Volkstheater Das Fest von Thomas Vinterberg und Mogens Rukov




Das letzte Abendmahl

Es wird Geburtstag gefeiert im Hause Klingenfeldt. Vater Helge hat zum gesamtfamiliären Freudenfest geladen, um seinen 60. zu zelebrieren. Dass bei derartigen Veranstaltungen im besten Fall häufig die Langeweile regiert und schlimmstenfalls (alkoholbedingte) Entgleisungen einiger Anwesender für Missstimmung sorgen, ist wohl den meisten aus eigener Erfahrung bekannt. Wer Thomas Vinterbergs Dogma-Film "Das Fest" kennt ahnt zudem, dass auch Jorinde Dröses Inszenierung (basierend auf dem von Bo Hansen für die Bühne bearbeiteten Originaldrehbuch) in der häuslichen Katastrophe enden wird.

Das Fest im Volkstheater beginnt, von einigen Theaterbesuchern zunächst unbemerkt, im Foyer mit der Ankunft des ältesten Sohnes Christian (Leopold Hornung als Anzug-gewandeter Businessmann, natürlich mit obligatorischem Handy am Ohr). Dessen überschwängliche Begrüßung durch Nesthäkchen Michael (Andreas Tobias), der seiner Frau Mette (Stephanie Schadeweg) gerne das Koffertragen überlässt, beschließt das "Vorspiel" im Foyer. Die übrigen anwesenden Gäste werden nun in den Fest- bzw. Theatersaal gebeten. Julia Scholz gestaltet mit ihrem holzgetäfelten, in unheilschwangerem Ochsenblut gehaltenen Halbrund einen wohltuend minimalistisch ausgestatteten Bühnenraum. Diese Arena, im Hintergrund mit dem angesichts der filmischen Vorlage zu erwarteten Videoscreen versehen, bietet genug Platz für kommende Schlachten.

 

Werner Haindl, Leopold Hornung

© Arno Declair


Die Begrüßung im Saal übernimmt der Patriarch höchstpersönlich. Werner Haindls Helge spult jovial-souverän seine Eröffnungsrede herunter - einem erfolgreichen Geschäftsmann treibt schließlich nichts so schnell den Schweiß auf die Stirn - und gibt dann die Bühne frei. Zeit, die restlichen Protagonisten kennen zu lernen.
Zu den bereits aus dem Foyer bekannten Gesichtern gesellt sich Helene, dritter und letzter (noch lebender) Spross der Familie Klingenfeldt. Elisabeth Müller gibt sie als naiv-großäugige Kindfrau, die die Augen nur zu gerne vor der harten Realität verschließt. Beim Beziehen der Zimmer werden erste Risse in der großbürgerlich-saturierten Fassade sichtbar. Michael bettelt winselnd um Anerkennung und väterliche Liebe, ist jedoch ganz großkotziger Macho, wenn es um die eigene Frau geht. Christian wird nach dem Selbstmord seiner Zwillingsschwester (beide wurden als Kinder vom Vater missbraucht), von Hass und Schuldgefühlen zerfressen. Helene, singende Anthropologiestudentin mit nicht standesgemäßem Boyfriend (Michael Gunn), weigert sich fast bis zuletzt, die schrecklichen Taten des Vaters als wahr zu akzeptieren. Hier ist niemand das, was er auf den ersten Blick erscheint. Vinterbergs Figuren haben meist mehr als ein Gesicht und machen es dem Zuschauer nicht leicht, Partei für oder gegen sie zu ergreifen. Es sind gebrochene Charaktere auf der Suche nach Erfolg, Macht und (gesellschaftlicher) Anerkennung, die schon im Vorfeld and ihren utopischen Zielen scheitern, dies jedoch nicht wahrhaben wollen. Begriffe wie Liebe oder Glück scheinen nur marginal relevant, Beziehungen (fast) unmöglich.

Jorinde Dröse spielt mit dieser emotionalen wie räumlichen Distanz. Ihre Figuren wirken oft isoliert, erstarren in tableauartigen Standbildern, Momentaufnahmen alltäglicher menschlicher Abgründe, die den stärksten Eindruck bei diesem Theaterabend hinterlassen. Ein Plot, in dem sich Pädophilie, häusliche Gewalt, und faschistische Auswüchse die Klinke in die Hand geben, braucht keine lauten Töne.
Folgerichtig auch die frontale Platzierung der Schauspieler an der langgezogenen Festtafel, die Assoziationen zu Da Vincis "Abendmahl" zulässt. Es wird viel geredet, Kommunikation findet jedoch nicht statt. Blick- und Körperkontakt sind auf das Nötigste reduziert. Kollektive Gefühlsausbrüche verpackt Dröse mehrfach in Gesangs- und Bewegungschöre, an denen die Schauspieler offensichtlich ihre Freude haben.

Die Tafel, Dreh- und Angelpunkt eines großen Teils der Inszenierung, ist das Reich Benjamin Mährleins, der als schmieriger, sich anbiedernder Conferencier bzw. "Toastmaster" Helmut von Sachs überzeugt. Ganz wie es sich für eine Familienfeier gehört hält er sie per Videokamera für die Ewigkeit fest. Das Medium Video wird, bei einem auf einem Dogma-Film basierenden Stück nicht verwunderlich, wiederholt als zusätzliches kommentierendes Stilmittel eingesetzt. Abgesehen von einem Einspieler am Vorstellungsende liefert die Handkamera Livebilder vom Geschehen hinter der Bühne und Close-ups der Gesichter der Darsteller. Dankenswerter Weise wird die Technikspielerei nicht überstrapaziert. Mit der Gegenüberstellung von Videobildern und Bühnengeschehen gelingen Jorinde Dröse mehrfach eindrucksvolle Bilder. Das Problem der zahlreichen parallel verlaufenden Handlungsstränge wird auf diese Weise und durch das gleichzeitige Spielen mehrerer Szenen auf der Bühne gelöst.

Am Ende siegt die übermächtige Realität über das in gemeinsamer Anstrengung so lange aufrechterhaltene Traumbild der glücklichen Familie. Die aufwühlenden Ereignisse der Nacht weichen am nächsten Morgen dennoch erstaunlich schnell Kaffeeduft, Brötchen und entspanntem Smalltalk der jungen Generation. Der Auftritt des gestürzten Patriarchen ist da letztendlich nur kurze, unangenehme Zäsur. Helge geht alleine, auch seine bis dato verstörend zu ihm stehende Gattin Else (gut, Sophie Wendt) will nicht mehr an seiner Seite bleiben. Frühstück und Smalltalk werden wieder aufgenommen, die Spannung löst sich in Wohlgefallen auf. Aus den Augen, aus dem Sinn.

Begeisterter Beifall.


Tina Meß

 

 


Das Fest

von Thomas Vinterberg und Mogens Rukov

Dirk Bender, Anne Bommer, Michael Gunn, Werner Haindl, Katharina Haindl, Leopold Hornung, Timur Isik, Benjamin Mährlein, Stefan Murr, Elisabeth Müller, Stephanie Schadeweg, Andreas Tobias, Sophie Wendt

Regie: Jorinde Dröse

Volkstheater Don Karlos von Friedrich Schiller




Tod der Schwärmer

Es ist schon eine Wahnsinnsgeschichte um den Infanten Don Karlos. Ein Historienkrimi und eine große Geschichtsanalyse zugleich, wobei hier einige geschichtlichen Fakten weitestgehend unverbrieft sind. Beispielsweise die Liebe Don Karlos zu seiner Stiefmutter Elisabeth von Valoise, die ihm zuvor als Gattin zugesprochen wurde, die jedoch vom Vater Phillip der Zweite aus Gründen der Staatsräson geheiratet wurde. Und warum auch nicht, ist es doch ein fabelhafter dramaturgischer Einfall und tut der Historie keinen Abbruch. Allein, wenn der junge Infant am Ende der Geschichte der Heiligen Inquisition überantwortet wird, übertreibt der Dichter Schiller zu Gunsten seiner politischen Aussagekraft. Zwei Stunden nach der Aufführung am 5. Oktober war auf dem Fernsehsender arte aus dem Mund des honorigen Günter Grass sinngemäß zu vernehmen: ‚Da lobe ich mir die Kunst der Dichtung, denn Geschichtsschreibung spricht vornehmlich von den Siegern und weniger oder selten von den Verlierern der Geschichte. Die Literatur gleicht das aus.' In Schillers großem Drama kommen die Verlierer lautstark zu Wort. Und der wichtigste Verlierer in der Geschichte um den spanischen Infanten ist der Marquise de Posa.

"Don Karlos" - Kenner lauern denn auch heute wie damals vor genau 220 Jahren auf den einen Satz des Posa in der 10. Szene des 3. Aktes: "Geben Sie Gedankenfreiheit." Die Vorzeichen haben sich jedoch gründlich geändert, wenngleich die Zeiten sich kaum gewandelt haben. Damals schlug das patriotische, freiheitsliebende Herz hoch. Heute bewegt der Satz noch ein paar alternde Romantiker. Der Rest ist Banalität. Heute werden die Anhänger der "Aufklärung" als Fossile belächelt. Damals wurde Schiller nach der Vorlesung des ersten Aktes von "Don Carlos" am Darmstädter Hof in Gegenwart des Herzogs Karl August von Sachsen-Weimar zum Weimarischen Rat ernannt. Was sich augenscheinlich nicht ändert sind die Menschen. Und genau darauf kann sich Regisseur Stückl verlassen, wenn er die Geschichte locker-flockig und spritzig als großes Intrigenspiel verkauf. Eine gelungene Inszenierung, soviel steht schon mal fest.

 


Friedrich Mücke, Nico Holonics

© Klaus Fröhlich


Stückl hat den Karlos mit dem jungen "Ernst-Busch" - Absolventen Nico Holonics besetzt. Unbestritten ein guter Griff, denn Spielweise und Gestus, die durchaus deutliche Parallelen zum historischen Karlos, der psychisch stark pathologische Züge aufwies, wurden sichtbar. Holonics Karlos war wahrlich nicht dazu angetan, das gewaltige Reich Philipps zu erben. Zweifellos hätte er es ruiniert, ohne einen historischen Fortschritt zu erlangen. Anders die pathetisch überhöhte Figur des Posa. Die Rede an den König, die dem oben zitierten Satz voraus ging, war hingegen für 150 Jahre politisches Programm in Europa. Doch Posa lässt sich auf die politischen Mittel des Ränkespiels ein und verliert. Friedrich Mücke überstrahlte nicht nur mit den Inhalten seiner Rolle die ganze Szene, er brillierte in der Rolle des freiheitsliebenden Menschen mit ausgeklügelter Gestaltung. Seine Glaubhaftigkeit stand außer Frage. In Erstaunen versetzte die Gestaltung der Xenia Tiling, deren Elisabeth äußerst harte Züge trug, von schnippisch bis arrogant verkörperte sie eine Frau, die zerrissen war in Lebensanspruch und Rollenverhalten. Diese zwar interessante Anlage lässt doch einige Zweifel daran aufkommen, ob eine derartige Haltung in ihrer Zeit überhaupt denkbar war. Allerdings, die Tatsache, dass Philipp sie vergiften ließ, spricht dafür. Leider war die Gestaltung der Rolle des Königs durch Christian Schneller nicht durchgängig befriedigend. Es ist schwer vorstellbar, dass diese historische Figur sich gelegentlich wie ein "Häuflein Elend" gebärdete. Geradezu peinlich ist denn auch der Kniefall des Königs vor Domingo, der hier gleichsam die Rolle des Großinquisitors übernahm, und den Timur Isik nuanciert und fein im Wechselspiel aus intriganter Größe und physischer Feigheit gab. Bei Schiller, das nur nebenbei, lässt sich der König an dieser Stelle in einen Sessel fallen. Damit ideologisiert Regisseur Stückl und vergeht sich an dem Format der historischen Persönlichkeit. Die daraus resultierende dramatische Wahrheit ist zu banal. Erwähnt sei unbedingt noch Barbara Romaner, deren Part als Prinzessin Eboli eine Schlüsselrolle im Drama zukommt. Mit großem visuellen Liebreiz und schauspielerischer Fähigkeit gestaltete sie eine Intrigantin, die dem Schillerschen Stück zwar gerecht wird, die den männlichen Betrachter sich selbst allerdings fragen ließ, warum Karlos ihr, der hingebungsvollen und wunderbar anzuschauenden Frau, die spröde und nicht selten wie ein Neutrum wirkende Königin vorzog. Vielleicht wirkte ein versteckter Ödipuskomplex beim Infanten? Für diese sehr subjektive Auslassung bittet der Kritiker um Nachsicht.

Wenn diese Inszenierung so geschlossen und über drei Stunden und 45 Minuten ohne eine einzige Länge daher kam, dann war dies nicht zuletzt dem gelungenen Bühnenbild von Marlene Poley zu danken. Sie zeichnete auch für die fabelhaften Kostüme verantwortlich. Marlene Poley schuf einen labyrinthischen Madrider Hof, der in seinen eisernen Enge und Vergitterung dem geistigen Gefängnis entsprach, in dem Menschlichkeit erstarb. Als Drehbühnenkonstruktion gelangen visuelle Einstellungen, die die Vorgänge auf der Bühne deutlich unterstützten.

Diese für das Volkstheater sehr aufwendige Inszenierung sollte in Augenschein genommen werden. In "Zeiten begrenzter Mittel", was auch übersetzbar wäre mit in "Zeiten begrenzter Freiheit", sollte man sich den Genuss Schillerscher Kunst nicht versagen. Es könnte sein, dass dieser Schwärmer aus Gründen der Effizienz irgendwann eingemottet wird. Im Stück steht es Schwarz auf Weiß, wenn der König dem Posa auf seinen so berühmten Satz antwortet: "Sonderbarer Schwärmer!" Wenig später war dieser Schwärmer tot.


Wolf Banitzki

 

 

 


Spiel Don Karlos

von Friedrich Schiller

Christian Schneller, Xenia Tiling, Nico Holonics, Ursula Burkhart, Camelia Chirtes, Barbara Romaner, Friedrich Mücke, Marcus Brandl, Stefan Murr, Timur Isik, Andreas Tobias, Lena Franke / Emilia Solfrian / Alina von Rützen

Regie: Christian Stückl

Volkstheater Schilf nach dem gleichnamigen Roman von Juli Zeh




Wenn sich das Leben im Denken verflüchtigt

Schilf, Kriminalkommissar mit der ganz besonderen Sensibilität, kommt erst spät ins Spiel. Im Gegensatz zu üblichen Kriminalstorys dauert es auch eine ganze Weile, ehe das Verbrechen geschieht. Der Zuschauer kennt den Täter. Es ist Sebastian, Philosophieprofessor in Freiburg. Das Opfer, Dabbeling, ist Mediziner. Er ist ganz augenscheinlich in einen Pharmaskandal verwickelt. Er wurde Fahrrad fahrend von einem Drahtseil geköpft, das Sebastian über seine Trainingsstrecke gespannt hatte. Nebenbei, es handelt sich hier um eine alte Nazimethode. Was könnte einen Physikprofessor wie Sebastian zu so einer Tat veranlassen? Natürlich die Entführung seines Sohnes, von der dieser später allerdings nichts weiß, da er das Verbrechen verschlief. Es sind sonderbare Vorgänge, kaum zu verstehen. Doch die Lösung ist banal, so banal, dass man sie mit großen wissenschaftlichen oder zumindest wissenschaftlich klingenden Thesen untermalen muss, damit sie einigermaßen erträglich wird.

So beginnt das zum Bühnenstück getrimmte Prosawerk mit zwei jungen Studenten, denen die Genialität aus den Knopflöchern quillt. Ein heiliger Schauer befällt den Betrachter angesichts der sehr wissenschaftlich klingenden Welterklärungen, die allerdings nicht mehr als populäre Thesen vorstellen. Eine These (Sie ist ebenso wenig beweisbar oder widerlegbar wie Gott.) tritt später in den Vordergrund, nämlich die von Hugh Everetts stammende Viele-Welten-Interpretation, eine Interpretation der Quantenmechanik, welche auf der "relative-state-Formulierung" ("Relativer-Zustand-Formulierung") beruht. Alles klar?

Friedrich Mücke, Johannes Silberschneider

© Gabriela Neeb


Keine Bange, man bleibt an der Oberfläche, denn hier soll nicht Aufklärung geleistet, sondern Eindruck geschunden werden. Darum kommt man denn auch schnell zu den lockeren Sprüchen des britischen Quantencomputer-Pioniers David Deutsch über Paralleluniversen, Zeitreisen und wie der Spiegel zum Thema titelte, den größten Physikskandal des 20. Jahrhunderts. Deutsch meinte, es sei durchaus vorstellbar, ja, sogar sehr wahrscheinlich, dass Queen Elisabeth und Michael Gorbatschow Tee miteinander trinken - in einem anderen Paralleluniversum, wohlgemerkt. Im Stück erzeugte man besagten heiligen Schauer mit der These, Kennedy fahre am besagten Tag nicht durch Dallas und …

Wozu diente nun eigentlich das ganze hirnlastige Zeug, das, wie erwähnt, nicht wirklich den Horizont erweiterte? Es ging darum, einmal mehr den Beweis anzutreten, dass die Dinge nicht sind, wie sie scheinen. Wenn dann noch ein wenig Heisenbergsche Unschärferelation hinzu kommt, beschleicht den Zuschauer das unheimliche Gefühl, er habe bislang in einer falschen Realität gelebt. Juli Zeh hatte dabei jedoch ein literarisches Exempel im Auge, nämlich eines, das Antworten auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen Wissenschaft und Ethik gibt. Das ist gewiss nichts neues, aber doch allemal eingängiger (weil nicht so ernsthaft) und unterhaltsamer als Brechts "Galilei". Immerhin, am Ende steht die These, dass es besser wäre, eine Welt zu akzeptieren und darin Verantwortung zu übernehmen, als in Parallelwelten herumzuschweinigeln.

Und noch einiges scheint zu gelingen, beispielsweise die Erklärung, wie Schilf seinem Hirntumor ins Auge schauen kann, ohne vom Schwindel nieder gestreckt zu werden. Alles das nimmt seinen Weg über Deklamation, denn die Bearbeitung durch Bettina Bruinier und Katja Friedrich ergab kein Drama, sondern nur gelegentlich dramatische Einsprengsel. Ansonsten wird erzählt. Auch wenn die Geschichte eigentlich nicht mehr ist als ein intellektuell aufgeblasener Tatort, ist sie in der Inszenierung des Volkstheater unbedingt sehenswert.

Regisseurin Bettina Bruinier inszenierte mit Schwung eine verworrene Geschichte, die letztlich den Besucher nie ausließ, selbst wenn dieser nicht immer unbedingt folgen konnte. Sämtliche Schauspieler agierten auf der kleinen, von Justina Klimczyk nach pragmatischen Gesichtspunkten sinnfällig gestalteten Bühne mit höchster Intensität. Allen voran Johannes Silberschneider als Schilf. Er war ein Kriminalkommissar, der unkonventionelle Wege ging. Seine zutiefst menschliche Ausstrahlung, sein durchaus klischeehaftes Aussehen mit "Trenchcoat und Vogelgesicht", sein Verbindlichkeit im Umgang mit Zeugen oder Verdächtigen war entgegen aller Vorstellung vom Habitus eines Polizisten dennoch sehr effektvoll. Dabei wurde Silberschneider nie expressiv; er erweckt nie den Eindruck, er stehe drüber. Der Schauspieler Silberschneider spielte stets die ureigenste Prämisse der Rolle Schilfs: Nimm erst einmal das Gegenteil von dem an, was sich dir aufdrängt. In diesem Sinne hatte er auch seine Schülerin Rita ausgebildet, der er im Stück kriminaltechnisch assistierte. Sophie Wendt spielte überzeugend eine im Leben stets zu kurz gekommene Frau, die aber gerade aus diesem Grund eine gute Polizistin wurde. Sie blieb das hässliche Entlein, aber niemand nahm ihr mehr die Butter vom Brot. Friedrich Mücke (Sebastian) und Andreas Tobias (Oskar) spielten die von der Aura des Genies umgebenen Physiker. Andreas Tobias konnte, da die Geschichte ihn nur geringfügig veränderte, diese Haltung des arroganten Sunnyboys und Nobelpreisanwärters bis zum Ende zelebrieren. Friedrich Mücke hingegen schlitterte als Sebastian in die größtmögliche Katastrophe, was er dem Publikum auch höchst lebendig vermitteln konnte. Barbara Romaner gestalte anmutig eine liebende Ehefrau und Mutter. Sie war im Konflikt jedoch eher eine Nebenrolle. Hier schlug die Dramaturgie des Romans zum Nachteil des Dramas zurück. Besonders sehens- und vor allem hörenswert war die Gestaltung einer populärwissenschaftlichen Sendung im ZDF. Was sich in dieser Szene ereignete, war nebenher auch eine treffliche Medienkritik an der heutigen Bla-bla-bla-Kultur.

Und damit der große Entwurf intellektuell nicht an Niveau verlor, ergab sich die Lösung des Mordfalls, verbunden mit der Selbsterkenntnis eines Tumorinhabers, der Vollendung einer kriminalistischen Beweiskette, dem Erringen einer höheren Moral und dem populärwissenschaftliche Höhenflug in die Philosophie der Physik, aus einer Formulierung George Orwells (1984). Ein schlichtes Missverständnis, ein Kommunikationsfehler hatte die Katastrophe ausgelöst. Sie erinnern sich? Der zufällige Flügelschlag eines Schmetterlings kann ins Chaos führen.


Wolf Banitzki

 

 


Schilf

nach dem gleichnamigen Roman von Juli Zeh

Bühnenbearbeitung: Bettina Bruinier, Katja Friedrich

Friedrich Mücke, Barbara Romaner, Johannes Silberschneider, Andreas Tobias, Sophie Wendt

Regie: Bettina Bruinier

Volkstheater Macbeth von W. Shakespeare




Wenn man Mann spielt

Ein schwarzes Loch, die Bühne, klaffte den Zuschauer an. Darin setzten ein Baum, helles Naturholz, und Balken, Trümmer, und in Leder die Teile von Leichen, Gefallene einer Schlacht, sowie blanke metallene Technik, Akzente. Das raue Schottland, seine Moore und finsteren Burgen fanden hier ihre Entsprechung, ebenso wie das Abgründige im Menschen und die finsteren Mächte des Schicksals. (Bühne Hannah Albrecht). In diese Welt stieg eine Hexe herauf, trug ihren Topf herbei, um Macbeth die Lebenssuppe zu kochen. Die Zutaten für diese Suppe des Bösen waren, neben Kräutern und Pulver, ein Fingernagel, ein Haar und ein Hexenzahn. Zwei weitere Hexen kamen hinzu und gemeinsam wurde die Bestimmung zum Dampfen gebracht. Das Spiel nahm seinen Lauf ...

Macbeth und Banquo kehren aus einer Schlacht gegen den König von Norwegen zurück und begegnen im Wald den Hexen. "Heil dir, Macbeth! Heil dir Than von Glamis!" "Heil dir Macbeth! Heil dir Than von Cawdor!" "Heil dir, Macbeth, der einst König sein wird!" Damit zeichnen sie seinen Weg. Ein Narr, der da nicht folgte ihren Worten. Doch Macbeth zögert anfangs noch, zeigt Skrupel und erst seine Frau vermag ihn auf den Weg zu bringen. So kommt es zum Mord an König Duncan, an Lakaien und schließlich an Banquo und Lady Macduff und ihren Kindern. "Macbeth wird nie besiegt, bis einst hinan der große Birnams Wald zum Dunsinan feindlich emporsteigt." ... und der Wald steigt empor in Gestalt von Malcolm, Macduff und englischen Soldaten ...


Markus Brandl, Nico Holonics, Lukas Biehler, Timur Isik, Gabriel Raab

© Arno Declair


"Das grob drastische Hexenwerk in Macbeth ist ganz und gar Shakespearescher Zauber; er lässt hier seiner Fantasie so freien Lauf wie nie zuvor ... denn der ganze Horror des Stückes ist letztlich ein Horror der Einbildungskraft. ... ", so Harold Bloom, der amerikanischer Literaturwissenschaftler. Seine Ausführungen in "Shakespeare. Die Erfindung des Menschlichen" II Band, die durchweg psychologischer Natur sind, wurden wohl dieser Inszenierung zu Grunde gelegt. Jedenfalls füllen sie das Programmheft. Die Inszenierung jedoch sollte mehr von den gewollt martialischen Bildern leben, denn von feinsinnigem psychologischem Spiel. Die Darsteller durchweg in Leder oder Schottenröcke gehüllt, bemühten sich dieses Bild zu füllen. König Duncan (Peter Mitterrutzner) mutete wie eine schlechte Karikatur von Ramirez aus Highlander an, und es fiel schwer, Macbeth (Gabriel Raab), bleichgesichtig und bartlos, den Helden von Schlachten abzunehmen. Zu verloren wirkte sein weißes Gesicht im Schwarz der Bühne, allein, den Zweifel und die Skrupel gelang ihm zu veranschaulichen. Einzig die drei Hexen (Ursula Burkhart, Elisabeth Müller, Stephanie Schadeweg) brachten sowohl die Inszenierung als auch das Spiel voran mit ihren Sprüchen. So wirkte Macbeth eher wie ein durch Mystik Verführter und Getriebener, denn ein aktiver Gestalter oder gar ein vielschichtiger Charakter.
Auch trug die Übersetzung von Thomas Brasch wenig zu dem im Programmheft vorgegebenen Ansatz bei. Zu simpel ist die Sprache darin und was vermeintlich respektlos sein sollte, war nicht einmal für Lacher gut. Als Malcolm (Benjamin Mährlein) Macduff zuflötete "Lass mich der Schleifstein für dein Schwert sein.", oder Macbeth verloren "Das ist die Nacht, die nie zum Tage wird.", in den Raum stellte, wurde es flach und peinlich.
Eine verwendete "Metapher" sei noch erwähnt. Am Hof des König Duncan spielte man "Reise nach Jerusalem", ein Kinderspiel, welches wohl das kindische Gerangel um den ersten Platz veranschaulichen sollte. Doch kindliches Verhalten durch kindliche Bilder darzustellen kippt den Vorgang ins Banale. Von Kunst oder gar künstlerischer Brechung keine Spur.

Der Inszenierung fehlte Regie und damit erkennbare Umsetzung des vorgegebenen Anliegens. Die Zusammenstellung von Ideen (Philip Jescheck) und die Schnoddrigkeit wirkten noch nicht mal cool, sondern nur anstrengend und langweilig. Etwas weniger produziertes Machogehabe und mehr schauspielerische Gestaltung wären besser gewesen. Oder ging es am Ende nur darum Zeit mit Zeitvertreib zu füllen?



C.M.Meier

 

 


Macbeth

von W. Shakespeare

Peter Mitterrutzner, Benjamin Mährlein, Gabriel Raab, Timur Isik, Nico Holonics, Stefan Murr, Markus Brandl, Lukas Biehler, Xenia Tiling, Eva Christian, Ursula Burkhart, Elisabeth Müller, Stephanie Schadeweg

Regie: Philipp Jescheck

Volkstheater Verbrennungen von Wajdi Mouawad




Die Welt - ein Dorf und Krieg darin

"Der Libanesische Bürgerkrieg wurde mit besonderer Härte und Ausdauer geführt. In den 15 Jahren forderte er 170.000 Tote, 300.000 Verwundete, 20.000 Vermisste und 800.000 Vertriebene. (Zitat Programmheft zu "Verbrennungen" von Wajdi Mouawad)

Ein müder Mann schlurft durch die brandigen Mauern des Libanons und erzählt, was dieser Krieg war: eine schier unzerreißbare Kette von kausalen Gliedern, die so fest ineinander greifen, dass sich Generationen daran blutige Leiber schlagen können. Hatte die Geschichte einen Anfang? Gewiss, doch was der Anfang war, vermag mit Sicherheit keiner mehr zu sagen. Man kann diesen Krieg getrost als einen Wahnsinn bezeichnen, denn die einzig feste Größe daran war, dass der Wahn nicht abriss. Das wirklich Wahnsinnige an so genannten "Bürgerkriegen" ist, dass sie erst beendet werden, wenn sie keinem Zweck mehr dienen, wenn die wirtschaftlichen und ideologischen Ressourcen dieses Krieges erschöpft sind. Krieg ist nichts schicksalhaftes, sondern ein Wirtschaftszweig. Krieg regelt Machtverhältnisse, neue Märkte und kurbelt die einheimische Wirtschaft an. Wie gesagt, ein Wirtschaftszweig unter vielen.

Anders ist das, wenn man unversehens in einen Krieg gerät, an dem man wirtschaftlich nicht partizipiert, den man, gegebenenfalls über Jahrzehnte, am eigenen Leib aushalten muss. Es wäre nur gerecht, wenn jemand, der an einem Krieg verdient, auch dessen Leiden ertragen sollte. Doch so läuft es leider nicht. Da ist es schon ein kleiner Trost, wenn gelegentlich ein ausgewählter "Kriegsverbrecher", in der Regel sind dies nur besonders brutale Handlanger, exemplarisch vor Gericht gestellt wird. Nihad ist so einer. Er hat gemordet und vergewaltigt und gelegentlich auch gesungen, denn Gesang vertreibt die Langeweile. Emotional scheint er unberührbar zu sein. Wer so oft wie er den Tod verschenkt hat, den regt dieser nicht auf. Und doch ereilt ihn so etwas wie ein Gewissen. Es ist die eigene Vaterschaft, die den Krieger wieder an sein Menschsein erinnert.

 


Xenia Tiling, Nico Holonics, Benjamin Mährlein, Timur Isik

© Gabriela Neeb


Wajdi Mouawads Drama "Verbrennungen" kommt wie Poesie der Apokalypse über den Zuschauer und Christine Eder gelang am Münchner Volkstheater eine vollkommene Umsetzung auf die Bühne. Sie inszenierte die sprachgewaltige, von jahrtausende alter Archaik und widerstreitenden Modernismen versetzte Lebensschau einer Verstorbenen mit einfachsten und darum um so wirkungsvolleren Mitteln. Ohne inszenatorisches Beiwerk, ohne Ästhetisierungen, ohne Heroisierungen, Ideologisierungen oder Verlautbarungen des Blutes erzählte sie eine Geschichte, die an die Dimensionen des Mythos von Ödipus erinnert und dennoch Menschenwille ist. Die zwingende Logik der Dramaturgie und der Handlung erschütterte derart, dass der Applaus schwer fiel. Selten sah man in den letzten Spielzeiten an Münchens Bühnen ein so aufrüttelndes Werk, das nicht mit den Gefühlen spielte oder den Zuschauer verführte.

Monika Rovans Bühne war ein Land aus brandigen Mauern. Selbst der Erdboden schien verbrannt. Unvorstellbar, dass hier noch Leben gedeihen könnte. Aber es gedieh und darüber hinaus sogar Liebe. Nawal, berückend mädchenhaft gespielt von Barbara Romaner, trug ein Kind von Wahab in ihrem Bauch. Timur Isiks Wahab war ebenso kindlich in seinem Glauben und unerschütterlich darin, dass diese Liebe allen Widrigkeiten trotzen wird. Der gesellschaftliche Konsens scherte sich nicht um Liebe und Sehnsüchte der Kinder und so entriss man der jungen Mutter das Kind. Nawals Großmutter erteilte der Enkelin im Angesicht des eigenen Todes den Auftrag, das Dorf zu verlassen, um lesen und schreiben zu lernen, damit Nawal nach der Rückkehr ihren Grabstein beschriften könne. Nawal, inzwischen resolut und nüchtern von Sophie Wendt gestaltet, wurde im Land sehr bald als die Frau, die singt und die lesen und schreiben kann, bekannt. Sawda hatte sich ihr angeschlossen. Stephanie Schadeweg verlieh dieser Rolle Hingabe an die verehrungswürdige Freundin, aber auch Wehrhaftigkeit. Als sie in Notwehr zwei Soldaten tötete, entschuldigte Nawal sie. Doch Nawal lehnte es grundsätzlich ab, nach dem Prinzip "Auge um Auge" zu handeln. Sie artikulierte den einzig möglichen Ausweg aus diesem Krieg und allen Kriegen schlechthin. Die Kette der kausalen Akte musste durchbrochen werden. Krieg wird nur dadurch verhindert, dass man sich seinen scheinbar zwingenden Mechanismen entzieht. Doch Nawal hielt sich nicht an ihren eigenen moralischen Grundsatz und tötete ihrerseits. Der aus dieser Bluttat resultierende Fortgang der Geschichte war der schlimmstmögliche, ganz so wie ihn Sophokles für eine kathartische Tragödie forderte. Tragen oder Ertragen mussten dieses Los Jeanne (Xenia Tiling) und Simon (Nico Holonics), die Zwillingskinder Nawals, an die nach dem Tod der längst verstummten Mutter der testamentarische Auftrag erging, den leiblichen Vater zu suchen.

Das Stück ist ein wortgewaltiger Widerspruch gegen jede Form von Kriegstreiberei und Entmenschlichung durch Religion, Politik und Ökonomie. Der Dichter Wajdi Mouawad weiß, was Krieg bedeutet und auch was es bedeutet, Schriftsteller zu sein. Er ist sich seiner Verantwortung durchaus bewusst und vertraut darauf, "(…) dass man Theater, im Gegensatz zu Waffen, nicht auseinandernehmen kann, um es zu reinigen, vielmehr nimmt Theater uns auseinander, um uns zu reinigen." (Zitat Wajdi Mouawad im Programmheft)

Als das Spiel der durchweg sehr gut agierenden Darsteller verstummt war, der geschwärzte Raum ins Dunkel stürzte, und die ungeheuerliche Botschaft den letzten Zuschauer erreicht hatte, war vielfaches Schnäuzen vernehmbar. Der Rührung, die den Zuschauer in dieser Inszenierung ergreift, ist nicht das Resultat einer sentimentalen Geschichte. Auch ist es nicht die allseits so gepflegte Betroffenheit, die die Bevölkerung ereilt, wenn eine Prinzessin gegen einen Betonpfeiler fährt oder türkische Kinder in einem Mietshaus verbrennen, Geschichten, die sich auf schamloseste Weise für allerlei Botschaften ausschlachten lassen. Es ist der Schock der existenziellen Erkenntnis unserer eigenen Bedrohtheit, der uns ereilt. Und er ereilt uns vermittels eines herausragendes Kunstwerks. Diese Inszenierung berührt schmerzlich, doch sie leistet, worauf es in der Kunst ankommt. Sie verändert den Betrachter. Bleibt zu hoffen, dass den Vorstellungen viele Betrachter beschert werden.


Wolf Banitzki


 

 


Verbrennungen

von Wajdi Mouawad

Ilona Grandke, Nico Holonics, Timur Isik , Thomas Kylau, Benjamin Mährlein, Barbara Romaner, Stephanie Schadeweg, Xenia Tiling, Sophie Wendt

Regie: Christine Eder