Spielhalle Der imaginäre sibirische Zirkus des Rodion Raskolnikow von Kristian Smeds


 


Raskolnikow Oder Furcht und Zittern

Rodion Raskolnikow ist ein armer, doch dünkelhafter Student der Rechte. Er hält sich einerseits für zu kurz gekommen im Leben, andererseits wähnt er sich seinen Zeitgenossen gegenüber aufgrund seiner Intelligenz und seiner Weltanschauung überlegen. Aus dieser Haltung heraus entwickelt er ein moralisches System, das einen Mord „erlaubt“. Er, der wertvolle Mensch, ein Auserwählter, ein Napoleon, wird von den Lebensumständen in den irdischen Staub gedrückt. Die alte, reiche Pfandleiherin hingegen, die ihr Vermögen nach ihrem Tod der Kirche vermachen will, ist eine „Laus“, unwert, in diesem Wohlstand zu leben. Diese Ungerechtigkeit auszugleichen, tötet Raskolnikow sie. Doch unmittelbar nach der Tat, während er sein Beute zusammenraffen will, sieht er sich einer anderen Frau gegenüber, der geistig zurückgebliebenen Schwester der Ermordeten. Auch ihr spaltet er mit der Axt den Schädel. Entsetzt über die Bluttat, ist er nicht imstande, seine Beute in Sicherheit zu bringen. Er verbirgt sie auf seiner Flucht unter einem Stein. Unerkannt in seinem Quartier angelangt, fällt er in einen tagelangen Fieberschlaf. Der Untersuchungsrichter Marmeladow kann Raskolnikow als vermeintlichen Täter ausmachen, ihm die Tat aber nicht beweisen. Es folgt ein langwieriger psychologischer Krieg, in dem Raskolnikow schließlich seinen eigenen Skrupeln erliegt. Im Epilog des Romans wird die achtjährige Haft in einem sibirischen Arbeitslager Raskolnikows entworfen und ein Läuterungsprozess beschrieben, der in der Entdeckung der Liebe (Auferstehungsmetapher) gipfelt. Die Geschichte von Lazarus verweist unmissverständlich darauf.

In diese Zeit siedelt Kristian Smeds seinen „imaginäre sibirische Zirkus des Rodion Raskolnikow“ an. Es sind wüste, noch immer vom Überlegenheitswahn und den Zwiespältigkeiten gespeiste Fantasie und Fieberträume Raskolnikows. „Aber er schämte sich nicht seines rasierten Kopfes: sein Stolz war schwer verletzt, und er erkrankte auch an verletztem Stolze.“ Die Figuren, die aus dem Unterbewusstsein heraufdrängen, sind heruntergekommene, unberechenbare, zu allem fähige Clowns. Diese Clown erinnern an die antiken griechischen Erinnyen, nur verrichten sie ihren Dienst an der Schuld anarchischer und egoistischer. Ihr diabolisches Wesen ist unsterblich und ihr Auftauchen ist die Hölle. Die wichtigste Eigenschaft der (christlichen) Hölle ist: Man kann ihr nicht entkommen. So bleibt dem Betrachter nur, sie auszuhalten. Von Reue keine Spur: „Nur darin erkannte er (Raskolnikow – W.B.) sein Verbrechen an, nur darin allein: dass er es nicht ertragen und ein freiwilliges Geständnis abgelegt hatte.“

Smeds Figuren sind tatsächlich Clowns, die komisch sind und unterhalten. Eine Weile zumindest, so lange die Introduction dauerte. Da jagte eine Slapsticknummer die nächste und jeder bekam sein Fett oder auch Rasierschaum weg. Und als man sich als Zuschauer gerade beschaulich einrichten wollte, kippte die Geschichte in die Unberechenbarkeit. Die von Bretterwänden begrenzte Manege (Bühne und Kostüme: Ene-Liis Semper ) wurde zum Schlachtfeld. Unvermittelt wurde geschlagen, erniedrigt, verstümmelt und verhöhnt, angepeitscht von diabolischer Musik, die alles Leid zusätzlich auch noch zu verhöhnen schien. Es herrschte, sehr diktatorisch, „der König von Humooor“ (Ernst Jandl). Kristian Smeds sagte selbst zum Thema Humor: „Humor soll, wie Kaffee, schwarz und stark sein, und es soll auf jeden Fall eine ausreichende Menge davon geben.“
 
Es gab eine Menge davon, leider unterm Strich ein Quäntchen zu viel. Nach annähernd zwei Stunden mit leicht spaßhaften bis zu exzessiv martialischen Humor war die Aufnahmefähigkeit und das Vermögen, zu ertragen, erschöpft. Das Pausenlicht kam einer Erlösung gleich. Der zweite Teil, man sah ihm nicht gänzlich frei von Befürchtungen entgegen, gestaltete sich jedoch total anders, wohltuender, und inhaltlich deutlicher im Bezug zum Thema Dostojewski und Raskolnikow. Die Bodenplatten waren entfernt worden und im Untergeschoss hatten sich die Darsteller zu einer gemeinsamen Lesung aus „Schuld und Sühne“ um einen Tisch versammelt. Die Lesung, die mehrsprachig stattfand, die deutsche Übersetzung wurde mitgeliefert, wurde per Video in den Zuschauerraum übertragen (Video: Lennart Laberenz). Während der Lesung wurden der Fußboden wieder geschlossen und die ganze Geschichte, die als Urmythos ewig weiterschwelen wird, quasi „unter den Teppich gekehrt“.  Der Kreis der immerwährenden menschlichen Geschichte, eine Geschichte des Versagens, schloss sich.

Kristian Smeds Inszenierung ist Theater der anderen Art. Er beruft sich unter anderem auf Grotowski, einen Theatermacher, der lebenslang bemüht war, eine Theatersprache zu entwickeln, die über nationale kulturelle Grenzen hinausging. Er suchte die geeinte Sprache aller Menschen, wie sie vor dem Turmbau von Babel existierte. Kristian Smeds, wie auch Grotowski, favorisiert den Mythos, das Gefühl, die Metapher, das Unterbewusste als sprachliche und gestische Elemente und kehrt sich damit von der Spitzfindigkeit der Modere, von ihrer unerbittlichen Rationalität, die nicht selten in plattem Realismus verharrt, ab. Sinnlich erfahrbare Materialien bestimmten das Spiel, wie: Steine, Wasser, Holz, etc. Dieses Spiel will nicht nur genossen, sondern gelegentlich auch ausgehalten werden.

Hilfreich dabei war das ausgefeilte Spiel der Darsteller, das, wie könnte es bei diesen Inhalten auch anders sein, von dezent melancholisch (Edmund Telgenkämper als vornehm zurückgenommener Clown mit distinguiertem Ekel vor der Realität) bis zu entfesselt berserkerhaft (Hannu Pekka Björkmann als animalischer Wuchtbrocken) reichte. André Jung brillierte auch in dieser Rolle als (vermuteter) Zirkusdirektor, mit den ihm eigenen (schauspielerischen) Naturell, sich an die Dinge betont behutsam heranzutasten und sie dabei gleichsam in ihrem Wesen zu entlarven. Juhan Ulfsak spielte eine egomanischen Clown der unweigerlich an sich selbst scheitern musste. In ihm war Raskolnikow noch am ehesten zu entdecken. Katja Bürkle wechselte beinahe übergangslos vom weinerlichen Clown, dem man die Playmobilfiguren genommen hatte, in die Rolle des Bestrafenden, der Füße abhackt. Annamaria Lang gab überwiegend die Opferrolle, anmutig als wuschelköpfiges, sangesfreudiges, tanzwütiges „Negerlein“, später als Schwester Raskolnikows, die sich wegen einer Zwangslage „prostituieren“ muss, was für Raskolnikow der letzte Anstoß für die Gewalttat war.

Kommentiert und begleitet wurde das Spiel von dem Musiker Timo Kämärainen. Dass vieles in der Inszenierung nicht über die Maßen ernst genommen werden sollte, unterstrich vorzugsweise die Musik. Da wurde schon mal geblödelt, da gab sich Timo Kämärainen auch schon mal als Privatmensch zu erkennen. Das sollte vermutlich für das ganze Spiel gelten, denn Regisseur Smeds gab sich zu Beginn vom Rang herab zu erkennen und wünschte gute Unterhaltung. Das kennt man vom ruhmlastigen und traditionsreichen deutschen Theater, die Münchner Kammerspiele inbegriffen, nicht. Hier werden alle Formen, auch die der Verbeugungsordnung, noch ernsthaft zelebriert als Bestandteil des Theaterabends. Um einen Einstiegs in „Der imaginäre sibirische Zirkus des Rodion Raskolnikow“ zu finden, sollte man sich auf das Anarchische, das sich von Anfang an in der Inszenierung findet, vorbehaltlos einlassen. Dann wird man, trotz einiger schmerzlicher Längen mit Eindrücken aus dem Theater gehen, die so bislang selten waren.

 
 
Wolf Banitzki

 


UA Der imaginäre sibirische Zirkus des Rodion Raskolnikow

von Kristian Smeds nach F. M. Dostojewski

 

Hannu Pekka Björkmann, Katja Bürkle, André Jung, Timo Kämärainen, Annamaria Lang, Edmund Telgenkämper, Juhan Ulfsak

Regie: Kristian Smeds

Spielhalle UA Mjunic Disco nach Texten von Rainald Goetz, Thomas Meinecke, Andreas Neumeister


 

 

 
Dont’t stop the dance

Stefan Puchers „Mjunic Disco“ war eine Zeitreise durch die Diskothekenlandschaft Münchens und damit durch das Lebensgefühl der Jugend in den 90ern. Es ist nicht „Sex & Drugs & Rock and Roll“, obgleich es sich auf den ersten Blick so anfühlt. Rock and Roll oder R&B sind nicht das Treibende, sondern der unstillbare Drang nach Sex, Sozialisation und Selbstdarstellung. Die Tanzarenen sind Laufstege der Eitelkeiten und Begierden. Es wird in Augenschein genommen, was konsumiert werden will und soll. Die Songs sind sehnsuchtsvoll und melancholisch zugleich; das Erwachen aus dem Drogenrausch ist ernüchternd. Und dennoch startet man Abend für Abend wieder durch, kifft, schnieft und wirft ein. Im Dämmerlicht des Bewusstseins wird Kasse gemacht und die Reste werden konsumiert, obwohl man den Weg nach Hause kaum findet. Es wird gelabert, schöngeredet, hofiert und plötzlich stellt man fest, dass man den Beginn des Koitus gar nicht bemerkt hat. Fatal, denn trotz „bewusstseinserweiternde Drogen“ löst sich das Bewusstsein unaufhaltsam auf. Alles Lüge, alles Selbstbetrug; doch diese Einsicht rückt immer mehr in die Ferne. Und wenn da Einer oder Eine alles „Scheiße“ findet, weil er oder sie aus diesem Alptraum nicht mehr zurückfindet, wird beschwichtigt und noch ein Line gezogen.

Im Grunde ist es ein erschütterndes Bild unendlichen Verlorenseins, das sich in der 80 Minuten-Collage aus Musik, Texten und, nein, Spielszenen findet sich nur eine, bestenfalls zwei, vermittelt. Einige Zitate stammen aus den 70er, zum Beispiel von Neil Young und ELO. Es mutet seltsam wie ein Remake von Jack Kerouacs „On the Road“ an. Und hier ist der fatale Irrtum dieser Lebensweise begründet. Die einstigen Rebellen gingen „on the road“, um der Enge des (spieß-) bürgerlichen Daseins zu entfliehen. Die Discogänger hingegen suchen den Rückzug in die Enge des Rituals. Es wird gelabert, es wird sich gespreizt und es wird gedröhnt. Grund für diese verzweifelte Suche nach Leben ist die Saturiertheit der liberalen Gesellschaft. Der Traum von der Selbstentfaltung verkümmert zu sinnlichen Gier. Der Geist wird im Glitzern der Discokugel ausgedünnt. Wer kann das Essentielle dieser Lebensart definieren? Es kann nur ein trauriges Fazit sein.

Bert Neumann zeichnete für den Raum verantwortlich. Wer „XY BEAT“ und „They shoot horses, don’t they?” im Werkraum sah, fragt sich vermutlich, was Herr Neumann an diesem Raum neu gestaltet hat. Einige Caféhaustische mit Stühlen, Musikanlagen und Instrumente allenthalben, ließen auf eine sehr pragmatische und weniger auf eine künstlerische Lösung schließen. Tabea Brauns Kostüme immerhin verliehen dem ganzen ein wenig Discoflair. Die Videoinstallationen von Meika Dresenkamp leisteten, ein wenig unkonkret zwar, das ihrige, um das Lebensgefühl der Discogeneration zu vermitteln. Doch immerhin gestalteten die Bilder die von den Darstellern deklamierten Vorgänge schlüssiger. Wenn dieser Abend kurzweilig war, dann vornehmlich durch die Musik (Musikalische Leitung: Christopher Uhe), aber auch durch die Authentizität der vorgetragenen Texte von Rainald Goetz, Andreas Neumeister und Thomas Meinecke. Es sind Erlebnisberichte, die stark dokumentarischen Charakter haben. Tieflotend sind sie nicht, eher beschreibend. Viele Befindlichkeiten schwingen mit, doch sie schließen nicht wirklich auf im Sinn einer analytischen Erkenntnis. Immerhin erhellen die verbalen Banalitäten den geistigen Zustand der Protagonisten. Die Texte sind naturalistisch und somit durchaus gewichtig. Sie spiegeln Werteverfall.
 
 
Bemerkenswert waren die musikalischen Fähigkeiten der Darsteller. Lena Lauzemis könnte sich ihre Meriten gegebenenfalls auch als Frontfrau einer Rockband verdienen. Thomas Schmauser spielte Trompete und Gitarre; Peter Brombacher Keyboard, ebenso Marc Benjamin. Komplettiert wurde die Band durch die Musiker Martin Rühle (drums) und Ivica Vukelic (git). Thomas Schmauser hatte in dieser Inszenierung wohl den reichhaltigsten Part, zumal seine Spielweise der „Coolness“ der literarischen Protagonisten am ehesten entsprach.

Was Stefan Pucher auf die Spielfläche des Werkraums brachte, war nicht Theater im herkömmlichen Sinn, sondern es waren Fragmente von einem Leben, das dem Großteil des Bürgertums vorenthalten blieb und bleibt. (Man nimmt keine Drogen! Oder doch?) Er gab einen Einblick in eine Kulturnische, die wohl auch als eine der letzten Bastionen sinnmeidender Jugend gilt. Es war ein entlarvender Abend, dem es allerdings, wegen fehlender Schlüsse, an Nachhaltigkeit mangelte. Theater als moralische Anstalt war es wohl weniger. Vielmehr war es ein Unterhaltungsprogramm, in dem ein anderes Unterhaltungsprogramm hinterfragt wurde, ohne jedoch Antworten zu geben. Unterhaltsam war es unbestritten.

 
Wolf Banitzki

 

 

 


Mjunic Disco

nach Texten von Rainald Goetz, Thomas Meinecke, Andreas Neumeister

Marc Benjamin, Peter Brombacher, Lena Lauzemis, Martin Rühle, Thomas Schmauser, Christopher Uhe, Ivica Vukelic

Regie: Stefan Pucher

„Munich Central“ Gleis 11 von Christine Umpfenbach


 

 

 
Schöne neue Welt

Es ist wieder soweit: Die Kammerspiele schwärmen aus, auf der Suche nach unbekannten Welten im bekannten Stadtraum. Für die laufende Spielzeit wurde das Viertel um den Hauptbahnhof als Spielfeld ausgewählt. Unter dem programmatischen Titel „Munich Central“ sind verschiedenste Aktionen und Interventionen versammelt, unter anderem Theaterstücke, Konzerte oder Stadtführungen der etwas anderen Art. Ein Theater und sein Publikum begeben sich auf Erkundungsgang.

Den Anfang macht Christine Umpfenbach, die mit ihrem Dokumentartheaterstück „Gleis 11“ an die Schattenseiten des deutschen Wirtschaftswunders erinnert. Umpfenbach, die als Regisseurin von Projekten wie „Fluchten 1-4“ oder der „Win Place Show“ viel Erfahrung im Umgang mit Laiendarstellern hat, nimmt das Publikum mit auf eine Reise der besonderen Art. Sie lässt ehemalige Gastarbeiter an dem Ort ihre Geschichte(n) erzählen, an dem sich vor Jahrzehnten ihr weiteres Schicksal in Deutschland entschied: Ein ehemaliger Luftschutzbunker unter dem Hauptbahnhof diente von 1960 bis 1973 als Umschlagplatz für die südeuropäischen Gastarbeiter, die zu Tausenden mit Sonderzügen nach München gebracht wurden. Erst dort erfuhren sie das letztendliche Ziel ihrer Reise, entscheidend war die Nummer auf dem Arbeitsvertrag. Auch heute ist Gleis 11 Sammel- und Ausgangspunkt des Abends. Einmal mehr steht eine bunt gemischte Menschenmenge auf dem Bahnsteig und harrt – ausgestattet mit Koffern und Arbeitsverträgen – der Dinge, die da kommen. Einzig die Anwesenheit der Alten und Kinder ist nicht „originalgetreu“, da nur junge, gesunde Arbeitnehmer gefragt waren.
Die Reise des Publikums in die bundesrepublikanische Vergangenheit beginnt mit einem Abstieg in empfindlich kühle Kellerräume. Da sind die vermeintlichen Zuschauer längst Teil des Spiels. Dementsprechend weckt der Anblick der Menschenmenge, die mit Koffern und Taschen in kahlen Kellerräumen verschwindet, unangenehme Assoziationen, ebenso die folgende Aufforderung, sich des Gepäcks zu entledigen und in einem weiteren Raum zu versammeln. Neonlicht und nackte Betonwände – willkommen in Deutschland!

 
gleis11

Adalet Günel, Nilgün Dikmen

© Andrea Huber

 

Unter Anleitung zweier Megafon-bewehrter Herren sowie mehrerer freundlicher Hostessen in plastikastigem 60er-Jahre-Outfit (Kostüme: Judith Hepting), werden die Zuschauer in appetitliche Postleitzahlen-Grüppchen aufgeteilt. Das seit den 1960er Jahren erprobte System erfüllt auch heute seinen Zweck – Raumwechsel und Neugruppierungen verlaufen vorwiegend reibungslos. Nun ist die Bühne frei für die eigentlichen Protagonisten: In neun Räumen erzählen ehemalige Gastarbeiter, ein Vertreter des Landesarbeitsamtes und zwei Caritas-Mitarbeiter von ihren Erlebnissen auf bzw. unter dem Bahnhof. Die mit einfachsten Mitteln (Bühne: Jil Bertermann) ausgestatteten Räume dienen als Rahmen für Geschichten von Liebe, Hoffnung, Angst und Trauer. Kurze Miniaturen aus dem Leben Fremder, die für einen kurzen Moment trügerisch nah rücken. Dazu spielt der Kassettenrecorder schrammelige Musik, auch ein Blick ins private Fotoalbum ist möglich. Jonas Imbery (Gomma) gibt mit seiner Soundcollage aus den Rhythmus des Abends vor – sobald es wieder einmal Zeit für einen Ortswechsel ist, schallen Zugsignale durch die Kellerräume. Das Stationendrama zu einem weniger bekannten Aspekt der deutschen Gesichte entfaltet sich. Ganz im Sinne des Dokumentartheaters inszeniert Christine Umpfenbach dezidiert aber nie übertrieben. Es bleibt genug Luft für Unvorhergesehenes, Fragen und die Persönlichkeit der Zeitzeugen. Auch Paul Brodowskys aus zahlreichen Interviews zusammengestelltes Textgespinst erhält durch ihre Präsenz eine besondere, unmittelbare Qualität. Es sind Geschichten mit Ecken und Kanten, die an diesem Abend einem mehrfach wechselnden Publikum erzählt werden, ausschließlich traurig sind sie jedoch nicht. Wenn Nicolo und Elisabeth Pau zweisprachig davon erzählen, wie sie sich am Stachus kennen und lieben lernten, ist das entzückend. Ein weiteres Highlight auch die mitreißend präsentierte Geschichte der Freundschaft von Adalet Günel und Nilgün Dikmen, die die Ausreise aus der Türkei und alle Höhen und Tiefen des Lebens überstand.
Damit man es sich in seinem Zuschauerleben nicht zu bequem einrichtet, wird wiederholt die Perspektive geändert und man selbst zum Arbeitssuchenden in der Fremde. In guten Momenten lässt „Gleis 11“ für kurze Zeit die Grenzen zwischen Zeitzeugen, Theaterbesuchern und Schauspiel-Profis verschwimmen. Dazu trägt auch die zunehmende Kälte bei, die sich mit fortschreitender Stunde bemerkbar macht und daran erinnert, dass der Aufenthalt im Bunker nicht unbedingt immer ein Vergnügen war. Der Theaterabend dagegen durchaus. Herzlicher Applaus für die Darsteller.



Tina Meß

 

 


Gleis 11

von Christine Umpfenbach

Hatzinikolaou Assimakis, Dionysia Chatzinota, Nilgün Dikmen, Adalet Günel, Ethem Koçer, Makbule Kurnaz, Georgios Metallinos, Mongia Müller, Faruk Önder, Nicolo und Elisabeth Pau, Anna Razc, Dragana Sojic, Kurt Spennesberger, Milica Stjepanovic, Eleni Tsakmaki, Walter Weiterschan u.a.

Regie: Christine Umpfenbach

Spielhalle Agatha von Marguerite Duras


 

 

 

Geschwisterliebe oder Leidensweg

1981 verfilmte Marguerite Duras das von ihr selbst verfasste Buch „Agatha et les lectures illimitées“. Darin wird die Geschichte eines liebenden Geschwisterpaares erzählt, die sich nach Jahren im Haus ihrer unbeschwerten Kindheit und Jugend treffen, um endgültig Abschied voneinander zu nehmen. Ihre inzestuöse Beziehung muss ein Ende finden, da die übermächtige Liebe beide nach über zehn Jahren noch immer nicht loslässt. Nach einer ersten gemeinsamen Nacht sprachen sich die beiden nur noch in der dritten Person an. Ein untauglicher Versuch, einander zu entrinnen, wie sich herausstellte. Agatha ging mit einem anderen Mann fort, doch nichts vermochte die Bande zu lösen. Man trifft sich erneut, um den gordischen Knoten der Gefühle aufzulösen.

Regisseurin Julie Van den Berghe erzählte diese Geschichte in den Münchner Kammerspielen/Spielhalle aus einer sehr persönlichen Sicht heraus. Sie gibt sich überzeugt, dass hinter ihrer Lesart eine Maxime des Lebens steht, und meint: „Intensive Zweisamkeit genügt nicht zum Leben. Ich bin davon überzeugt, dass man sich seine Freiheit durch das Umgehen mit den Verantwortlichkeiten, die man um sich herum aufgebaut hat und vor denen man nicht fliehen kann, verdienen soll.“ (Programmheft) Kann es ein Happy End geben? Wohl kaum. Und so ist Agatha gekommen, um sich vom Bruder zu verabschieden, endgültig. Ein schmerzhafter Prozess treibt beide an ihre Grenzen.

Agatha war gleichsam der Name der Villa, die, wie das Bühnenbild von André Joosten unzweifelhaft erkennen ließ, einer gründlichen Sanierung unterworfen war. Baumaterial allenthalben. Ungesicherter Grund, der desolaten Gefühlslage der Protagonisten nicht unähnlich, zwang zum Balancieren. Damit wurde der Inszenierung unweigerlich ein deutlicher Stempel aufgedrückt: Nichts war verlässlich, Abstürze drohten und heimisch konnte an diesem Ort in dieser Situation niemand werden. Der am Meer gelegene Bau war offen. Strandsand türmte sich einer Düne gleich. Die Spiele der Kindheit waren möglich. Löcher wurden gegraben. Er grub, wie es Kinder miteinander tun, sie ein. Beide drückten ihre Hände in den Sand und betrachteten versonnen die Vergänglichkeit früher Tage.


agatha

Katja Bürkle, Stefan Merki

© Thomas Linkel


Viel Material wurde von Katja Bürkle und Stefan Merki bewegt in Julie Van den Berghes Inszenierung. Es ging zunächst behutsam an, als die ankommenden Zuschauer auf die offene Bühne trafen. Stefan Merki werkelte vor sich hin, baute Hocker, eine Sitzfläche für die Schaukel. Doch dann erschien Agatha, sägte sich durch die Wand und tauschte die heutigen Kleider gegen die aus ihrer Jugend. Ein Tonband (Stimmen: Hildegard Schmahl und Walter Hess) kündete von den Gesprächen der Vergangenheit.  Die Musiker Ulrich Wangenheim und Harpo 't Hart erschienen auf der Bühne und kommentierten die Situationen mal mit Klangcollagen, mal mit Blues. Die sonderbare Situation, die beiden Darsteller sprachen anfangs kaum miteinander, geriet in die Schwebe. Schließlich wurde das Spiel mit den Erinnerungen rasanter. Katja Bürkle und Stefan Merki hetzen durch sichtbare und unsichtbare Räume. Die jugendliche Unbefangenheit kippte langsam in die Befangenheit der Liebe. Zärtlichkeiten wurden ausgetauscht. Erotik wuchs sich zur Begierde aus. Doch im entscheidenden Augenblick verweigerte ER sich dem Vollzug. Jetzt war der Augenblick gekommen, den unausweichlichen Schritt zu tun. SIE schlüpfte in die Gegenwart, in ihre eingangs abgelegten Kleider und ging.

Die anfänglichen Längen wurden von den beiden physisch und stimmlich aufwendig agierenden Darstellern nach und nach ausgelöscht. Selbst bei Kenntnis der Vorlage kam Spannung auf, wie weit die Figuren sich einander öffnen würden. So wenig, wie in den Werken von Marguerite Duras eine befriedigende, weil praktikable Lösung angeboten wird, so wenig kann es eine schmerzfreie Auslösung aus einer vitalen Liebe, vor allem aus einer inzestuösen, geben. Und eben genau das ist es, was sich in Marguerite Duras Werken immer wieder findet. Sie selbst ist im Sinne von gesellschaftlichen Konventionen mehr als ein Mal im Leben gescheitert. Wahrhaftige Gefühle werden immer wieder zur leidvollen Prüfung. Damit erhebt sie ihre Stimme gegen die Banalität untauglicher gesellschaftlicher Vorgaben, in denen Liebe als Besitz begriffen und in Übereinkünfte gepresst wird. Jede Liebe, wenn es denn eine solche ist, bleibt ein existenzieller Einzelfall.

Julie Van den Berghes Inszenierung war alles andere als anheimelnd. Das Bühnenbild war eher ein Gegenentwurf zu einem „Bild“, weil fragmentarisch, spröde und zum Teil auch beängstigend, wenn die Darsteller es „bewältigen“ mussten. Die Intensität, mit der das Thema behandelt wurde, findet sich selten in zeitgenössischen Werken und bedurfte einer besonderen Aufmerksamkeit. Es war kein leichter Abend, aber dennoch war er lohnenswert, weil frei von Plattitüden.

 

 
Wolf Banitzki

 

 

 


Agatha

von Marguerite Duras

Deutsch von Simon Werle

Katja Bürkle, Stefan Merki

Regie: Julie Van den Berghe  
Musik: Ulrich Wangenheim, Harpo't Hart

Neues Haus ÜBERMORGEN IST ZWEIFELHAFT // 2012


 

 

 
Upgrade yourself

– Chris Kondek sucht den Mensch von morgen


Chris Kondek weiß, was er tut. Nicht ohne Grund arbeiten Tanz- und Theatergrößen wie Jossi Wieler, Stefan Pucher oder Meg Stuart immer wieder mit dem amerikanischen Videokünstler zusammen. Seit 2000 entstehen auch eigene Projekte, gleich die erste Produktion „Dead Cat Bounce“ erhielt mehrere Preise.
Jetzt realisierte er gemeinsam mit seiner Partnerin und Dramaturgin Christiane Kühl das Projekt „Übermorgen ist zweifelhaft // 2012“. Dass Kondek ein besonderes Gespür für den Einsatz bewegter Bilder auf der Theaterbühne hat, ist offensichtlich. Von Anfang an sind sie präsent, eröffnen neue Räume und Bedeutungsebenen. Die Angst, dass die Schauspieler angesichts der permanenten Bilderflut ins Hintertreffen geraten könnten, bleibt jedoch unbegründet. Dafür sorgt auch das von Sonja Füsti klug angelegte Bühnenbild, dessen multifunktionale Elemente René Dumont, Walter Hess und Lena Lauzemis eine ideale Spielwiese bieten. Sogar ein Greenscreen ist vorhanden, der die live abgefilmten Schauspieler in vorproduzierte Einspieler einfügt. Über Videomischer, Mikrofone, einen Plattenspieler und mehrere Kameras haben sie auch die Möglichkeit, die Bild- und Tonkulisse zu beeinflussen. Der Charakter des „Gemachten“, des künstlich Hergestellten wird dabei bewusst offengelegt. Auch (oder gerade deswegen?) wenn das Publikum die Zusammenfügung einzelner Bildsequenzen genau verfolgen kann, behalten diese ihren Zauber. Wenn Lena Lauzemis in bester Godzilla-Manier (die 1945er Version!) ein filmisches Weltuntergangsszenario inszeniert, bei dem winzige Papierhäuser zerquetscht und Spielzeugautos in klaffenden Pappmaché-Felsspalten versenkt werden, ist das eine Freude. Ebenso die OP am „offenen“ Gehirn  – mehr als Marmelade auf dem richtigen Fleck des Kameradisplays braucht es hierfür nicht. In Momenten wie diesen, wenn das Bild vom Bild und die (gespielte) Wirklichkeit kongenial verschmelzen, ist „Übermorgen ist zweifelhaft“ am stärksten. Durch die Konstruktion von Bildern, der in der Regel eine umgehende Entlarvung der dabei verwendeten Mittel und Effekte folgt, gelingt es dem Regisseur, Videobildern und Schauspielern eine gleichwertige Bedeutung innerhalb der Stückstruktur zu geben. Das funktioniert auch, weil der Wechsel der Bedeutungs- und Erzählebenen einem genau austarierten Rhythmus folgt.

 
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René Dumont, Walter Hess

© Arno Declair

 

Wissen macht Ah!
Inhaltlich schicken Kondek und Kühl Schauspieler und Publikum auf eine fundiert recherchierte Tour de Force durch die (Un)Tiefen von Robotik, Chaostheorie, Neurologie und Ingenieurswissenschaft. Auch die Transhumanisten, Erich von Däniken und der Unabomber, dessen Waldhütte in einem nur per Kamera einsehbaren Raum rekonstruiert wurde, kommen zu Wort. Ausgangspunkte des Projekts sind der am 21. Dezember 2012 endende Mayakalender und die damit verbundenen Weltuntergangsbefürchtungen. Sie münden in einer Reflexion über die Unzulänglichkeit der menschlichen „Hardware“ angesichts einer zunehmend technisierten Welt und immer avancierterer Maschinen. Lena Lauzemis bleibt dabei trotz Fargo-Mütze und aufgemaltem Schnurrbart leider etwas blass. Die Herren, zugegebener Maßen mit dankbareren Rollenfiguren versorgt, überzeugen dagegen voll und ganz. René Dumont ist mal smarter Conferencier, mal Galileo-Moderator und ab und an auch ein aufmüpfiger Humanoid, der sich von seinem Schöpfer emanzipiert. Der schwarze Anzug steht ihm gut. Wesentlich wichtiger sind jedoch die technischen Gadgets, mittels derer er seine mangelhafte „Hardware“ aufwerten kann. Zumindest beim Publikum sorgt sein mit einem „extra ear“ ausgestatteter linker Arm (Stelarc lässt grüßen) eindeutig für Wettbewerbsvorteile. Aber auch Walter Hess findet als Prototyp des charismatischen Fernseh-Predigers, der seine Jünger durch den Technik- und Theoriedschungel führt, schnell Fans. Nie wurde die Funktionsweise des CERN schöner simuliert und wo bekommt man im Theater sonst noch schwarze Löcher gereicht? Eine Weile leisten echte Roboter den Schauspielern Gesellschaft, erreichen aber nicht die gleichen Sympathiewerte wie der per Film zugeschaltete „Eddie“, der es immerhin auf sechs verschiedene Emotionen bringt. Netter als HAL, Kubricks maliziösen Supercomputer, an den man angesichts der schlauchförmigen Konstruktion aus Holzlatten und Neonröhren auf der Bühne automatisch denken muss, wirkt er allemal.

Bild- wie textlich weben Kondek und Kühl ein dichtes Netz aus Verweisen und Bezügen, lassen den Zuschauern jedoch stets genug Luft zum Atmen. Mit bestechender Leichtigkeit werden mehrere Forschungsjahrzehnte abgehandelt und dem Publikum ein Panoptikum technologiebezogener Ideologien, Philosophien und Meinungen vorgestellt. Vieles davon klingt abenteuerlich, entspricht aber dem aktuellen Forschungsstand. Unter Einbeziehung von Textfragmenten Isaac Asimovs, Mary Shelleys oder Ray Kurzweils begibt sich Chris Kondek also auf die augenzwinkernde Suche nach den Zukunftsoptionen der Menschheit . Hört man auf die Fachleute, die ihre Meinung wiederholt in Videobotschaften äußern, so ist Optimierung die einzig wahre Lösung. Dem Schluss hätte etwas weniger Pathos gut getan, der gute Gesamteindruck leidet allerdings nicht darunter. Darum folgende Empfehlung: Handtuch über die Schulter und ab ins Theater. Auch wenn die Antwort auf alle Fragen 42 bleibt ...



Tina Meß

 

 


ÜBERMORGEN IST ZWEIFELHAFT // 2012

Ein Projekt von Chris Kondek und Christiane Kühl

Lena Lauzemis, René Dumont, Walter Hess

Regie und Video: Chris Kondek