihre wirtschaftliche Erfolglosigkeit. Ihr osteuropäischer Akzent ist dabei kein Klischee, sondern eine weitere reale Facette im Gesellschaftsbild.
Wenn sich die Figuren begegneten, zelebrierten sie die perfekte Welt oder versuchten es zumindest. Der Schein blieb gewahrt, auch wenn sich der Angstschweiß breit machte.

Claus Peter Seifert war einmal mehr ein exzellentes Händchen für Besetzungen beschieden. Alle Darsteller brillierten und heraus kam ein wunderbares Ensemblespiel. Der Regisseur überwand die (ungerechtfertigte) Bescheidung des Autors und schuf ein Abbild, ein düsteres zudem. Ohne einen solchen Anspruch zu behaupten, ließ er die Schauspieler ihre Geschichten erzählen und leben, gelegentlich auch exzessiv. Die Schicksale der einzelnen Figuren wurden geschickt miteinander verknüpft und heraus kam eine Gesellschaft, die gemeinsam im scheinbar unaufhaltsam dahinrasenden Zug sitzt, der durch einen Tunnel jagt und an dessen Ende kein Licht ist.

Robert Woelfl ist kein Apokalyptiker. Er sieht nur die Zeichen der Zeit. Und "Wehe dem, der die Zeichen sieht und sie nicht deuten kann." (Samuel Beckett) Regisseur Seifert war mit dieser Inszenierung ein Deuter.


Wolf Banitzki

 

 


Retten - Zerstören

von Robert Woelfl

Dunja Bengsch, Melina von Gagern, Marion Niederländer, Nadja Marie Saeger, Daniela Voss, Mykola Bogdanov, Marcus Fisher, Uwe Kosubek, Milan Pešl, Leonid Semenov

Regie: Claus Peter Seifert

Halle 7 Sexy Sally von Christian Lollike


 

 

Kulturindustrielle Produktion

Gruppenvergewaltigung Zeitungsbericht Staatanwaltschaft Mädchen Sex Missbrauch Justizopfer Jungs Angeklagte Zeugen Kampf Anerkennung Gewalt Tauschobjekt Macht Mechanismen - die Fakten aus dem Labor auf das Fertigungsband geworfen, zu einer dichten Szenenfolge zusammengefügt, diese ineinander versetzt und in verschiedenen Stilrichtungen abgefasst - fertig ist das Stück, mit dem der Autor das traditionelle Theater ablösen möchte. Dieses Werk ist also nicht an den herkömmlichen Kategorien zu messen, da es diese nicht mehr erfüllt.

Das inszenierte Ergebnis: Eine massive Holzwand teilte die Bühne in zwei Bereiche, wobei der hinter der Wand verborgene Konferenzraum über live-cam auf eine Leinwand übertragen wurde. Das erinnerte an Castorf und Pollesch aus Berlin, denen sich Lollike verbunden fühlt. Die Gestaltung von Bühne, Lichtregie, Kameraführung und Musik erfolgte auf künstlerisch und handwerklich ausgereifte Weise, wie man es aus gutem traditionellem Theater kennt. Auch Regie und Ensemble, oder in diesem Fall besser die Akteure, boten ausgezeichnete Leistungen. Also doch lieber Traditionsbezug in München?

Das Werk greift Zeitungsberichte auf: Im Stile einer Dokumentation wurde die Vergewaltigung von Sally abgehandelt. Dabei stand nicht fest, ob Sally tatsächlich Gewalt angetan worden war, oder ob sie nur passiv oder am Ende gar aktiv am Geschlechtsverkehr mit vier Jungs beteiligt gewesen war. Man hätte ihre Arme gehalten, wobei sie gleichzeitig aber wiederum auf allen Vieren am Boden kniete und von vier Jungs zwei abseits standen. War sie nun lustvoll am Geschehen beteiligt oder nicht? An diesem Widerspruch hingen die Argumente des Für und Wider, mit denen sich Richter, Staatsanwältin und Verteidigerin auseinander zu setzten hatten. Sally konnte dazu keinen Beitrag leisten, jedenfalls nicht vor Gericht, vor den beiden Jungs auch nicht, da zierte sie sich. Wenn sie jedoch für sich war, stellte sie eindeutig fest, dass sie nur an Sex interessiert war und ihre Fantasien hatte. Der einzige Mann, der Sally zu Hilfe kommen wollte, wird verurteilt. "Die Gerechtigkeit ... ist eine Frau, die sonntags Kuchen isst ..."

 

 

 
 

Dorina Pascu, Isabelle Höpfner

 

 

"Ein Ja ist ein Ja. Ein Nein ist ein Nein.", stellte die Staatsanwältin fest. Die Verteidigerin wiederum entgegnete: "Wir wissen doch alle, dass ein Nein auch ein Ja bedeuten kann." Die Sprache ist nur so lange verbindlich, wie alle in den Wörtern den gleichen Inhalt erkennen. Je näher das Wort an der Sache ist, umso unverkennbarer wird diese. Doch das ist heute im Zeitalter der Floskelei irrelevant geworden. Lollike setzte das Wort "begehren" wo es eigentlich heißen müsste "benutzt". Begehren impliziert mehr als nur schnelle sexuelle Befriedigung, es setzt menschliches Interesse voraus. Das kommt in seinen Texten nicht vor, denn dazu müssten die Figuren Charakter und Schicksal entwickeln. Doch darum geht es in der Aktion nicht. Die Mechanismen des Animalischen im Menschen sind es wohl, die den Autor faszinierten. Er hat es analysiert, freigesetzt und den Menschen, männlich oder weiblich, darauf reduziert.
Sally, dreizehnjährig, wird dargestellt als eine Fickpuppe ohne eigenen Willen und mit vorgefertigter Fantasie. Sexuelle Praktiken, die in Filmen vorgestellt werden, beschäftigen sie, diese gibt sie wieder, wird Anziehungspunkt für Jungen, die an Sally ihre ersten Selbstbestätigungsversuche unternehmen, was Sally wiederum zu Anerkennung verhilft. Zuweilen enträtseln sich die Figuren selbst, die keinen eigenen Satz mehr hervorbringen können, sondern reflexhaft plappern, was in der Situation üblicherweise von ihnen erwartet wird und das, um möglichst günstig abzuschneiden. Das ist Alltag in der Industriegesellschaft und Lollike verdeutlichte die Bilder. Aussagen traf er keine, das ist heute auch nicht mehr üblich. Standpunkte oder gar Lösungen sind mit traditionellen Werten und Vorstellungen verbunden und dem wurde der Kampf angesagt und der Spießigkeit und dem Humanismus auch. Gleichzeitig oder nacheinander oder durcheinander spielt dabei keine Rolle. Das ist Kunst aus der Kulturindustrie.

Diese scheinbar neue Qualität am Theater ist geringer als das, was sie abzulösen vorgibt. Sie vermittelt keine verbindliche Erkenntnis, bestenfalls Analyse und ist vielmehr die Unfähigkeit oder der Unwillen, zu einem Schluss zu kommen - man mache sich seinen eigenen Reim und stelle sich vor, das wäre Freiheit.


C.M.Meier

 

 


Sexy Sally

von Christian Lollike

Regina Welz, Ulrich Walljasper, Crisjan Zöllner, Thilo Prothmann, Isabelle Höpfner, Dorina Pascu

Regie: Dirk Engler

Halle 7 Vaterlos von Claudius Lünstedt


 

 

Auslöschung

Licht - Dunkelheit. Nur durch ihre Gegensätzlichkeit werden sie erfahrbar. Licht durchdringt die Dunkelheit. Die Materie, die Erde, der Mensch steht zwischen ihnen, steht zwischen Geheimnis und Erkenntnis. Wird das natürliche Gleichgewicht gestört, gewinnt eine der Kräfte die Überhand, so fällt der Mensch ins Bodenlose. Er tappt im Dunkeln, mystifiziert oder aber wähnt sich erleuchtet, allwissend. Dazwischen sucht er verzweifelt Halt in Realismus. Sowohl die absolute Dunkelheit als auch das universelle Licht löschen den Menschen aus.

"In Ägypten, wo Jupiter mit Io den Epaphus erzeugte, hatte auch Klymene dem Helios oder dem Sonnengotte den Phaeton geboren. Diesem warf einst Epaphus vor, daß er kein Sohn der Sonne sei, sondern daß seine Mutter sich dessen nur fälschlich rühme. Um auf die glänzendste Weise diesen bitteren Vorwurf zu widerlegen, begab sich Phaeton, auf Anstiften seiner Mutter, selbst zum Palast des Sonnengottes und ließ sich erst von ihm beim Styx zuschwören, daß er seine Bitte gewähren wolle; dann bat er ihn, daß er nur einen Tag den Sonnenwagen lenken dürfe. Helios der den Schwur nicht widerrufen konnte, mußte die unglückliche Bitte seinem Sohn gewähren, der, voller Wut den Wagen besteigend, die Sonnenpferde antrieb, welche bald, ihren Führer vermissend, aus dem Gleise wichen, zuerst dem Himmel und dann der Erde zu nahe kamen, daß Berg und Wald sich entzündeten und Quellen und Flüsse versiegten." Carl Philipp Moritz, 1791

Der junge Autor Claudius Lünstedt verknüpft in seinem dritten Werk "Vaterlos" die archaische Kraft des antiken Mythos mit dem blankem Realismus des Heute. Seine Sprache ist klar, schnörkellos und doch zutiefst poetisch und menschlich. Das Stück um den vaterlosen Felix ist geschickt konstruiert, zudem vielschichtig und transportiert doch zielgerichtet sein Anliegen. Sozialkritisch zeigt er die Probleme der jungen Generationen auf, in denen Vaterlosigkeit und überholte Männerbilder aufeinanderprallen. Die Welt gerät darüber aus den Fugen, aus der Ordnung und Orientierungslosigkeit sowie tödlicher Extremismus sind Folgen.
 
   
 

Golo Euler, Carolin Maiwald, Andreas Mayer

© Hilda Lobinger

 

 

Seine Geschichte: Felix wächst ohne Vater auf und wie seine Freunde Abadi und Lela erhält er keine Antworten auf die existentiellen Fragen. So träumt jeder der drei von seiner Zukunft, Abadi als Gipfelstürmer, Lela als Forscherin wie ihre Eltern und Felix träumt von seinem Vater und der Suche nach ihm. Aufhalten lässt Felix sich dabei nicht ...

Die Regie setzte auf die Tragkraft des Textes und das Konzept von Ulf Goerke ging auf. Er schuf klare Strukturen, ging in dieser scheinbar einfachen Geschichte geschickt mit Bewegung und mit Spannung um. Jede Situation war ausgefeilt. Unterstützt wurde er dabei von Felix Leuschner und Karsten Kielmann (Musik und Ton) und Peter Platz (Licht). Die Bühne von Stefan Oppenländer war sinngemäß funktional. Die Inszenierung verzichtete auf aufwendige künstliche Elemente und stellt die Figuren und deren Anliegen in den Vordergrund. Die Rollen waren stimmig besetzt und die Leistung des Ensembles absolut beachtenswert. Golo Euler gab einen fantasievollen suchenden Felix, allzeit voll Ernsthaftigkeit und mit dem Willen zur absoluten Konsequenz. Seine Mutter (Tini Prüfert) verstand es geschickt, sich um die konkrete Frage nach dem Vater zu winden und glaubhaft die Mär von Helios zu befördern. Carolin Maiwalds Lela durchlebte vom spielerisch freundschaftlichen Moment über Komplizenschaft und Zwiespalt bis hin zur verbindenden Träumerei die ganze Bandbreite der jugendlichen Gefühlswelt. Am Ende ging sie als Einzige in die Sonne. Besonders hervorgehoben sei Andreas Thiele, der als Aufseher nie wirklich zum Zuge kam und im Bestreben die alte männliche Ordnung zu vertreten, sich selbst auf die Füße trat.
Organ (Stefan Wilhelmi), der Vater Abadis und Träger der überholten Ordnung setzte Feuer gegen Feuer ...

... und an diesem Punkt steht die Gesellschaft. Die Inszenierung zeichnete ein sehenswertes Bild und zog den Zuschauer in Bann.



C.M.Meier

 

 


Vaterlos

von Claudius Lünstedt

Golo Euler, Tini Prüfert, Andreas Mayer, Carolin Maiwald, Stefan Wilhelmi, André Scioblowski, Andreas Thiele

Regie: Ulf Goerke

Halle 7 Das Pulverfass von Dejan Dukovski


 

 

Von der gewaltigen Lust

Es ist eine Kunst um die Inszenierung von Gewalt. Und um Gewalt geht es, denn der Mensch ist für den Mazedonier Dejan Dukovski "Das Pulverfass" schlechthin. Er meint natürlich den auf dem Balkan beheimateten Menschen, dem Temperament innewohnt, eine unvergleichliche Lebenskraft. Sie köchelt vor sich hin, kommt durch den kleinsten hochprozentigen Anlass zum Kochen und bereits bei der zweiten Widersetzlichkeit kocht sie über. Gnadenlos schlägt sie zu, hinterlässt mit Selbstverständlichkeit Tote. Seine Musik, kraftvoll beschwingt typisch, reißt mit, vermittelt eine positive Ahnung von den treibenden Kräften die am Werk sind, dortzulande. Hierzulande geht man ins Theater, frönt dem Voyerismus, um mit solch ungebrochener Emotionalität in Kontakt zu kommen.

Der junge Autor Dejan Dukovski hat seinen Landsleuten ins Gesicht, in die Leben gesehen. Seine Figuren bestechen durch launische Sprunghaftigkeit und ungebremste Expolsivität. Die Bildsprache ist einfach und direkt. "Ich will eine Kuttelflecksuppe. Ich wünsche mir zwei Gasthäuser. Das eine nehme ich auseinander, in dem anderen esse ich Kuttelflecksuppe." Deutlicher, existenzieller kann Mann kaum gezeichnet werden. (Inwieweit dies jedoch auch an der Übersetzung liegt entzieht sich der Kenntnis des Kritikers.) Was als Kabarettvorstellung auf die Bühne kam ist eine Geschichte, die sich in elf Szenen gliedert, jede für sich stehend und doch zieht sich ein erkennbarer Faden hindurch. Vom "Unfall" über die "Busfahrt" und den "zufälligen Zufall" bis zum "Pulverfass" führt das beachtenswerte Stück durch den Alltag am Balkan bis ins "gelobte Land" und wieder zurück. Auf dem Weg handelt es von Träumen, Begierden, Macht und Ohnmacht des Menschen.

Es ist schwierig Gewalt glaubhaft und nachvollziehbar auf die Bühne zu bringen. Regisseur Mario Andersen stellte sich der Anforderung mit dieser aufschlussreichen Inszenierung. Mit ihm taten dies die vierzehn nicht slawischen jungen Darsteller des Ensembles. Emotionalität allerdings war nicht ihre Stärke und so geriet manche drastische Wendung leicht in platte Gewaltklischees, denen eben genau jene ursprüngliche Kraft fehlte, die einen solchen Vorgang zwangsläufig heraufbeschwört. Das stand in starkem Kontrast zur Musik, und dem Conferencier Alexey Mironov der von Akt zu Akt führte. Mironov beherrschte die Klaviatur der Mimik und der Körpersprache hervorragend, er war präsent, doch das liegt wohl in seiner Natur. Ebenso Sergej Iwanow, er hatte als Busfahrer nur zwei Sätze zur Verfügung die Figur zu gestalten. Diese Sätze gaben jedoch den Blick in den Hintergrund frei. Darstellerisch kam ihnen David Bredin als Polizist Dimitrije am nächsten. Sein Gesicht war Stahl, seine Gestik knapp und unbeugsam.

Stahl ist das Material, das dieser Gewalt widerstehen kann. Aus Stahl war das Bühnenbild, ein Gerüst in Quaderform, mit einer runden Spielfläche und einer geschlossenen Türe, kein Ausgang, auch wenn sich einer noch so sehr dagegen warf. Ein genialer Entwurf von Jörg Brombacher, der es gemeinsam mit Björn Gerum (für die Lichtregie verantwortlich) schaffte, einen bleibenden Eindruck von der am Balkan beständigen Welt zu entwerfen.

Das Stück zeichnet in hervorragender Weise eine aktuelle Männergesellschaft, die sich im Kräftemessen gefällt. Sie pflegt und zelebriert ihre Mechanismen. Die Frauen sind, in der Inszenierung bildhaft anschaulich in einen Käfig verbannt, Zuschauerinnen, bestenfalls Objekte der Begierde. "Ich hatte einen Traum ... den Inhalt habe ich vergessen.", sind die letzten Worte Dimitrijes bevor er abtritt. Das sollte nachdenklich machen!


C.M.Meier

 

 


Das Pulverfass

von Dejan Dukovski

Alexey Mironov, Sergej Iwanow, Marcus Staab Poncet, David Bredin, Cyrill Schauenstein-Matusch, Thomas Sprekelsen, Lydia Schamschula, Tammo Messow, Katharina Neuendorfer, Petra Preuss, Michael Lindl, Christoph Schlemmer, Cyrus Rahbar, Yves Grimmler, Gabriele Grawe

Regie: Mario Andersen
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