Halle 7 Kommt ein Mann zur Welt von Martin Heckmanns


 

 

Gesellschaftsbild mit Suchendem

"Ich möchte noch einmal von vorne anfangen. Ich weiß jetzt, wie es geht." Dieser Satz ist glaubhaft! Vermutlich weiß ihn jeder über 40. Aber ändert es was? Wohl kaum. Wir kommen vermutlich nur auf die Welt, um alle Unsinnigkeiten und Fehler unserer Vorfahren noch einmal zu begehen. Es ist wie Theater. Letztlich werden immer nur wieder die gleichen Geschichten in anderem Gewand erzählt.

In Martin Heckmanns Lebensgeschichte des Bruno Stamm von dessen Geburt bis zu Bahre lernt der Zuschauer drei Generationen kennen. Brunos Vater wollte Bruno nicht, weil er seine künstlerischen Karriere, von der er absolut überzeugt war, noch nicht auf der Reihe hatte. Folglich war Bruno der Hinderungsgrund für eine große Karriere. Bruno selbst driftete dann auf der Suche nach seinem künstlerischen Ausdruck durchs Leben. Immerhin hatte er als Schlagersänger einen Hit. Der entstand im Gefängnis, als Bruno sich nach seiner Suse vor Sehnsucht verging. Auch Bruno scheiterte, nachdem Suse ihm einen Sohn geboren hatte. Der war vermutlich der Grund, warum Bruno selbst scheitern musste, wie schon sein Vater an ihm. Am Ende stand Brunos Sohn vor dem Grabstein des Vaters und meldete mit dem Nachdenken über einen Grabspruch seinerseits künstlerische Ambitionen an.

Es geht um Identitätsbildung. Darum ringt unbestritten jeder, doch im vorliegenden Fall spielt eine Besonderheit mit hinein. Alle Männer der drei Generationen sind vom Kunstvirus befallen. Damit sichert Autor Heckmanns seinen Figuren Sensibilität und mangelnde Anpassungsfähigkeit. Sie sind folglich originär und nicht normiert. Das macht die Sache um so spannender, denn Bruno sucht wirklich. Er sammelt Erfahrungen, ehe er scheitert. Das ist in einer Welt des äußeren und inneren Opportunismus schon viel. Die Geschichten, die Bruno erlebt sind eigentlich Klischees und Heckmanns Text zudem streckenweise kopflastig. Das Programmheft ist im Vergleich zum Bühnentext jedoch eine tödliche Attacke auf jegliche Sinnlichkeit. Diese auf der Bühne zu erhalten, gelang denn Darstellern dennoch.

 

   
 

© Lisa-Maria Kroll

 

 

Regisseur Marcus Schlappig hatte von Raum und Zeit abstrahiert, was den philosophischen Ansätzen des Stückes gerecht wurde. Rollen-, Raum- und Zeitwechsel wurden von den Darstellern deutlich erspielt. Anja Büld hatte eine Bühne geschaffen, der ebenso unkonkret wie praktisch war. Ungleichmäßige monochrome Türme aus kleinen Kartons begrenzten sie Bühne rundum, waren ebenso die Tower Manhattans wie die Warenlagen der Konsumtempel. Die Darsteller, Ralf Göhner als Bruno ausgenommen, waren gänzlich in Weiß gekleidet (Kostüme: Regina Warncke). Da der ganze Lebensweg Brunos beschrieben wurde, gestalteten sie eine Vielzahl von Rollen.

Ralf Görner überzeugte als Bruno. Physisch verlieh er, von frühkindlichen Krümmungen, dem pragmatischen Leben ausweichend, bis hin zur greisenhaften Beugung, der Figur Brunos Gestalt. Mental, vom Gewinner bis zum Verlieren, gestaltetete Görner seinen Part differenziert und logisch. Undine Backhaus (als Mutter oder Tina, die einen anderen küsst) fiel die Aufgabe zu, Bruno an sich scheitern zu lassen. Ihre Härte war eine Mischung aus Egoismus und natürlicher Selbsterhaltung. Anna Budde (z.B. als Suse) zeigte hingegen eine mädchenhaft verspielte Sensibilität, die letztlich jedoch in Ambitionslosigkeit zerbröselte. Gerrit Krause agierte glatt und an die gesellschaftlichen Gegebenheiten fast darwinistisch angepasst in zahlreichen Nebenrollen. Adam Markiewicz, zierlich und energetisch, spielte die Rollen, deren Figuren dicht an Bruno herankamen, den Kumpel, den Polizisten oder den Sohn. Schließlich rundete Dave Wilcox das "Gesellschaftsbild mit Suchendem" ab. Schon wegen seiner Physiognomie fielen ihm die Rollen tonangebender oder tönender Zeitgenossen zu.

Dieser Inszenierung musste man konzeptionelle, wie ästhetische Geschlossenheit zugestehen, die dank des guten Ensemblespiels zu einem interessanten Theaterabend wurde.

 
Wolf Banitzki

 

 


Kommt ein Mann zur Welt

von Martin Heckmanns

Undine Backhaus, Anja Budde, Ralf Göhner, Gerrit Krause, Adam Markiewicz, Dave Wilcox

Regie: Marcus Schlappig

Halle 7 Sinn von Anja Hilling


 

 

Eigentlich Sinnsuche

Fünf Paare resümieren und erleben nach, was sie als Liebe oder Verliebtsein miteinander empfunden hatten. Anja Hillings Szenenfolge weist durchgängig Verknüpfungen auf, so dass sich die scheinbar unabhängig voneinander ablaufenden Szenen zu einem emotionalen Kosmos vereinigen. Die Autorin wählt ein Mischung aus dramatischem Reflex und epischer Rückerinnerung. Ausgestattet mit opulenten Sprachbildern nähern sich die Protagonisten auf z.T. sehr alltagslyrische Weise, um sich schließlich mit Vorsatz, den äußeren Umständen gehorchend oder weil einer von ihnen auf der Strecke bleibt, zu trennen. Dabei spart die Autorin nicht mit äußerer Dramatik. Da schneidet ein Freund dem anderen die Kehle durch, weil der seine Freundin "gefickt" hat. Oder eine von der Umwelt als psychisch auffällig geouteten Figur zerbeißt sich die Zunge, um sich mit einer frisch eroberten Bekannten im blutigen Kuss zu vereinigen.

Das Stück ist in der Jugendkulturszene angesiedelt. Einige Szenen spielen im "Bergdorf" und Eingeweihte wissen, es handelt sich dabei um das Berliner Berghain, den angesagtesten Technoclub Berlins. Spätestens nach diesem Stück weiß man, dass Anja Hilling (Jahrgang 1975) bekennende Berlinerin ist und ihr Sprachduktus stark vom hauptstädtischen Lebensgefühl, insbesondere der unter Dreißigjährigen, geprägt ist. Da wird gefickt, gekifft, verpisst und nicht selten gekotzt.
 
   
 

Sebastian Schäfer, Beatrice Murmann

© Hilda Lobinger

 

 

Anja Hilling gelang (2007) mit diesem Auftragswerk für das Thalia Theater Hamburg und der Comédie de Saint Étienne ein sehr authentisches Bild von einer heutigen Jugend in ihrer (verzweifelt anmutenden) Suche nach einem Sinn hinter der Liebe oder dem Verliebtsein. Leider ist ihr Blick auf diese Zustände nicht kritisch, sondern dokumentarisch. Es lag scheinbar auch nicht in der Intention der Autorin, eine Erschütterung auszulösen über die emotionalen Verhältnisse. Eine ganze Szene gefällt sich in diesem Lebensgefühl, das sie zu einer "Gesellschaft", der Gesellschaft der nicht aufeinander Bezogenen, zusammenschweißt. Allein beim Zuschauer, der eine Generation älter ist, stellt sich diese Erschütterung unweigerlich ein, angesichts der Unfähigkeit junger Menschen, "erfüllende und erfüllte" Beziehungen einzugehen. (Ich weiß, das klingt uncool.)

Regisseur Alex Novak folgte der dramatischen Vorlage denn auch ohne Wenn und Aber. Das machte die Inszenierung zu einer künstlerisch geschlossenen, engagierten und vor allem temporeichen. Harte Beats, begleitet von Discolicht läuteten die Szenen ein. Alle zehn Darsteller bevölkerten die Szene, die abrupt endete. Zurück blieben zwei Protagonisten auf der absolut leeren Bühne (Tara Shamskho), die sinnfälliger Weise an ein Tabledance-Podest erinnerte. Das Publikum war zu beiden Seiten dieser Bühne platziert. Dann wurde seziert, gestritten, ausgewichen und für kurze Momente sich angenähert. Die einzelnen Szenen liefen nach immer ähnlichem Schema ab, an deren Ende die Trennungen standen. Anja Hilling hatte jede Figur mit Besonderheiten ausgestatten, die Regisseur Novak von den Darstellern deutlich spielen ließ. Das machte die Figuren sehr menschlich.

Die rasante Spielweise, wohl Ausdruck einer atemlosen Zeit und der Gier nach Leben oder auch nur nach dem Kick, wurde von den Darstellern auf unterschiedlichste Weise bewältigt. Am stimmigsten gelangen die physischen und stimmlichen Herausforderungen den Darstellern der letzten beiden Szenen: Beatrice Murmann / Sebastian Schäfer und Marion Freundorfer / Joel Harmsen. Diese Schauspieler konnten das hohe Spieltempo am besten mit den zu transportierenden Inhalten koordinieren und ihr Spiel erschien bei aller physischen Aufwendigkeit am natürlichsten und eingängigsten. Dies war auch deutlich an den Reaktionen des Premierenpublikums abzulesen. Die vielleicht wichtigste Qualität der Inszenierung lag jedoch im intelligenten Umgang mit dem szenischen Witz, der reichhaltig in der Vorlage existiert. Regisseur Novak verschenkte nichts und bewies damit echtes Talent im Umgang mit einem dramatischen Text.

So war das Ergebnis, bei allen Depressionen, die die Vorlage (vermutlich ohne es zu wollen) auslösen könnte, ein heiteres. Aber ist es allemal besser, eine Tragödie lachend zu überwinden, als sie wie einen Sisyphosstein davon rollen zu müssen.

 
Wolf Banitzki

 

 


Sinn

von Anja Hilling

Marion Freundorfer, Joel Bela Harmsen, Frank Hennenhöfer-Richter, Anja Herbertz, Malika Kilgus, Beatrice Murrmann, Jens Uwe Richter, Angela Sandritter, Sebastian Schäfer, Christian Streit

Regie: Alex Novak

Halle 7 Hotel Disparu von Rebekka Kricheldorf


 

 

Willkommen in der Post-Postmoderne

Acht Menschen umkreisen einander in einer Hotellobby, die kaum etwas diesseitiges hat. Die Autorin Rebekka Kricheldorf nennt den Ort "Hotel Disparu". Das Wort Disparu hat mehr als eine Semantik. Neben "ausgerottet" kann es auch "verschollen" oder "vermisst" bedeuten. Tatsächlich scheint es sich um einen magischen Ort zu handeln, dem die Beteiligten nicht entfliehen können, so sehr sie es auch wünschen, und von dem aus sie auch keinen wirklichen Kontakt zur Realität knüpfen können. Dabei schwingt die Realität ständig mit, lastet auf den Personen wie ein Fluch. Der Bruder, ein somnabul wirkender Alexander Maaz, und die Schwester, eine bis zum Siedepunkt gereizte Stephanie Müllner, versuchen den Freitod des Bruders abzuschütteln. Vergeblich … Eine Mutter, Cocktail schlürfend und agonisch gespielt von Marion König, wehrt immer wieder die Ansprüche ihrer Tochter ab, die ein Erbe für eine Existenzgründung benötigt. Maren Hoff wirkt in ihrem unternehmerischen Drang so überambitioniert, dass der Einzug in eine psychiatrische Klinik angemessener wäre, als der in die Tempel des Kapitals. Es sei denn, es bestünde kein Unterschied. Aber ob das in den Intentionen der Autorin lag, bleibt ungewiss. Ebenso ungewiss ist der Inhalt des Päckchens, den ein Mann zu tragen hat. Dieser wird von Stefan Evertz gegeben. Scheinbar wahllos hüpfen Vokabeln durch den Raum, die alles und nichts suggerieren können, von Kriegserlebnissen bis Partnerverlust. Diesem Mann steht (dramaturgisch) mehr oder weniger eine Frau gegenüber, kühl und scheinbar emotionslos gespielt von Ines Novak. Es ist wohl das Kalkulierte, das Unverbindliche, das "sich nicht auf die Vorgänge einlassende" der Figur, die ihr den Abgang aus dem emotionalen Labyrinth ermöglicht. Anders eine zweite Frau mit einer multiplen Persönlichkeit, die wenig abwechselungsreich von Katharina von Harsdorf gegeben wird. Diese Rolle spiegelt die fortschreitende Beliebigkeit menschlicher Existenzen, wie sie hier auf engstem Raum versammelt sind. Nur einer sticht heraus, der Portier. Stefan Maaß verleiht der Figur mit brillant komödiantischen Mitteln etwas diabolisches. Er erscheint und verschwindet auf nebulöse Weise und kommentiert die Vorgänge mit der verschmitzten Nachdenklichkeit eines Alchimisten. Allen Personen fehlt der Name, was sie zu Unpersonen macht.
 
   
 

Maren Hoff , Stefan Maaß , Marion König

© Hilda Lobinger

 

Das wäre eine Variante, wie man dieses Stück erleben könnte. Könnte, wohlgemerkt, denn die Autorin schuf einen Reigen szenischer Entwürfe, aus dem sich die Schauspieler nach eigenem Gustos bedienen können, so sie es wollen und so es der Regisseur denn zulässt. Welchen Weg Dieter Nelle wählte, können nur nachfolgende Besucher wissen. Vermutlich bleibt es bei einem Stück ohne Variationen. Was in den Medien als neue und ungewöhnliche Form gefeiert wird, ist weder neu noch ungewöhnlich, es ist schlichtweg dem Entstehungsprozess des Stückes am Theaters am Neumarkt geschuldet, zu dessen 40. Geburtstag dieses Auftragswerk entstand. Autorin Rebekka Kricheldorf hatte gemeinsam mit den Regisseuren Ingo Kerkhof, Erich Sidler und mit dem Ensemble aus Improvisationen Geschichten und Figuren geschaffen, die szenisch recht gut nebeneinander existieren konnten, sich aber weder bedingen, noch in näherem oder weiterem Zusammenhang stehen. Das Ergebnis ist theatralisches Patchwork und das Verbindende ist das Disparate.


Regisseur Dieter Nelle machte das Beste daraus, nämlich eine artifizielle Bilderschau, die nur eines verband, ein durchgängiges Fundament aus Klanginstallationen (Christian Hack und Stefan Evertz), auf dem Emotionen in den Schwebezustand gerieten. Wenn diese Inszenierung sehens- und hörenswert war, dann keinesfalls wegen der allzu banalen Geschichten ohne Plot, sondern wegen des Vermögens des Spielleiters und der Darsteller, eine Abgehobenheit von den Realitäten zu erzeugen, die teilweise betörte.

Hinzu kam der Spielraum der darkBox, seine abgegriffene Nüchternheit - ein Raum der nichts sagen will oder kann - , der trotz oder gerade wegen die Sparsamkeit der Ausstattung durch Silvia Maradea eine transzendentale Aufwertung erfuhr. Regisseur Nelle ließ auch den hinteren Raum mitbespielen und entgrenzte dadurch. Der Besucher kann eine Inszenierung erleben, die wohl ausschließlich wegen Darstellern wie Stefan Maaß oder Alexander Maaz und einiger gelungener Regieeinfälle im Gedächtnis haften wird. Es wird kaum etwas über den Inhalt zu sagen bleiben.

Das erinnert doch allzu sehr an die Postmoderne, an Robert Wilson und (den sehr späten) Heiner Müller, wenn sie einander denn trafen. Und da es schwer ist, die Postmoderne noch einmal zu erfinden, bleibt nur anzumerken: Willkommen in der Post-Postmoderne!

Da sich die Spielzeit dem Ende nähert, sei ein Hinweis erlaubt. Einer der meistgespielten Autoren im deutschsprachigen Raum in dieser Spielzeit war Lars von Trier. Auf heimischen Bühnen war und ist zu sehen: Manderlay, Dogville, Braking The Waves und Idioten. Diese Stücke, vom Publikum durchweg gefeiert, leben nicht von der Ästhetik, denn Dogma lässt sich auf der Bühne nicht oder nur begrenzt umsetzen. Sie leben von den herausragenden Geschichten, die intellektuelle und moralische Herausforderungen sind und die in ihrem narrativen Ansatz allemal (im Gegensatz zu Hotel Disparu) über die Alltagserfahrungen des Betrachters hinausgehen. Die deutsche Theaterliteratur (und das Theater hatte darauf entscheidenden Einfluss) scheute in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine gut erzählte Geschichte wie der Teufel das Weihwasser. Fragmentierung der Realität, der Charaktere, der Geschehnisse war das Zauberwort. Nun haben wir so lange herumfragmentiert, dass keiner mehr weiß, worum es in der Realität und auf dem Theater eigentlich noch geht. Aber vielleicht macht der Trend hin zur gut erzählten Geschichte dank Lars von Trier ja Schule.

 
Wolf Banitzki

 

 


Hotel Disparu

von Rebekka Kricheldorf

Stefan Evertz, Katharina von Harsdorf, Maren Hoff, Marion König, Stefan Maaß, Alexander Maaz, Stephanie Müllner, Ines Novak

Regie: Dieter Nelle

Halle 7 Checkpoint von Joerg Bitterich & Ulf Goerke


 

 
Von Cojoten, Mexikanern und anderen lichtscheuen Geschöpfen

"Checkpoint" ist eine schmuddelige Kneipe an der Mexikanischen Grenze. Sie wird bevölkert von zwielichtigen Gestalten, die mit Schleusertätigkeiten ihren Lebensunterhalt verdienen. Sie nehmen die "Migs", die illegalen Einwandrer in Empfang und leiten sie ihren Billigjobs zu. Doch dann bricht der Strom ab und eine Krisensituation kommt auf. Es bleibt Zeit, über die Problematik nachzudenken. Man kommt dahinter, dass die "Migs" eine neu entstehende Mittelschicht werden könnten. Was dann? Die Regierung hilft. Ein Agent taucht auf, der die Sache wieder in Gang bringt. Die Einwanderung, denn die USA ist ein Einwanderungsland, wird legal, nur dürfen die "Migs" das nicht wissen, sonst glauben sie, sie hätten Rechte und würden höhere Löhne fordern. Das jedoch schadet der Wettbewerbsfähigkeit. So pervers es auch klingen mag, nach den Gesetzen der Ökonomie ist es zutreffend. Nebenbei, in den USA ist kein Bürger verpflichtet, einen illegalen Einwanderer anzuzeigen. Ist das nun Menschlichkeit oder doch nur der Ökonomie geschuldet?

Das kapitalistische System ist ein System der Sklaverei, und zwar so effizient wie nie vorher. In 400 Jahren transportierte man ca. 12 Mio. Sklaven in die USA. In den letzten 10 Jahren wurden in Südostasien 30 Mio. Frauen und Kinder verkauft. (Programm zur Inszenierung) Die letzte Geschäftsidee für den "Checkpoint" ist allerdings die perverseste. Die Kneipe wird zum Mittelpunkt eines Erlebnisparks für illegale Grenzübertritte. Wer nun meint, Joerg Bitterich und Ulf Goerke hätten diese völlig bizarre Idee im Vollrausch entwickelt, dem sei gesagt, es gibt diesen Erlebnispark bereits im mexikanischen Dörfchen El Alberto. Der Park mit realistisch wirkenden Simulationen ist ein echter Renner.
 
   
 

Katinka Mache, Simin Soraya, Theresa Bendel, Andres Hilscher, Hans Kitzbichler, Norman Sonnleitner, Marco Wohlwend

© Hilda Lobinger

 

 

Im Programmheft kann der Theaterbesucher einige Zeilen von Hans Magnus Enzensberger über das "Zivilisatorische Minimum" lesen. Nach der Vorstellung wird er wissen, was davon noch übrig und wie gefährdet dieses Minimum dort ist, wo es noch fragmentarisch existiert. So abstrus die Argumentationen im Text von Bitterich auch scheinen mögen, sie sind mit Sicherheit ganz dicht dran am Kern der Wahrheit.

Regisseur Ulf Goerke, der die Szenen gemeinsam mit Joerg Bitterich erarbeitete, setzte auf die Intelligenz der Dummheit. Es sind weitestgehend schlichte Figuren, einfache und ungebildete Leute, die dieser Art des Verbrechens nachgehen, um irgendwie in der Wüste zu überleben. Manches klang wie Biertisch und war es auch, wenngleich hier der Tequila floss, reichlich. Und so war das Bühnenbild von Julia Ströder folgerichtig ein den ganzen Raum durchtrennender Bartresen. Dieser war zugleich Staatsgrenze und Gogotisch, Aussichtsturm und Schanze. Die Kostüme und der Spielhabitus der Akteure versetzte den Zuschauer in ein B-Movie. Schrill und laut (gelegentlich zu laut und polternd) ging es zu und den Betrachter beschlich das ungute Gefühl, dass es gerade deshalb authentisch sein könnte.

Einen einzelnen Darsteller herauszuheben, hieße die Leistung der anderen unter den Scheffel zu stellen. Es war ausgewogenes Ensemblespiel, das auch stille und sehr berührende Momente hatte, beispielsweise, wenn Gedichtzeilen von Ferdinand Freiligrath an die Auswanderer zitiert wurden. Dies geschah gleich in mehreren Sprachen und es wurde deutlich, dass uns eine Geschichte einholt, die wir längst überwunden glaubten.

Joerg Bitterich und Ulf Goerke gelang gutes politisches Theater, das auf artifizielle Ansätze nicht verzichtete. Sie leisteten dabei Aufklärung im dialektischen Sinne, denn sie brachten dem Betrachter die Wahrheiten auf komplexe Weise sehr nahe. Manchem würde es zu nahe sein, allein ich habe in München drei Bekannte, die sich ihren Schmutz von Philippinas wegräumen lassen. Darunter ist auch eine Illegale. Es ist doch erstaunlich, wie gut die Verdrängung funktioniert. Solange das deutsche Volk mit der Stimme des Parlamentes spricht sind wir alle durch die Bank Gutmenschen. Privat, … na ja, da wird schon mal nivelliert.

Wir sitzen ja auch warm und trocken in der Festung Europa und uns geht das Ganze ja nur bedingt etwas an. Die Burgenbauer scheuen schließlich weder Kosten noch Mühen. Doch, die Sache hat einen Haken, wie Enzensberger schrieb: "Je heftiger sich eine Zivilisation gegen eine äußere Bedrohung zur Wehr setzt, je mehr sie sich einmauert, desto weniger hat sie am Ende zu verteidigen." (Programmheft)

 
Wolf Banitzki

 

 


Checkpoint

von Joerg Bitterich & Ulf Goerke

Theresa Bendel, Andreas Hilscher, Hans Kitzbichler, Katinka Maché, Norman Sonnleitner, Simin Soraya, Marco Wohlwend

Regie: Ulf Goerke

Halle 7 Wörter und Körper von Martin Heckmanns


 

 

Warten auf den Zusammenhang

Ein namenloser Bahnhofsvorplatz in einer namenlosen Stadt ist Schauplatz von Martin Heckmanns' Stück Wörter und Körper, das sich Regisseur Markus Schlappig für seine aktuelle Inszenierung im Theater Halle 7 ausgesucht hat. Demgemäß stellt Anja Büld einen steril-weißen, multifunktionalen Kubus in die darkBOX (Licht: Hans-Peter Boden), der in seinem reduzierten Design den weltweiten Einheitsbrei von Edelboutiquen und In-Clubs wieder spiegelt und somit eine passende Spielfläche für das Aufeinandertreffen verlorener Großstadtpflanzen bietet, das nun seinen Lauf nimmt.

Das 12-köpfige Ensemble kommt und geht meist durch namentlich beschriftete Türen. Den Zuschauer freuts angesichts der Menge der Figuren. Ein Panoptikum menschlicher Prototypen, wie man sie in jeder Stadt finden kann: der schmierige Geschäftsmann, die Bedienung in der Eckkneipe, die betrogene Ehefrau, die junge Geliebte ... Sie alle sind begegnen Lina Sommer (Anne Diedering, teils intensiv, teils grenzwertig naiv). Lina, die neben Mutter, Wohnung und Arbeit auch ihre Sprache zumindest teilweise verloren hat, wird im Laufe des eindreiviertel Stunden dauernden Abends die Leben der anderen gehörig auf den Kopf stellen. Sie wird zum Störfaktor im reibungslosen Ablauf des Alltags, zum Außenseiter, fällt durch das nicht einhalten sprachlicher Codes durch jedes Verständigungsraster.

Hans Hirschmüller verknüpft als ruhender Pol und allwissender Erzähler die verschiedenen Episoden, er verfügt als einziger über eine konsistente Sprache. Gemeinsam mit Jolanta Szczelkun (Live-Musik, Komposition) fungiert er als allgegenwärtiger und dennoch nie aufdringlicher Beobachter und Kommentator dieses Ringens um Worte und Identitäten. Durchdringt man die präzise gearbeitete Sprachschicht, werden schnell exemplarische Lebens-Geschichten sichtbar: Carolin Maiwald gibt die kanariengelbe Powerfrau, die ihren ebenso wie verheirateten wie selbstzufriedenen Liebhaber (Michael Sattler) erst zu akrobatischen Liebesspielen verleitet und ihm im Anschluss den Laufpass gibt. Sven Schöcker schwebt als "Passant" die meiste Zeit in musikalischen Sphären. Für ihn ist Sprache keine Selbstverständlichkeit und die richtige Replik schon gleich gar nicht. Julia Metternich verteilt als kokette Bardame im rosa Piratenoutfit (Kostüme: Fabiola Schiavulli) Jägermeister und Kaffee an ihre Kunden. Alle Figuren befinden sich auf der Suche: nach sich selbst, dem richtigen Partner, den Wahnsinnsauftrag, dem richtigen Wort, nach der Liebe.

   
     

 

In seiner ausgezeichneten Dekonstruktion von Wort und Sinn zeigt Martin Heckmanns, auf welch dünnem Eis sich die vermeintlich banale Alltagskommunikation bewegt. Phrasendrescherei wird als bedeutungslos entlarvt, die Figuren haben Probleme, ihr Gegenüber wirklich zu verstehen. Die Sprache steht als dreizehnter Mitstreiter im Mittelpunkt und das ist gut so. Regisseur Markus Schlappig vertraut zu recht auf Heckmanns' Sprachkunstwerke und gibt ihnen den Raum, den sie benötigen. Anhaltender Applaus.

Tina Meß

 

 


Wörter und Körper

von Martin Heckmanns

Anne Diedering, Annette Kreft, Carolin Maiwald, Julia Metternich, Antonia Schiavulli, Jolanta Szczelkun, Alica Weirauch, Samuel Dahn, Daniel Merten, Michael Sattler, Wulf Schmid-Noerr, Dave Wilcox

Regie: Markus Schlappig
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