Halle 7 Sinn von Anja Hilling
Eigentlich Sinnsuche
Fünf Paare resümieren und erleben nach, was sie als Liebe oder Verliebtsein miteinander empfunden hatten. Anja Hillings Szenenfolge weist durchgängig Verknüpfungen auf, so dass sich die scheinbar unabhängig voneinander ablaufenden Szenen zu einem emotionalen Kosmos vereinigen. Die Autorin wählt ein Mischung aus dramatischem Reflex und epischer Rückerinnerung. Ausgestattet mit opulenten Sprachbildern nähern sich die Protagonisten auf z.T. sehr alltagslyrische Weise, um sich schließlich mit Vorsatz, den äußeren Umständen gehorchend oder weil einer von ihnen auf der Strecke bleibt, zu trennen. Dabei spart die Autorin nicht mit äußerer Dramatik. Da schneidet ein Freund dem anderen die Kehle durch, weil der seine Freundin "gefickt" hat. Oder eine von der Umwelt als psychisch auffällig geouteten Figur zerbeißt sich die Zunge, um sich mit einer frisch eroberten Bekannten im blutigen Kuss zu vereinigen.
Das Stück ist in der Jugendkulturszene angesiedelt. Einige Szenen spielen im "Bergdorf" und Eingeweihte wissen, es handelt sich dabei um das Berliner Berghain, den angesagtesten Technoclub Berlins. Spätestens nach diesem Stück weiß man, dass Anja Hilling (Jahrgang 1975) bekennende Berlinerin ist und ihr Sprachduktus stark vom hauptstädtischen Lebensgefühl, insbesondere der unter Dreißigjährigen, geprägt ist. Da wird gefickt, gekifft, verpisst und nicht selten gekotzt.
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Sebastian Schäfer, Beatrice Murmann
© Hilda Lobinger
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Anja Hilling gelang (2007) mit diesem Auftragswerk für das Thalia Theater Hamburg und der Comédie de Saint Étienne ein sehr authentisches Bild von einer heutigen Jugend in ihrer (verzweifelt anmutenden) Suche nach einem Sinn hinter der Liebe oder dem Verliebtsein. Leider ist ihr Blick auf diese Zustände nicht kritisch, sondern dokumentarisch. Es lag scheinbar auch nicht in der Intention der Autorin, eine Erschütterung auszulösen über die emotionalen Verhältnisse. Eine ganze Szene gefällt sich in diesem Lebensgefühl, das sie zu einer "Gesellschaft", der Gesellschaft der nicht aufeinander Bezogenen, zusammenschweißt. Allein beim Zuschauer, der eine Generation älter ist, stellt sich diese Erschütterung unweigerlich ein, angesichts der Unfähigkeit junger Menschen, "erfüllende und erfüllte" Beziehungen einzugehen. (Ich weiß, das klingt uncool.)
Regisseur Alex Novak folgte der dramatischen Vorlage denn auch ohne Wenn und Aber. Das machte die Inszenierung zu einer künstlerisch geschlossenen, engagierten und vor allem temporeichen. Harte Beats, begleitet von Discolicht läuteten die Szenen ein. Alle zehn Darsteller bevölkerten die Szene, die abrupt endete. Zurück blieben zwei Protagonisten auf der absolut leeren Bühne (Tara Shamskho), die sinnfälliger Weise an ein Tabledance-Podest erinnerte. Das Publikum war zu beiden Seiten dieser Bühne platziert. Dann wurde seziert, gestritten, ausgewichen und für kurze Momente sich angenähert. Die einzelnen Szenen liefen nach immer ähnlichem Schema ab, an deren Ende die Trennungen standen. Anja Hilling hatte jede Figur mit Besonderheiten ausgestatten, die Regisseur Novak von den Darstellern deutlich spielen ließ. Das machte die Figuren sehr menschlich.
Die rasante Spielweise, wohl Ausdruck einer atemlosen Zeit und der Gier nach Leben oder auch nur nach dem Kick, wurde von den Darstellern auf unterschiedlichste Weise bewältigt. Am stimmigsten gelangen die physischen und stimmlichen Herausforderungen den Darstellern der letzten beiden Szenen: Beatrice Murmann / Sebastian Schäfer und Marion Freundorfer / Joel Harmsen. Diese Schauspieler konnten das hohe Spieltempo am besten mit den zu transportierenden Inhalten koordinieren und ihr Spiel erschien bei aller physischen Aufwendigkeit am natürlichsten und eingängigsten. Dies war auch deutlich an den Reaktionen des Premierenpublikums abzulesen. Die vielleicht wichtigste Qualität der Inszenierung lag jedoch im intelligenten Umgang mit dem szenischen Witz, der reichhaltig in der Vorlage existiert. Regisseur Novak verschenkte nichts und bewies damit echtes Talent im Umgang mit einem dramatischen Text.
So war das Ergebnis, bei allen Depressionen, die die Vorlage (vermutlich ohne es zu wollen) auslösen könnte, ein heiteres. Aber ist es allemal besser, eine Tragödie lachend zu überwinden, als sie wie einen Sisyphosstein davon rollen zu müssen.
Wolf Banitzki
Sinn
von Anja Hilling
Marion Freundorfer, Joel Bela Harmsen, Frank Hennenhöfer-Richter, Anja Herbertz, Malika Kilgus, Beatrice Murrmann, Jens Uwe Richter, Angela Sandritter, Sebastian Schäfer, Christian Streit
Regie: Alex Novak |
Halle 7 Hotel Disparu von Rebekka Kricheldorf
Willkommen in der Post-Postmoderne
Acht Menschen umkreisen einander in einer Hotellobby, die kaum etwas diesseitiges hat. Die Autorin Rebekka Kricheldorf nennt den Ort "Hotel Disparu". Das Wort Disparu hat mehr als eine Semantik. Neben "ausgerottet" kann es auch "verschollen" oder "vermisst" bedeuten. Tatsächlich scheint es sich um einen magischen Ort zu handeln, dem die Beteiligten nicht entfliehen können, so sehr sie es auch wünschen, und von dem aus sie auch keinen wirklichen Kontakt zur Realität knüpfen können. Dabei schwingt die Realität ständig mit, lastet auf den Personen wie ein Fluch. Der Bruder, ein somnabul wirkender Alexander Maaz, und die Schwester, eine bis zum Siedepunkt gereizte Stephanie Müllner, versuchen den Freitod des Bruders abzuschütteln. Vergeblich … Eine Mutter, Cocktail schlürfend und agonisch gespielt von Marion König, wehrt immer wieder die Ansprüche ihrer Tochter ab, die ein Erbe für eine Existenzgründung benötigt. Maren Hoff wirkt in ihrem unternehmerischen Drang so überambitioniert, dass der Einzug in eine psychiatrische Klinik angemessener wäre, als der in die Tempel des Kapitals. Es sei denn, es bestünde kein Unterschied. Aber ob das in den Intentionen der Autorin lag, bleibt ungewiss. Ebenso ungewiss ist der Inhalt des Päckchens, den ein Mann zu tragen hat. Dieser wird von Stefan Evertz gegeben. Scheinbar wahllos hüpfen Vokabeln durch den Raum, die alles und nichts suggerieren können, von Kriegserlebnissen bis Partnerverlust. Diesem Mann steht (dramaturgisch) mehr oder weniger eine Frau gegenüber, kühl und scheinbar emotionslos gespielt von Ines Novak. Es ist wohl das Kalkulierte, das Unverbindliche, das "sich nicht auf die Vorgänge einlassende" der Figur, die ihr den Abgang aus dem emotionalen Labyrinth ermöglicht. Anders eine zweite Frau mit einer multiplen Persönlichkeit, die wenig abwechselungsreich von Katharina von Harsdorf gegeben wird. Diese Rolle spiegelt die fortschreitende Beliebigkeit menschlicher Existenzen, wie sie hier auf engstem Raum versammelt sind. Nur einer sticht heraus, der Portier. Stefan Maaß verleiht der Figur mit brillant komödiantischen Mitteln etwas diabolisches. Er erscheint und verschwindet auf nebulöse Weise und kommentiert die Vorgänge mit der verschmitzten Nachdenklichkeit eines Alchimisten. Allen Personen fehlt der Name, was sie zu Unpersonen macht.
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Maren Hoff , Stefan Maaß , Marion König
© Hilda Lobinger
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Das wäre eine Variante, wie man dieses Stück erleben könnte. Könnte, wohlgemerkt, denn die Autorin schuf einen Reigen szenischer Entwürfe, aus dem sich die Schauspieler nach eigenem Gustos bedienen können, so sie es wollen und so es der Regisseur denn zulässt. Welchen Weg Dieter Nelle wählte, können nur nachfolgende Besucher wissen. Vermutlich bleibt es bei einem Stück ohne Variationen. Was in den Medien als neue und ungewöhnliche Form gefeiert wird, ist weder neu noch ungewöhnlich, es ist schlichtweg dem Entstehungsprozess des Stückes am Theaters am Neumarkt geschuldet, zu dessen 40. Geburtstag dieses Auftragswerk entstand. Autorin Rebekka Kricheldorf hatte gemeinsam mit den Regisseuren Ingo Kerkhof, Erich Sidler und mit dem Ensemble aus Improvisationen Geschichten und Figuren geschaffen, die szenisch recht gut nebeneinander existieren konnten, sich aber weder bedingen, noch in näherem oder weiterem Zusammenhang stehen. Das Ergebnis ist theatralisches Patchwork und das Verbindende ist das Disparate.
Regisseur Dieter Nelle machte das Beste daraus, nämlich eine artifizielle Bilderschau, die nur eines verband, ein durchgängiges Fundament aus Klanginstallationen (Christian Hack und Stefan Evertz), auf dem Emotionen in den Schwebezustand gerieten. Wenn diese Inszenierung sehens- und hörenswert war, dann keinesfalls wegen der allzu banalen Geschichten ohne Plot, sondern wegen des Vermögens des Spielleiters und der Darsteller, eine Abgehobenheit von den Realitäten zu erzeugen, die teilweise betörte.
Hinzu kam der Spielraum der darkBox, seine abgegriffene Nüchternheit - ein Raum der nichts sagen will oder kann - , der trotz oder gerade wegen die Sparsamkeit der Ausstattung durch Silvia Maradea eine transzendentale Aufwertung erfuhr. Regisseur Nelle ließ auch den hinteren Raum mitbespielen und entgrenzte dadurch. Der Besucher kann eine Inszenierung erleben, die wohl ausschließlich wegen Darstellern wie Stefan Maaß oder Alexander Maaz und einiger gelungener Regieeinfälle im Gedächtnis haften wird. Es wird kaum etwas über den Inhalt zu sagen bleiben.
Das erinnert doch allzu sehr an die Postmoderne, an Robert Wilson und (den sehr späten) Heiner Müller, wenn sie einander denn trafen. Und da es schwer ist, die Postmoderne noch einmal zu erfinden, bleibt nur anzumerken: Willkommen in der Post-Postmoderne!
Da sich die Spielzeit dem Ende nähert, sei ein Hinweis erlaubt. Einer der meistgespielten Autoren im deutschsprachigen Raum in dieser Spielzeit war Lars von Trier. Auf heimischen Bühnen war und ist zu sehen: Manderlay, Dogville, Braking The Waves und Idioten. Diese Stücke, vom Publikum durchweg gefeiert, leben nicht von der Ästhetik, denn Dogma lässt sich auf der Bühne nicht oder nur begrenzt umsetzen. Sie leben von den herausragenden Geschichten, die intellektuelle und moralische Herausforderungen sind und die in ihrem narrativen Ansatz allemal (im Gegensatz zu Hotel Disparu) über die Alltagserfahrungen des Betrachters hinausgehen. Die deutsche Theaterliteratur (und das Theater hatte darauf entscheidenden Einfluss) scheute in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine gut erzählte Geschichte wie der Teufel das Weihwasser. Fragmentierung der Realität, der Charaktere, der Geschehnisse war das Zauberwort. Nun haben wir so lange herumfragmentiert, dass keiner mehr weiß, worum es in der Realität und auf dem Theater eigentlich noch geht. Aber vielleicht macht der Trend hin zur gut erzählten Geschichte dank Lars von Trier ja Schule.
Wolf Banitzki
Hotel Disparu
von Rebekka Kricheldorf
Stefan Evertz, Katharina von Harsdorf, Maren Hoff, Marion König, Stefan Maaß, Alexander Maaz, Stephanie Müllner, Ines Novak
Regie: Dieter Nelle |