Residenz Theater Androklus und der Löwe von George Bernhard Shaw


 

 

Ein unvergesslicher Löwe …

Androklus, ein entlaufener Sklave, entfernt einem verletzten Löwen einen Dorn aus der Tatze. Später, der Sklave ist wieder eingefangen, soll er im römischen Kolosseum den Löwen zum Fraß vorgeworfen werden. Der Löwe ist derselbe, dem der Sklave einst aus seiner Bedrängnis half. Das Tier erkennt seinen Retter und verschont ihn. Dieses Wunder bringt den römischen Kaiser dazu, die Christenverfolgung einzustellen. Der Sklave erhält die Freiheit und den Löwen dazu, den er fortan in Rom an einer dünnen Leine mit sich führt.

Diese Anekdote bildet die Grundlage für Shaws Märchenspiel. Um das Märchenhafte etwas verbindlicher zu gestalten, fügte Shaw seiner Erzählung einige Personen hinzu. Ferrovius ist bekennender Christ und bereit, für seinen Glauben in den Tod zu gehen. Allerdings verfügt er über gewaltige Körperkräfte und ein cholerisches Temperament, das ihn immer wieder von seinem pazifistischen Pfad abbringt. In der Stunde der Wahrheit, also im Kolosseum, metzelt er sämtliche Gladiatoren nieder. Der Kaiser ist entzückt und bietet ihm eine Stelle in der Prätorianergarde an. Ferrovius, der erkennen muss, dass er noch mehr seinem alten Kriegsgott Mars anhängt, als dem neuen, der erst noch kommen muss, nimmt an. Spintho ist eigentlich ein gemeiner Dieb und Tempelräuber. Doch auch er glaubt an die christliche Verheißung, ins Paradies einzugehen, wenn er den Märtyrertod stirbt. Was er allerdings nicht bedenkt ist, dass er eventuell eines natürlichen Todes sterben könnte und somit der Hölle anheim fallen würde. Diese Aussicht versetzt ihn in Angst und Schrecken und er ist bereit, den römischen Göttern zu opfern. Sein Opportunismus führt ihn geradewegs ins Verderben. Schließlich sticht Lavinia noch aus dem Kreis der zur Schlachtbank wandernden Christen heraus. Auch sie ist todeswillig, allerdings nicht bereit, alle Schmähungen hinzunehmen. Am Ende wird sie die Gemahlin des römischen Hauptmanns, der auf Anweisung des Kaisers zum Christentum konvertieren muss.

Hauptperson ist Androklus. Er ist zwar Christ, wird aber dennoch zum Sterben in die Arena geschickt, da der schmächtige griechische Schneider zudem noch Zauberer ist. Die von der Todesstrafe entbundenen Christen haben inzwischen in den Logen des Kaisers Platz genommen, um sich an diesem barbarischen Schauspiel zu weiden, dem sie gerade selbst entgangen sind. Dann geschieht das Löwenwunder.
 
   
 

Lisa Wagner, Oliver Nägele, Michael Tregor

© Thomas Dashuber

 

 

Shaws Erzählung ist eine Mischung aus ernsthafter Geschichte und Posse, in der das Schreckliche komisch ist und das Barbarische lustig. Am Ende stehen Wahrheiten, die faszinieren, entmythisieren und ernüchtern. Der Mensch ist auf seine Schwächen entblößt und gibt ein recht trauriges Bild ab. Das Leben ist eine grausige Zirkusvorstellung, in der wir alle Zuschauer sind, wenn wir nicht gerade auserkoren wurden, Darsteller zu sein. Shaw wollte belehren, was ihm verständlicher Weise das Lob Brechts einbrachte, und so kunstvoll seine Werke auch sind, er hätte nie auch nur ein Zeile der Kunst wegen geschrieben. So kann man getrost behaupten, dass Shaw eine menschliche Sicht auf die Dinge bevorzugte.

Dieter Dorn legte gleich zu Beginn seiner Inszenierung eine deutliche Fährte. In flackernden Videoprojektionen wurde der Besucher mit zum Teil blutigen Bildern fanatisierter Religionsanhänger eingeschworen. Worauf? Nun darauf gab die Inszenierung dann keine so deutliche Antwort mehr. Regisseur Dorn hielt sich weitestgehend an Shaws Vorgaben, inszenierte einen circensischen Reigen, dessen Höhepunkt unbestritten der Auftritt des Löwen war. Dorn hatte dafür die beiden Herren Bambang Tanuwikarja und Benjamin Schiegl von der Kung Fu Academy Berlin engagiert. Es gibt ein ungeschriebenes Theatergesetz: Vermeide wenn möglich Tiere und Kinder auf der Bühne, denn sie fesseln die Aufmerksamkeit der Zuschauer über Gebühr. Diesen Effekt erzielte auch der Löwe. Michael Tregor, als Androklus die Hauptfigur des Stückes, hatte kaum eine Chance, gegen das zauberhaft anzuschauende, perfekt choreographierte Tier anzukommen.

Dieter Dorn bevorzugt augenscheinlich Massenszenen. So auch in dieser Inszenierung. Um die 50 Darsteller marschierten neben den im Shaw'schen Stück agierenden Schauspielern auf und ab. Diese Vorgänge waren nicht selten zähflüssig und führten zu erheblichen organisatorischen Längen. Das Wort trat in manchen Szenen zugunsten überflüssiger sportlicher und völkerwandlerischer Übungen in den Hintergrund. Die Hauptdarsteller spielten selten mit der bekannten Präzision. Rudolf Wessely als römischer Kaiser fand, wenn überhaupt, eher zufällig seinen Rhythmus. Im großen Getöse schien manches Stichwort unterzugehen und so wirkte die ganze Inszenierung streckenweise recht nachlässig. Neben Lisa Wagner als Lavinia, die ihren besten Auftritt hatte, als sie Lentulus (Felix Rech) in die Schranken wies, überzeugte Stefan Wilkening. Sein Spintho war ein gelungenes Exemplar an Opportunismus und Feigheit. Oliver Nägele gab seinerseits einen Ferrovius furchterregenden Schlages.

Es war ein großes Spektakel, das Shaws Botschaft zwar nicht außer Acht ließ, sie aber auch nicht explizit und heutig erzählte. Diese Inszenierung wird ohne Zweifel im Gedächtnis derer bleiben, die sie sahen. Der Löwe war unvergesslich.



Wolf Banitzki

 

 


Androklus und der Löwe

von George Bernhard Shaw

Michael Tregor, Anna Riedl, Rudolf Wessely, Thomas Loibl, Arnulf Schumacher, Matthias Eberth, Felix Rech, Maximilian Löwenstein, Lisa Wagner, Oliver Nägele, Stefan Wilkening, Rudolf Waldemar Brem, Burchard Dabinnus, Felix Rech, Bambang Tanuwikarja, Benjamin Schiegl u.v.a.m.

Regie: Dieter Dorn

Residenz Theater Der Gwissenswurm von Ludwig Anzengruber und Franz-Xaver Kroetz


 

 

Der Zweck heiligt die Mittel

Feist ist er, der Gwissenswurm, und giftig grün auf dem Vorhang im Residenz Theater. Und er wird in der entscheidenden Szene dann schon mal rot vor Ärger, wächst sich aus, speit sogar Feuer, wenn es darauf ankommt. Ein Höllentier hat man aus ihm gemacht. Kirchenväter hätten an ihm ihre wahre Freude gehabt, ist er doch ein Idealbild mit dem sich Angst und Schrecken verbreiten ließe, anno dazumal natürlich.

"Schwoger", hat er gsagt, "du hast a Sünd af dir, was d' nie noch recht bereut hast, hast's alleweil af d' leichte Achsel gnummen, und unter der Zeit is der Wurm in dir foast wordn, so foast, daß dr hitzt, wo er sich aufdammt hat, bald Seel und Leib vonandgangen wärn!"
Der Grillhofer, ein reicher Bauer, wird seit einem Schlaganfall von seinem Schwager heimgesucht. Der Schwager, in "Gottes Sach'" unterwegs, lehrt den Grillhofer das schlechte Gewissen zu pflegen und hofft auf diesem Weg an "die Sach" des alleinstehenden Bauern zu kommen. Und eifrig ist er dabei, der Nikodemi Dusterer, und spitzfindig. Dereinst hatte der Grillhofer seine Frau mit einer Magd betrogen und diesen Umstand weiß der Dusterer nur zu gut für sich und seine Zwecke einsetzen. Dass dieser Umstand seinerzeit zu "anderen Umständen" führte, macht dem Dusterer dann allerdings einen dicken Strich durch seine Rechnung.
Der Dusterer, begnadet gespielt von Alfred Kleinheinz, sieht mit seiner schwarzen Mütze und den stets zum Beugen bereiten Knien geradezu nach schlechtem Gewissen aus. Von solch einem Mann betreut, da kann der Wurm nur wachsen ... Der Bauer Grillhofer (wenig überzeugend Lorenz Gutmann) leidet, leidet augenscheinlich und nur die Brotsuppe kann hier helfen. Der Rosl gelingt es nicht, den Bauern mit ihren leckeren Kochrezepten, wunderbar gesungen und gejodelt vorgetragen von Ulrike Willenbacher, wieder auf den Pfad des Fleisches zu locken. Erst die Begegnung mit der resoluten Jennifer Minetti, dem Grund allen Leidens, bringt an den Tag - "... es ist mir, als wär dir dös traurige Wesen naufzwungen und stund drum a net 'n lieben Gott noch 'n Menschen an ...", wie die Horlacher-Lies dem Grillhofer eröffnet. In Ringelstrümpfen, mit wippenden Röcken und Locken fegt die Lies, berückend gespielt von Anna Riedl, über die Bühne. Lebendig und pfiffig hält sie als anständiges Mädel den Großknecht Wastl (Marcus Calvin) in Schach um sich dann doch endlich einen Kuss rauben zu lassen. Und am guten Ende des Bauernmusicals bleibt "die Sach" auch noch in der Familie.
 
 

 
 

Alfred Kleinheinz

© Thomas Dashuber

 

 

Die Inszenierung griff tief in den Zauberkasten der gestalterischen Möglichkeiten am Theater. Stefan Hageneier warf Farbtopf und Klischeekiste um, ließ Berge, Wolken und Blitz, einen Hof auf gelbfelsigem Grund, eine Kutsche mit zwei Pferden erstehen. Bühnenbild für Bühnenbild war sehenswert und blieb nachhaltig in Erinnerung. Sogar die einfache Stube in schrillem Grün war überzeugend. Die Darsteller, ausstaffiert von Ann Poppel, wirkten wie Puppen, unbedarft und wenig hintergründig. Darauf kam es Regisseur Franz Xaver Kroetz bei dieser Aufführung offensichtlich an. "Ich brauch nix Beispielmäßigs mehr, hob gnug an dem, was wirkli worgeht und wo ma umsonst a Auslegung sucht.", wie Ludwig Anzengruber den Grillhofer sagen lässt.

Kitschig kommt die Darbietung daher, auch die Musikeinlagen tun ein übriges dazu und "die große Botschaft" am Ende setzt sogar noch eins drauf. Doch, es ist ein Stück unterhaltsames zeitgemäß aufgepepptes Bauerntheater bei dem der Zuschauer auf seine Kosten kommt.

 

C.M.Meier

 

 


Der Gwissenswurm

von Ludwig Anzengruber und Franz-Xaver Kroetz

Bauernmusical

Lorenz Gutmann, Alfred Kleinheinz, Marcus Calvin, Ulrike Willenbacher, Anna Riedl, Robert Joseph Bartl, Dietmar Saebisch, Jennifer Minetti, Raffaele Bonazza, Tristan Seith

Regie: Franz Xaver Kroetz

Residenz Theater Klein Eyolf von Henrik Ibsen


 

 

Brav und bieder - die Katharsis blieb aus

Alfred Allmers, der einen Ausflug in die menschenleeren Berge gemacht hat, kehrt zurück, um seiner Frau Rita und seiner Schwester Asta zu erklären, dass er zu einer Entscheidung gekommen ist. Er gibt sein Werk, eine umfassende Abhandlung über die "Verantwortung des Menschen" zu schreiben, auf. Oder besser, er zieht es vor, dieser Verantwortung zukünftig selbst gerecht zu werden. Ziel seiner Bemühungen ist ein besseres Leben für seinen Sohn Eyolf. Dieser ist behindert, hat sich, während Alfred und Rita kopulierten, zum Krüppel gestürzt. Doch dann taucht die Rattenjule auf. Eyolf folgt ihr und ertrinkt im Fjord. Jetzt wird offenbar, was Eyolfs Anwesenheit bislang verschleierte. Alfred und Rita haben nie wirklich zusammen gelebt, bestenfalls miteinander. Der zweite und dritte Akt des 1894 von Henrik Ibsen verfassten Stückes handelt von Trauer, Sinnsuche und Scheitern. Zwar beschließen Alfred und Rita am Ende zögerlich gemeinsam weiter zu leben, doch ist die Prämisse fragwürdig. Sie denken darüber nach, ob sie die Kinder der armen, moralisch und sozial primitiven Menschen vom Strand hinauf in das Gutshaus holen, um denen an Stelle Eyolfs ein erfülltes Leben zu verschaffen.

Das Stück handelt von ausuferndem Egoismus - heute wertfreier als Individualismus bezeichnet - und die daraus resultierende emotionale und soziale Vereinzelung. Tatsächlich haben weder Alfred noch Rita einen wirklichen Lebensinhalt. So bleibt es höchst zweifelhaft, ob die vermeintlich gute Tat an den Armen nicht nur wieder eine neue Spielart ihres Egoismus ist. Die Literaturwissenschaft und etliche Interpreten deuten das Fahnehissen, ein symbolischer Akt am Ende des Stückes, als ein hoffnungsvolles Zeichen. Maximilian Harden formuliert es vorsichtiger Weise als Frage: "Ist's das Banner von Norwegen, das der Gutsbesitzer Alfred Allmers aufgepflanzt hat, um dem Gewimmel am Strande zu zeigen, dass für ihn nun ein neues Leben sorgender Nächstenliebe beginnt?" (Zitat: Programmheft) Nein, das wäre dann doch zu optimistisch gedacht und würde dem Anliegen Ibsens die Spitze nehmen. Der Dichter war kein Optimist in menschlichen Dingen. Er war auch kein Pessimist, um Missverständnissen vorzubeugen. Er war Realist und genau das qualifiziert ihn, uns eine Botschaft zu schicken, die uns eigentlich in Panik versetzten sollte.

 

 
 

Sibylle Canonica, Stefan Hunstein

© Thomas Dashuber

 

 

Um diese höchst aktuelle Botschaft zu einem erschütternden Ereignis zu machen, bedurfte es einer adäquaten Inszenierung. Die fand im Residenz Theater nicht statt. Regisseur Thomas Langhoff inszenierte bieder vom Blatt. Er erzählte die Geschichte geradlinig, ohne prickelnde szenische Einfälle, die dem Publikum hätten verdeutlichen können, warum es dieses Stück hier und heute erleben sollte. Im Grunde gibt es an der Inszenierung kaum etwas auszusetzen, außer, dass die Wirkung des Ibsenschen Entwurfs weitestgehend verpuffte. Wenn diese Inszenierung überhaupt sehenswert war, dann nur Dank der Leistung der Darsteller, allen voran Stefan Hunstein. Er bewies einmal mehr, dass ihm die Texte Ibsens liegen. Sein Alfred Allmers entsprach ganz und gar dem Habitus des idealisierenden, weltfremden, sich selbst permanent betrügenden aber doch stets liebenswerten Menschen, der sich in allen Ibsenstücken findet, um den sich in den Dramen des Skandinaviers häufig alles dreht. Stefan Hunstein spielte äußerst nuanciert und verlieh den menschlichen Schwächen Allmers Witz. Sybille Canonica hingegen gab eine in ihrem Lebensanspruch, der sich auf die Person Alfreds beschränkte, bis an die Grenzen der Hysterie gehende Ehefrau. Jan-Peter Kampwirth sei unbedingt noch erwähnt. Er spielte die Rolle des Ingenieurs Borghejm als Understatement. Tatsächlich war die Figur des Straßenbauers, eine beabsichtigte und wirkungsvolle Symbolik, ein Fremder im Reigen der Verlorenen, einer, der im wirklichen Leben seinen sinnvollen Platz hatte. Kampwirth verkörperte diese Figur überaus glaubhaft.

Ohne Zweifel arbeitete Ibsen auch in dieses Stück viel Symbolik ein. Diese sichtbar zu machen, war Regisseur Langhoff deutlich bemüht. So erschien das Allmersche Gutshaus im ersten Akt als Hort der Geborgenheit. Bühnenbildner Stefan Hageneier hatte großzügige mehrschichtige Räume in warmen hellen Tönen geschaffen, die Platz ließen für ausgreifendes Spiel. Im zweiten Akt, Klein Eyolf war ertrunken, brach ein sintflutartiger Regen über die Welt der Allmers herein. Das Haus bot keinen Winkel mehr, diesen Unbilden zu entgehen. Im dritten Akt waren die Möbel unter Folien verborgen. Der Vorgang des Konservierens deutete an, dass es keine wirkliche Veränderung gab. Ob der eindrucksvolle große Regen, in dem sich die Stehlampen nach und nach Funken sprühend verabschiedeten, in seiner Symbolik angemessen war, sei dahingestellt. Jedenfalls verbesserte er deutlich das Raumklima am schwülheißen Premierenabend.

Alles in allem war diese Inszenierung eher eine verschenkte Chance, als kathartisches Theater. Dies aber könnte und sollte das Stück in jedem Fall leisten. Zu brav, zu bieder zog die Geschichte von Menschen in persönlicher und sozialer Isolation am Publikum vorbei. Nur schwerlich konnte man darauf kommen, dass hier auch Zeitgeist wehte.
 

Wolf Banitzki

 

 


Klein Eyolf

von Henrik Ibsen

Deutsch von Heiner Gimmler

Sibylle Canonica, Stephanie Leue, Heide von Strombeck, Stefan Hunstein, Jan-Peter Kampwirth und Moritz Bock/David Mellein

Regie: Thomas Langhoff

Residenz Theater Tod eines Handlungsreisenden von Arthur Miller


 

 

Nur eine Ahnung …

Willy Loman ist Handlungsreisender und nach mehr als dreißig Jahren auf der Landstraße völlig ausgebrannt. Als er seinen Weg beschritt, schien nichts darauf hinzudeuten, dass die große Verheißung ein noch größerer Betrug war. Willys Hoffnungen ruhen nun wider allen Augenschein auf seinen Söhnen Biff und Happy. Sie haben den Selbstbetrug vom Vater geerbt, nur sind sie nicht so arbeitsam wie er. Willy stürzt zunehmend in eine Schizophrenie. Die Vergangenheit kommt immer wuchtiger über ihn, sein Versagen an den Kindern, sein Betrug an der Ehe und seiner Frau Linda. Am Ende steht er vor dem Nichts. Er verliert den Job, seinen Sohn Biff und seine Selbstachtung. Es muss schon als geistige Umnachtung gewertet werden, wenn er auf seine Fähigkeit pocht, sich beliebt zu machen und es immer noch zu schaffen. "Ich bin keine Dutzendware; ich bin Willy Loman…" Willy aber lebt schon längst nicht mehr im Leben; er reitet auf seiner Chimäre in den Abgrund.

Fünf Jahre lang ging Arthur Miller mit dem Namen Loman schwanger, ehe er den Grund erfuhr. Es war der Name eines Detektivs aus dem Fritz Lang Film "Das Testament des Dr. Mabuse", der sich in einer existenziell aussichtslosen Lage befand. "Für mich bedeutete der Name in Wirklichkeit ein von Entsetzen gelähmter Mann, der völlig allein ist und um Hilfe ruft, die niemals kommen wird." (Arthur Miller: Zeitkurven. Ein Leben.) Nebenbei: "Später fand ich es entmutigend zu erleben, mit welcher Sicherheit einige Kommentatoren zum Tod eines Handlungsreisenden über den schwerfälligen Symbolismus von "Low-Man" spotteten." (Ebenda.) Dieser Nachsatz scheint bestens geeignet, zu verdeutlichen, warum die Inszenierung durch Tina Lanik am Residenz Theater im Wesentlichen fehl ging. Auf der Bühne war nicht Willy Loman, sondern ein "Low-Man". Nachdem Miller sein Stück an Elia Kazan geschickt hatte, rief dieser ihn an: "Ich bin gerade durch. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Mein Vater …" Dann brach er ab. Wer im Münchner Residenztheater mag wohl angesichts dieser Geschichte gedacht haben: "Mein Vater …" Wenige, wenn überhaupt jemand. Ist das Stück darum nicht aktuell? Wohl kaum, angesichts der Vielzahl von Mitbürgern, die um ihr Überleben kämpfen. Aber ganz bestimmt saßen die Kinder "Willy Lomans" nicht im Theater und auch Regisseurin Tina Lanik scheint nicht derartiger Abstammung zu sein.
 
 

 
 

Marcus Calvin, Lambert Hamel, Oliver Nägele

© Thomas Dashuber

 
 
Magdalena Gut schuf für diese Inszenierung ein Bühnenbild, das kontraproduktiver kaum sein konnte. Ohne sichtbar zwingendes Konzept schien die Bühne angefüllt zu sein mit dem Wohlstandsmüll, den niemand braucht und der trotzdem mit horrenden Krediten angeschafft wurde und wird. Die variabel drehbare Spielfläche erwies sich als ein Hindernisparcours, der dem Spiel der Darsteller extreme Grenzen setze, ihnen jeden Raum für physische Entfaltung nahm. Die geistige und, wie der Text mehrfach betont, räumliche Enge des Lomanschen Hauses wurde lediglich kopiert, nicht überzeugend künstlerisch gestaltet. Vieles war nur Dekor, wurde zu keiner Zeit bespielt. Auf- und Abgänge aus und in den hinteren Bereich gestalteten sich langatmig und gelegentlich ließ die akustische Verständlichkeit zu wünschen übrig.

Tina Lanik inszenierte die Geschichte weitestgehend vom Blatt. Eine deutliche Lesart wurde nicht sichtbar. Dabei verschenkte sie viel, zu viel. Der Zuschauer erlebte das Drama, ohne dass der Funke wirklich übersprang. Ein schaler Geschmack blieb zurück, wohl auch, weil man mit Recht mehr hinter dem Gesehenen vermutete. Es war weder eine tiefgehende psychologische noch eine heutige sozialkritische Variante des in der ganzen Welt gespielten und verstandenen Stücks. Es war von jedem etwas und somit unentschieden. Hier trifft einmal mehr das zynische Urteil über die Klassik der Moderne zu: Sie ist von durchschlagender Wirkungslosigkeit!

Interessant war doch immerhin die Besetzung. Lambert Hamel als Willy Loman entsprach dabei durchaus der mit Lee Cobb in der Welturaufführung. Kazan und Miller sprachen über ihn hinter vorgehaltener Hand immer als das "Walross". Lambert Hamel fand leise und berührende Töne, polterte aber gleichsam seinen hypertrophen Anspruch in die Welt hinaus. Die Umbrüche von der Realität in den Traum oder gar in den Wahn waren glaubhaft gestaltet, entbehrten aber dennoch der Komik, die Miller beabsichtigt hatte. Der Autor hatte sich beim Schreiben des ersten Aktes immerhin heiser gelacht über Willy.
Wenn man bedenkt, dass der Biff in der Schlöndorff Verfilmung vom jugendlichen John Malkovitch gespielt wurde, gerät die eigene Vorstellungskraft bei dem Anblick Oliver Nägeles erst einmal ins Stocken. Dabei war gerade er es, der durch die Vielschichtigkeit der Figur am deutlichsten überzeugte. Die Illusion vom gescheiterten, um Vaterliebe und Verständnis ringenden Jungen gelang vollständig. Marcus Calvin stand ihm allerdings nicht nach. Sein Happy war flatterhaft und opportunistisch, verlogen und doch nicht abstoßend - eher bedauernswert. In ihm spiegelte sich ein Höchstmaß an Verlorenheit wider. Elisabeth Schwarz gab die Ehefrau Linda ganz im Habitus der Hausfrau, die sich dem Mann unterordnet, hinter deren Fassade aber Ängste und Sehnsüchte brodeln.

Trotz der recht respektablen schauspielerischen Leistungen hinterließ diese Produktion keinen deutlichen und bleibenden Eindruck. Der Zeitbezug, obwohl er aus jeder Zeile des Stückes hervorschimmert, konnte nicht wirklich hergestellt werden. Vielmehr setzte man auf die psychologischen Momente einer menschlichen Tragödie, bei der man außen vor blieb, gerade weil der deutliche Bezug fehlte. Bei näherer Betrachtung gibt das Programmheft dieser Behauptung Recht. Warum also hat Tina Lanik dieses heute so hochprovokante Stück, das zu den gesellschaftskritischsten Dramen der Nachkriegszeit zählt, inszeniert? Mit diesem Werk unterhalten zu wollen, ist dann doch zu wenig.

 
Wolf Banitzki

 

 


Tod eines Handlungsreisenden

von Arthur Miller

Elisabeth Schwarz, Gerd Anthoff, Marcus Calvin, Lambert Hamel, Guido Lambrecht, Oliver Nägele

Regie: Tina Lanik

Residenz Theater Woyzeck von Georg Büchner


 

 

Theater des Fatalismus
oder wie spannt man Büchner vor einen fahruntauglichen Karren


Am 28. Februar 1837 verfasste der Schweizerische Republikaner Wilhelm Schulz einen Nachruf auf den eine Woche zuvor verstorbenen Georg Büchner. Darin zitierte er den Kranken: "Ich fühle keinen Ekel, keinen Überdruß; aber ich bin müde, sehr müde." Büchner war gerade einmal vierundzwanzig Jahre alt.

Selbiger Wilhelm Schulz vermerkte in seinem Nachruf, dass sich "unter seinen hinterlassenen Schriften ein beinahe vollendetes Drama" befand. Gemeint war "Woyzeck". Dieser Franz Woyzeck ist im Büchnerschen Drama ein Soldat niedrigsten Ranges. Er liebt Marie und hat mit ihr ein uneheliches Kind. Um beide unterstützten zu können, unterwirft sich Woyzeck fragwürdigen medizinischen Experimenten und leistet seinem Hauptmann über die normalen Dienstpflichten hinaus alle möglichen niederen Handreichungen. Marie ist ein schlichtes Mädchen, empfänglich für die Eitelkeiten der "besseren Leute". Als sie sich dem Tambourmajor hingibt und Woyzeck davon erfährt, tötet er sie.

Auf den ersten Blick handelt es sich um eine Kriminalgeschichte um Eifersucht, wie sie alle Tage vorkommen kann. Aber aus Büchner Feder floss mehr, als nur eine tragische Begebenheit kleiner Leute. Es ist ein Drama über den Menschen an sich, über seine Jahrhunderte alten Leiden, resultierend aus Unterdrückung, Entmündigung und Not. Kaum eine dramatische Figur ist jemals dergestalt auf sein Wesen in dieser Reinheit zurückgeworfen worden. Zugleich ist Woyzeck aber auch ein gesellschaftliches Wesen, das wie ein verglühender Komet über seiner und auch den nachfolgenden Gesellschaften leuchtet, sie erleuchtet. An Woyzeck, dem einfachen Mann in seiner ganzen gesunden Natürlichkeit muss sich die Gesellschaft messen lassen. Sie fällt durch, wird in ihren degenerativen Erscheinungen von Büchner vorgeführt. Allein, die Opfer sind immer dieselben. Daran hat sich seit Büchner nichts geändert und darum gehört das Drama auch heute noch auf die Bühne.

Die historischen Tatsachen um Stück und Autor und die Genialität des dramatischen Entwurfes fordern selbstredend Verantwortlichkeit ein. Martin Kušej, designierter Residenztheaterintendant, hat sich, wie im Vorfeld der Inszenierung bekannt wurde, jahrelang standhaft gegen dieses Stück gewehrt. Das klingt nicht nach "gutem Omen". Dennoch fand das Ereignis, in zweierlei Hinsicht bedeutsam, statt. Zum einen war es die Antrittsarbeit des zukünftigen Intendanten, zum anderen eine besondere künstlerische Herausforderung.
 
 

 
 

Juiliane Köhler, Jens Harzer

© Thomas Dashuber

 

 

Zu allen Zeiten stand eine Frage allen Inszenierungen voran: Wer ist Woyzeck? Eines kann schon mal verraten werden. Martin Kušej gab keine befriedigende Antwort. Dabei gab er sich sichtbare Mühe. Die ästhetische Umsetzung war Zeugnis dieser Bemühungen. Ebenso die Länge des Stückes. Wenn neunundzwanzig Seiten Text auf zwei Stunden gedehnt werden, kann Bemühen der Macher auch schon mal in Mühsal für das Publikum ausarten. Wer sich auf die Suche nach dem inszenatorischen Ansatz macht, wird als Zuschauer ratlos bleiben. Erst bei gründlichem Studium des Programmheftes kann er fündig werden. Hans-Joachim Ruckhäberle, Dramaturg dieser Inszenierung, hilft uns auf die Sprünge, in dem er Büchner deutet: "Die Gefahr des Ästhetizismus ist ihm (Büchner) dabei bewusst, er weiß, dass 'Phrasen' und Taten nicht eins sind. Deshalb entwickelt Büchner keine eigene literarische Sprache, sondern ein eigenes Verfahren: die Montage. (...) er montiert, collagiert, übermalt, dekonstruiert und konstruiert."

Diese (nicht von jederman geteilte) Auffassung über Büchner szenisch umgesetzt erwartete den Zuschauer im Residenztheater. In einem Bühnenbild von Martin Zehetgruber, bestehend aus blauen Müllsackdünen, wird nicht das Stück gespielt, sondern einzelne Szenen. Diese sind voneinander abgetrennt, mit Fremdtexten aufgefüllt, auch gegeneinander verschoben und selbst der Kenner des Werkes musste sich Irritationen bezüglich des Ablaufs gefallen lassen. Jens Harzer, seine Darstellungen sind immer etwas Besonderes, gab einen weltabgewandten, traumtänzerischen Woyzeck, der nur in höchster Not Expression entwickelte. Für eine gewisse Zeit lang konnte der Eindruck entstehen, Woyzeck hätte sich das Hamletprinzip zueigen gemacht. Das wäre in der Tat eine interessante Lesart gewesen. Doch als Woyzeck am Ende die Mordwaffe beseitigt hatte, stolperte er ziel- und kopflos durch die Blausackdeponie. Also war er doch kein Hamlet, keiner, der die Geschicke inaktiv-aktiv mitgestaltete, sondern ein leeres, zum "Automaten" verkommenes Wesen. Diese Philosophie des Fatalismus war denn auch die letzte Botschaft. "Dass er (Woyzeck) sich mit allem identifizieren kann, macht ihn zum modernen Individuum." (Hans-Joachim Ruckhäberle. Programmheft) Woyzeck als vermeintlicher Opportunist, denn Opportunismus zeichnet den modernen Menschen aus, ist angesichts seiner Tat dann doch ein Widerspruch in sich.

Immerhin schloss sich vermittels dieser Betrachtungsweise der Kreis zum Verständnis aller anderen Rollen. Marie, wenig different von Juliane Köhler gespielt, blieb auf ihre Triebhaftigkeit reduziert. Moralische Selbstreflexionen klangen wie das mechanische Wiederkäuen von Kanzelsprüchen.
Die "Frau" - bei Büchner heißt sie Käthe - (gespielt von Barbara Melzl) ist die Vollendung Maries als ein gefühlloses, den niedrigsten "volksempfindenden" Konventionen folgendes Weib. Andres (Marcus Calvin), wahrer Freund Woyzecks, wurde bis zur Unkenntlichkeit zurückgenommen. Hier wurde Menschlichkeit scheinbar mit Vorsatz verhindert.
Die Gesellschaft, bestehend aus dem Hauptmann (Rainer Bock), dem Doktor (Werner Wölbern), dem Tambourmajor (Felix Rech) und dem Ausrufer (Robert Joseph Bartl), war ein Panoptikum lächerlicher Figuren. Gegen diese Gesellschaft sollte es kein Mittel geben? Hier wird die Inszenierung zutiefst unglaubwürdig. Dieser Ansatz hieße, alle Geschichte außer acht zu lassen. Was Regisseur Kušej so plakativ ausstellte, als übermächtig postulierte, war Büchners Ansatz zur Veränderung, denn diese Welt wandelte bereits am Abgrund.

Unter Berufung auf Büchners Furcht vor Ästhetizismus war hier eine höchst ästhetische Inszenierung entstanden, deren Schauwert unbestritten ist. Also ein weiterer Anachronismus. Regisseur Martin Kušej, dessen Arbeiten längst nicht mehr frei von Ästhetizismen sind, zielte mit einer ausgefeilten Lichtregie und einer Bühnenmusik, die extrem suggestiv wirkte, von der ersten Sekunde an auf die Emotionalität des Betrachters. Genau davor suchte sich Büchner zu schützen. Es kann auch kaum in seinem Sinne sein, wenn alles wie eine Weltuntergangsapologetik anmutete. Wenn nicht im Sinne Büchners, so war es wohl im der Sinn der Sache, wenn Büchner unterstellt wird: " Dass in seiner Welt die Sonne um eine verbrannte Erde kreist, diese Einsicht nimmt uns Büchner vorweg." (Hans-Joachim Ruckhäberle. Programmheft)

Ohne Zweifel wird diese Inszenierung viel Zuspruch erfahren. Es ist eine ästhetisch ausgefeilte Arbeit, die einem larmoyanten Fatalismus huldigt, der in der Gesellschaft den vorherrschenden Opportunismus rechtfertigen soll. Nur selten kann man Büchner so perfide, so intellektuell verschroben interpretiert erleben. Das allein sichert vermutlich die Zuschauerzahlen. Denn anders machen ist in. Nach Wahrheiten suchen ist relativ geworden. Wahrheiten sind, was man dazu erklärt. So sei noch einmal auf das Programmheft verwiesen, wo von S. 26 bis S. 30 eine Aufzählung aller fatalistischen Aussagen Büchners zum Beweis für seinen Fatalismus dienen soll. Nein, Büchner war 24 Jahre alt als er starb und "müde, sehr müde." Wir verzweifeln heute wesentlich schneller in unserer Saturiertheit. Aber da kommt uns doch ein fatalistischer Georg Büchner grad recht ... oder?


Wolf Banitzki

 

 


Woyzeck

von Georg Büchner

Cornelia Froboess, Juliane Köhler, Barbara Melzl, Robert Joseph Bartl, Rainer Bock, Marcus Calvin, Jens Harzer, Felix Rech, Arnulf Schumacher, Werner Wölbern

Regie: Martin Kušej