Volkstheater Leonce und Lena von Georg Büchner



Kaugummi raus!

Behauptung: „Leonce und Lena“ ist ein Lustspiel! Warum auch nicht. Leonce Prinz von Popo ist der bezaubernden Lena, Prinzessin von Pipi, anverlobt und die Hochzeit ist ausgerichtet. Beide brechen in Panik aus, Lena auf (ein wenig klischeehafte) weibliche Art: „ (...)Man geht ja so einsam und tastet nach einer Hand, die einen hielte, bis die Leichenfrau die Hände auseinander nähme und sie jedem über der Brust faltete. Aber warum schlägt man einen Nagel durch zwei Hände, die sich nicht suchten?“ Leonce hingegen leidet (männlich) tiefer, nämlich an der Welt schlechthin: „Es krassiert ein entsetzlicher Müßiggang. (...)Was die Leute nicht alles aus Langeweile treiben! Sie studieren aus Langeweile, sie beten aus Langeweile, sie verlieben, verheiraten und vermehren sich aus Langeweile und sterben endlich aus Langeweile, und - und das ist der Humor davon - alles mit den wichtigsten Gesichtern, ohne zu merken, warum, und meinen Gott weiß was dazu.“

Beide begeben sich gemeinsam mit Bonvivant und Gouvernant(e) auf die Flucht. Aber: „Auf Ehre, Prinz, die Welt ist doch ein ungeheuer weitläufiges Gebäude“, bemerkt Valerio keuchend.  Immerhin ist es nicht weitläufig genug, als dass sich darin die beiden, Leonce und Lena, nicht begegnen können. (Das macht Dichtung so wunderbar!) Leonce macht ihr Avancen, Lena lehnt ab und Leonce beabsichtigt, sich zu ertränken. Was ist schließlich in einer Komödie das Naheliegendste? Sie heiraten. So finden sich zwei Menschen, die, ohne einander zu kennen, voreinander davon liefen. Das ist feinster Komödienstoff.

Als Büchner dieses Stück schrieb, im Jahr 1836, war er zwanzig Jahre jung und ein Alterspessimist. Sein Glaube an eine Humanisierung der deutschen Verhältnisse war dahin. Deutschland, gleichgesetzt mit Pipi und Popo, war für Büchner nur noch eine Bedürfnisanstalt. Unter diesem Aspekt betrachtet ist „Leonce und Lena“ ein Stück des Absurden, dass letztlich in Absurditäten und die Grenzen deutschen Seins und Denkens zurückfällt, komisch zwar, aber auch sarkastisch bis zynisch und bei näherer Betrachtung nicht ganz frei von Denunziation.


Xenia Tiling, Jean-Luc Bubert, Nico Holonics, Robin Sondermann

© Arno Declair


Büchners größte Verbitterung wird deutlich im 3. Akt, 2. Szene, wenn der Schulmeister das Volk auf die bevorstehende Hochzeit einstimmt: „Seid standhaft! Kratzt euch nicht hinter den Ohren und schneuzt euch die Nase nicht, solang das hohe Paar vorbeifährt, und zeigt die gehörige Rührung, oder es werden rührende Mittel gebraucht werden. Erkennt, was man für euch tut: man hat euch grade so gestellt, daß der Wind von der Küche über euch geht und ihr auch einmal in eurem Leben einen Braten riecht.“

Diese Szene erlebte der Zuschauer im Volkstheater nicht. Vermutlich sah Regisseurin Hannah Rudolph in dieser sozialen Schicht nicht unbedingt die Gruppe Menschen, für die es Partei zu ergreifen galt. Immerhin, die Müßiggänger blieben und die Formen des Müßiggangs haben sich ebenso wenig verändert. Anstatt gesellschaftlich notwendige Tätigkeit zu leisten, beschäftigt man sich, um dem Verdruss, hervorgerufen durch Inhaltslosigkeit, zu entgehen. In diesem Sinne ist das „melancholische“ Lustspiel brandaktuell und auch brandgefährlich.

Es ist schwer, sich diesem Text zu stellen und nicht in Begeisterung zu geraten. Das Genialische an Büchners Werk ist seit mehr als 150 Jahren die Universalität und der epocheübergreifende Wahrheitsgehalt. Was konnte die Volkstheaterinszenierung davon transportieren und bei alle dem ein Lustspiel daraus zu machen? Der überwiegende Teil der dramatischen Fassung wurde vor der geschlossenen Bühne gespielt. Kaum mehr als einen Meter Vorderbühne stand den Akteuren zur Verfügung, Ausflüge ins Publikum zuzüglich. Das Anliegen war überdeutlich. Das Bühnenbild von Steffen Schmerse nahm Büchners unmittelbaren Blick auf.  Er begrenzte das durch Kleinstaaterei auf das erbärmlichste Maß zusammengeschrumpfte Reich mit einer einfachen Wand – der vierten Wand.

Heute haben wird ein grenzenloses Europa, könnte man entgegenhalten. Aber das ist nicht richtig, denn die Grenzen in den Köpfen existieren weiter und sie werden sehr schnell sichtbar, wenn Interessenskonflikte entstehen. Erst als die beiden Paare die Flucht ergriffen, klappte die Bühnenwand um und gab ein Rondell frei, das die Welt zu einer unendlichen werden ließ. Als Leonce und Lena, endlich ehelich vereint, erkennen mussten, dass sie genau in dem Leben angelangt waren, vor dem sie auf der Flucht waren, wurde die Wand wieder aufgerichtet und der Status quo war wieder hergestellt.

Die beiden wichtigsten Figuren im Stück waren Leonce, ein radikal-melancholischer Jean Luc Bubert, und Valerio, ein windschlüpfrig-pragmatischer Robin Sondermann. Sie unternahmen immer wieder Ausflüge in die Philosophie und scheiterten auf absurdeste (geistige) Weise. Dabei setzten beide Darsteller alle nur denkbaren Ansätze auch körperlich um, was über weite Strecken zu sehr dynamischen Spiel führte. Das lobenswerte daran aber war, dass kein artikulierter Gedanke unterging. Wenn der Hofstaat in uniformer weißer Kleidung aufmarschierte, kontrastierte er hauptsächlich die Lebendigkeit der Protagonisten. Thomas Kylau gab einen knatternden, zerfahrenen, dementen (Der Text lässt das zu!) König Peter. Seine Figur gewann zu keiner Zeit wirkliche menschliche Züge. Im Gegensatz dazu Xenia Tilling, deren Prinzessin Lena zwischen romantischer Selbstsuche und moralischer Selbstbevormundung eine Menge Farben entfaltete. Ihr zur Seite stand ein verhalten-vorsichtig agierender Nico Holonics als Gouvernant. Er hatte einen Ausflug in ein anderes Stück. Regisseurin Rudolph gab ihm den Text der Großmutter aus Woyzeck, Szene: Straße. „Es war einmal eine armes Kind und hatt kein Vater und keine Mutter, war alles tot, ...“ Dieser Text, Nico Holonics ließ ihn durch ganz unaufdringliches Spiel zu bedrückender Größe auferstehen, erwies sich als Büchners Credo für das ganze Stück. Er war gleichsam Ausdruck der düsteren existenziellen Grundstimmung, die Hanna Rudolph auf die Bühne brachte. Gegen diesen Text ist Camus „Der Fremde“ Bettlektüre. Es gibt letztlich keinen wirklichen Unterschied zwischen Totsein im Überfluss und Totsein im Elend.

Ein Darsteller darf nicht vergessen werden. Stefan Ruppe spielte den Hofmeister im Reich Popo. Die Figur des Mannes, der im Grunde permanent versucht, den zum Einsturz neigenden Geist mittels Etikette aufrecht zu erhalten, ist eigentlich das Rückgrad der maroden Gesellschaft. Ruppe spielte bissig und verzweifelt, riss sich am Ende das Toupet vom Kopf und resignierte sehr überzeugend.

Man nennt das Genre der Komödien und Lustspiele auch das „leichte“. „Leonce und Lena“ gehört unbestritten in dieses Genre, ist aber alles andere als leicht. Mutig formuliert könnte man sagen, die Inszenierung ist bitterster Existenzialismus als melancholisches Lustspiel. Sie verlangte dem Zuschauer einiges an Konzentrationsvermögen ab, wenn er die Intelligenz der Sprache genießen möchte. Unterm Strich ist es aber ein lohnenswerter Theaterabend, in den man jedoch nicht unvorbereitet gehen sollte. Die Lektüre vorab garantiert eine deutliche Steigerung des Genusses.

Nun bleibt noch zu erklären, wie es zum Titel der Kritik kommt. Einige Schauspieler mussten von Beginn an Kaugummi kauen, ein Regieeinfall, der ziemlich pubertär war und keine andere Wirkung hatte als die Verärgerung des Publikums. Prompt erscholl die Stimme einer Zuschauerin: Kaugummi raus! Man gehorchte. Es war nicht die schlechteste Szene.

Wolf Banitzki

 

 


Leonce und Lena

von Georg Büchner

Jean-Luc Bubert, Nico Holonics, Thomas Kylau, Kristina Pauls, Stefan Ruppe, Robin Sondermann, Xenia Tiling

Regie: Hanna Rudolph

Volksheater Der Besuch der alten Dame von Friedrich Dürrenmatt




Eine Schicksalsgöttin spinnt die Fäden

Eine Frau kehrt nach 45 Jahren heim in ihren Geburtsort Güllen. Güllen repräsentiert Europa, so meinen es zumindest die Bewohner, denn Goethe hatte hier übernachtet und Brahms ein Quartett komponiert. Man ist diesen Werten verpflichtet, obgleich Güllen wirtschaftlich völlig ruiniert ist und seine Bürger von der Sozialhilfe alimentiert werden.

Doch jetzt gibt es Hoffnung, denn Claire Zachanassian, sie verließ Güllen als Klara Wäscher nicht freiwillig, kehrt zurück und sie ist die reichste Frau der Welt. Man spekuliert auf Millionenspritzen, einen Finanzschirm für das untergehende Gemeinwesen. (Wie wenig sich die Zeiten doch ändern.) Alfred Ill, Betreiber des Krämerladens im Ort, hatte eine besondere Beziehung zu Klara und wird an die Front geschickt, um die ersten Breschen in den Geldsäckel der Milliardärin zu schlagen.

In all der Euphorie vergisst man, dass gerade jener Ill es war, der Klara schwängerte, verriet und sie mit gedungenen Zeugen zur Lügnerin stempelte. Klara musste Güllen verlassen, ging nach Hamburg in ein Bordell, entband das gemeinsame Kind, das ein Jahr nicht überlebte, und lernte schließlich Zachanassian kennen, den reichen Armenier, der sich in ihr rotes Haar verliebt hatte. Die Güllener bitten um Millionen, um die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Claire bietet eine Milliarde, 500 Millionen werden auf die Familien verteilt und 500 Millionen gehen in die Sanierung der Wirtschaft. Der Jubel kennt keine Grenzen, endet aber abrupt, als Claire eine Bedingung stellt: Sie will das Unrecht beseitigt sehen, dass ihr widerfuhr. Wie? Sie fordert den Tod von Alfred Ill.

Betroffenheit und Bestürzung macht sich breit. Nie und nimmer wird man Leben gegen Geld eintauschen! Einer hatte die Katastrophe immerhin kommen gefühlt: Der Lehrer. „Seit mehr denn zwei Jahrzehnten korrigiere ich die Latein- und Griechischübersetzungen der Güllener Schüler, doch was Gruseln heißt,(...), weiß ich erst seit einer Stunde. Schauerlich, wie sie aus dem Zug stieg, die alte Dame mit ihren schwarzen Gewändern. Kommt mir vor wie eine Parze, wie eine griechische Schicksalsgöttin. Sollte Klotho heißen, nicht Claire, der traut man es noch zu, dass sie Lebensfäden spinnt.“ (Originaltext Friedrich Dürrenmatt)

Genau das macht Claire Zachanassian, sie erkauft sich ihr Recht, das nur weiteres Unrecht ist. Aber auch das kann sie erklären: „Die Menschlichkeit, (...), ist für die Börse der Millionäre geschaffen, mit meiner Finanzkraft leistet man sich eine Weltordnung. Die Welt machte mich zu einer Hure, und nun mache ich sie zu einem Bordell. (...) Anständig ist nur, wer zahlt, und ich zahle. Güllen für einen Mord, Konjunktur für eine Leiche.“ (Originaltext Friedrich Dürrenmatt)



Justin Mühlenhardt, Robin Sondermann, Jörg Kleeemann, Alexander Duda, Katharina Haindl

© Arno Declair


Mit diesen Sätzen umriss Dürrenmatt den Charakter einer Weltordnung, die als gut und richtig und seligmachend empfunden wird in Zeiten der Konjunktur. Reitet aber die Krise durch die Wirtschaft, fallen alle Masken und hervor tritt das Gesicht der Claire Zachanassian, die sich eine Weltordnung leistet.

Gerade diese, wie man meinen sollte, wichtige Dimension des Dürrenmattschen Dramas blieb in der Inszenierung von Frank Abt am Münchner Volkstheater weitestgehend auf der Strecke. Ungeachtet dessen war es eine bemerkenswerte Arbeit des Regisseurs, die beim Publikum wegen ihrer besonderen Ästhetik griff. Anne Ehrlich hatte dem Regisseur eine Bühne bereitet, die zuerst eines deutlich machte: Güllen war am Ende! Zwei Wände im Bühnenvordergrund, schmuddelig mit verblassenden großen, sehr unnatürlich wirkenden Blumen, schufen Innenräume, die wie Absteigen des Lebens, nicht wie Wohnräume wirkten. Dahinter waren Wäscheleinen gespannt. Wäsche, wohin das Auge blickte. Die Bilder des italienischen Neorealismus drängten sich auf. Güllen versuchte nicht einmal mehr, seine eigene Erbärmlichkeit zu kaschieren.

Regisseur Abt brach das in sich sehr geschlossene Drama auf, kürzte es deutlich ein, und ließ fünf Darsteller einen permanenten Rollentausch spielen. Es ging nicht mehr um Charaktere im Besonderen, sondern um Haltungen und dramaturgische Verknüpfungen, wie sie das Leben schreibt. Die Verständlichkeit des Stückes litt darunter nicht. Allerdings schrumpfte der emotionale, poetische und dingliche Kosmos auf Westentaschenformat. Was bei Dürrenmatt Weltentwurf war, geriet bei Frank Abt zum Kammerspiel. Die Wirkung war nicht geringer, nur anders. Was an Poesie verloren ging, machte Verfremdung wett. Die Getragenheit, die der originale Text bisweilen einfordert, wurde ersetzt durch komödiantische Spiellust, die dem Ruf Dürrenmatts nach Komik gerecht wurde.

Katharina Haindl, Jörg Kleemann, Justin Mühlenhardt, Barbara Romaner und Robin Sondermann warfen das Drama turbulent und spielerisch auf die Bühne und das hatte recht wenig mit den Vorstellungen Dürrenmatts zu tun. Es wurde stringent der Katastrophe entgegenerzählt und mit wenig Text gelang es den Darstellern immer wieder, die Doppelzüngigkeit, das vordergründige Pochen auf (europäische) Werte und das hintergründige Zerbröckeln der Lippenbekenntnisse, fühlbar werden zu lassen. Als es endlich um das Substanzielle des Stückes ging, nämlich um das existenziell Menschliche, trat in Person Alexander Dudas die Figur Alfred Ill auf. Die personelle Anonymität, hervorgerufen durch den permanenten Rollenwechsel, fand ihr Ende. Alexander Duda gab einen sehr menschlichen Ill, spießig und selbstbewusst, später ängstlich und schließlich vor der „Allmacht des Zachanassianschen Schicksals“ resignierend. Nicht ganz so überzeugend war die späte Einführung Ilona Grandkes als alte Dame. Sie wirkte sphärisch abgehoben und nicht wie ein pragmatisch handelnder (sich Gefühle wie Trüffel leistender) Racheengel.

Klassiker der Moderne gerade jungen Theatergängern nahe zu bringen, heißt immer auch Kompromisse einzugehen. Im Fall „Der Besuch der alten Dame“ in der Inszenierung von Frank Abt am Münchner Volkstheater bedeuteten diese Kompromisse eine eigenständige und gelungene Bühnenästhetik. Die Wirkung auf oben genannte Besuchergruppe war unübersehbar positiv. Und auch Theaterbesuchern mit eher konservativen Ansprüchen blieb der Reiz dieser Inszenierung nicht verborgen.

Wolf Banitzki



 

 


Der Besuch der alten Dame

von Friedrich Dürrenmatt

Alexander Duda, Ilona Grandke, Katharina Haindl, Jörg Kleemann, Justin Mühlenhardt, Barbara Romaner, Robin Sondermann

Regie: Frank Abt

Volkstheater Lulu von Frank Wedekind




Sex und Crime

Frank Wedekinds "Lulu" war wiederholt mit Aufführungsverboten belegt ob der sexuellen Freizügigkeit im Werk. Nun hat man im Volkstheater eine Inszenierung erarbeitet, die gerade diesen Aspekt heraushebt. Entstanden ist ein Spiel um sexuelle Freizügigkeit in Zeiten allgemeiner sexueller Freizügigkeit.
Um 1900 gehörte Wedekind zu den wenigen Schriftstellern die sich auf sozialpolitischem Terrain bewegten. Couragiert stellt er die Missstände seiner Zeit an den Pranger, kennt keine Tabus. Bezeichnend für sein Werk ist die Vielschichtigkeit der Charaktere die nicht zuletzt durch ihre soziale Determination sichtbar werden. Doch soziale und politische Verantwortlichkeit sind, wie sich zeigt, heute völlig aus der Mode gekommen.

Christian Stückl, der der Inszenierung die fünfaktige Urfassung der Lulu-Dramen (Erdgeist und Die Büchse der Pandora) zugrunde legte, hat deutlich erkennbar in das Werk eingegriffen. So ist letztendlich seine eigene Fassung entstanden, eine simple Saga von einer herumdriftenden Frau und deren Niedergang. Was bleibt nach der Reduktion auf "Sex und Crime" (wie er in einem Interview sagte): Lulu, unschuldig kindlich triebhaft, verheiratet mit einem jahrzehnte älteren Mann dessen sexuelle Vorlieben sie unreflektiert bedient, wird von dem Maler Schwarz porträtiert. Schwarz, der Lulu, respektive dem Bild, das er sich von ihr macht, verfällt, verführt sie. Schon ist die erste Leiche vorprogrammiert, denn den Ehemann trifft sofort der Schlag, als er der Situation gewahr wird. Da kann Lulu (Brigitte Hobmeier) noch so sehr mit dem Geschlechte wackeln; tot ist tot, wenn das Blut aus der Nase rinnt. So heiratet Lulu den Maler Schwarz (Markus Brandl), der die Dinge ernst und sich das Leben nimmt, als er von Lulus Verhältnis zu Schöning (Alexander Duda) erfährt. Auch Schöning, der sodann geehelicht wird, ist bald auf der Suche nach einem Ausweg aus seinem Abhängigkeitsdilemma. Als die Nadel wirkungslos wird, greift er zum Revolver, doch der Schuss trifft ihn selbst. Effektheischend verlässt seine Seele den Leib. Usw. Erst als Lulu "Jack mit dem Messer" trifft ist auch ihr Ende absehbar.


Nicholas Reinke, Monika Manz, Brigitte Hobmeier, Thomas Kylau, Fabian Preger, Karsten Dahlem

© Volker Derlath


Die plakativ entworfenen Figuren sind von den Schauspielern leicht zu füllen, die Darstellungskonzepte sind so vielfältig nicht. Und, es läuft wieder und wieder auf dasselbe Bild hinaus - die labbrige Baumwollunterhose als Inbegriff des Exzesses. Fast gänzlich auf der Strecke geblieben ist die Erotik, das feine differenzierte Spiel der Geschlechter um den Sexus, einer der Hauptbestandteile des Urwerkes. Allein Brigitte Hobmeier als Lulu versteht sich gelegentlich darauf, so, wenn sie Schöning becirct oder mit Alwa picknickt.


Die von Marlene Poley dekorativ gestalteten Orte der Handlung haben ihren jeweiligen Mittelpunkt in einer wandlungsfähigen Holzpritsche, die sowohl der Wedekind'schen Chaiselongue entspricht als auch "dem Holz, aus dem einer geschnitzt ist". Die Frage, ob Lulu nun wenig Geschick bei der Wahl ihrer Männer hat oder mehr dem eigenen Triebe folgend sich in deren Wünschen spiegelt, kann letztlich auch das Bühnenbild nicht beantworten.


In wenigen, dem Strich nicht zum Opfer gefallenen Originaltextpassagen kann man die Dimension von Wedekinds Charakteren erahnen, wird die Kraft des Stückes für kurze Augenblicke spürbar. Wie sehr die Personen und damit der Inhalt reduziert wurde, lässt sich am Besten an der Rolle der Gräfin Geschwitz, einer Frauenfrau aufzeigen, die zu Ende von "Die Büchse der Pandora" den Entschluss fasst: "Dies ist der letzte Abend den ich mit diesem Volke verbringe. - Ich kehre nach Deutschland zurück (...) - Ich lasse mich immatrikulieren. Ich muss für die Frauenrechte kämpfen, Jurisprudenz studieren." Stattdessen fasst sie sich mit dem Satz: "Mir fehlt etwas.", an den Schritt, bevor sie sich aus dem Spiel verabschiedet. Der große Gedanke der Frauenrechtsbewegung muss einem simplen Stammtischspruch weichen. Resultiert nicht die sexuelle Befreiung der Frau auch aus dieser Bewegung? Ist denn eine solche Aussage nicht wiederum Diskriminierung der weiblichen Sexualität? Zählt heute nur noch, was einen Lacher oder mindest ein Grinsen bringt? Was bleibt ist "Volkstheater", gemacht für die Sehgewohnheiten des modernen Fernsehpublikums. Doch als Nachgeschmack entsteht nicht nur Langeweile. Und es bleibt noch, mit Brecht zu hoffen: "Das Volk ist nicht so tümlich wie es scheint".

C.M.Meier

 

 


Lulu

von Frank Wedekind

Rudolf Waldemar Brem, Brigitte Hobmeier, Thomas Kylau, Alexander Duda, Nicholas Reinke, Markus Brandl, Ursula Burkhart, Tobias van Dieken, Karsten Dahlem, Monika Manz, Calvin E. Burke, Christina Jung, Fabian Preger, Benjamin Mährlein

Regie: Christian Stückl

Volkstheater Kasimir und Karoline von Ödön v. Horváth




Oktober ohne Fest

"Dieser Ödön Horváth, dessen Name so eigenartig nach Mord-Chronik, Steckbrief, k. k. Armee-Überbleibsel klingt, ist ein Ausnahmefall unter den Exzedenten seines Geschlechts. Ein amorphes Stück Natur; vulgär wie ein Noch-nicht-Literat, souverän wie ein Nicht-mehr-Literat; aus Elementarem und Dilletantischem gemengt. So könnte die Rohschrift eines großen satirischen Erzählers aussehen; aber auch die Reinschrift eines genialen Abenteurers, der sich für einen Schriftsteller ausgibt." So Anton Kuh, der Dichter, der sein Werk lebte und nicht schrieb, über seinen Zeitgenossen. Treffender lässt es sich kaum formulieren und in dieser Formulierung steckt gleichsam eine große Herausforderung, da die Werke Ödön von Horváths längst noch nicht ausgelotet sind. Der Grund dafür ist wohl in der bedrückenden Aktualität zu suchen, die diesen Stücken hinterherzulaufen scheint.

Mit "Kasimir und Karoline" setzt das Volkstheater nach "Nieder-Bayern" und "Kleiner Mann was nun" sein Programm, auf gesellschaftliche Vorgänge direkt zu reagieren, in sehr lobenswerte Weise fort.

Kasimir (Karsten Dahlem), gerade arbeitslos geworden, und Karoline (Stephanie Schadeweg), seine Braut, vergnügen sich auf dem Münchener Oktoberfest. Dabei entfernen Sie sich voneinander, denn der Druck, der auf ihnen lastet und den sie vor den Toren der Wiesn zurückgelassen glaubten, schwebt wie ein Damoklesschwert über beiden. Karoline möchte leben und sie meint damit ein anderes Leben als das reale. Am Ende erzählt Sie dem Zuschauer das ganze Stück in zwei Sätzen. "Ich habe mir halt eingebildet, dass ich mir einen rosigen Blick in die Zukunft erringen könnte - und einige Momente habe ich mit allerhand Gedanken gespielt. Aber ich müsste so tief unter mich hinunter, damit ich höher hinauf kann." Diese Aussage umreißt mehr oder weniger den Verlust sittlicher Grundsätze in einer Welt des Geldes. Sehr deutlich illustriert der Zuschneider Schürzinger (Nicholas Reinke) diesen Vorgang, in dem er Karoline für einen vermeintlichen sozialen Aufstieg an den Unternehmer Rauch (Wilfried Labmeier) und dessen Lust abtritt. Komplettiert wird das soziale Kaleidoskop durch Merkl Franz (Leopold Hornung), einen bekennenden Kriminellen, desillusioniert und auf seine animalische Triebhaftigkeit reduziert.

 

Karsten Dahlem, Stephanie Schadeweg

© Katrin Ribbe


Regisseur Florian Fiedler setzt in hohem Maße auf das Wort. Die kahle Bühne von Bernd Schneider, das billige Interieur eines Bierzeltes suggerierend, tritt dem nicht entgegen. Nüchternheit allerorten scheint Programm zu sein. Allein, hier bleibt die Inszenierung unter den Möglichkeiten, denn ein wesentliches Element der Horváthschen Stücke ist der Kitsch, der als künstlerisches Mittel zelebriert werden will, um die Ernüchterung totalitär zu betreiben. Der Drang nach Authentizität verleitete Regisseur Fiedler zur Proklamation derselben. Dabei sollte doch die Authentizität im Auge des Betrachters entstehen. Als schließlich noch eine Reihe von betagten Laien die Bühne erobern und erklären, warum Sie "Abnormitäten" darstellen, endet der Versuch der künstlerischen Brechung abrupt. Der Vorsatz, die heutige Gesellschaft zu erklären, gerinnt zum vordergründigen Plakat.

Dabei hat Fiedler in seinen Darstellern motivierte und sehr glaubhaft agierende Protagonisten zur Verfügung. Karsten Dahlem gibt einen zerquälten, an den inneren Grenzen angelangten Kasimir, der in jeder Situation den rechten Ton trifft. Stephanie Schadeweg zaubert eine sehnsuchtsvolle und gleichsam naive Karoline, deren Reiz man sich nicht entziehen kann. Leopold Hornungs Merkl Franz ist da nicht ganz so ausgewogen. Seine vordergründige Brutalität zwingt den Zuschauer nicht selten einen ungewollten Abstand auf, um nicht von einem ausufernden Realismus überrollt zu werden. Wilfried Labmeier und Peter Rühring als Repräsentanten der oberen Gesellschaftsschicht sind zynisch und moralisch durch und durch verkommen. Damit schlagen sie sich deutlich auf Horváths Seite.

Noch einmal soll Anton Kuh zu Wort kommen: "Kein Wunder also, dass den Zuschauer aus den Theaterstücken des glänzenden Desillusionisten das ziemlich Trostlose einer entzauberten, in ihrem schnöden Mechanismus bloßgelegten Welt kalt anweht." Um diesen Vorgang auf der Bühne glaubhaft zu machen, hätte es unbedingt der Illusion bedurft, die nicht stattfand. Nicht umsonst wählte der Dichter das Oktoberfest zu seinem Schauplatz. So wehte von Anfang an nur der kalte Wind und der ging nicht durch den Bauch, sondern machte kalte Ohren.

 

Wolf Banitzki




Kasimir und Karoline

von Ödön v. Horváth

Karsten Dahlem, Stephanie Schadeweg, Wilfried Labmeier, Peter Rühring, Nicholas Reinke, Leopold Hornung, Elisabeth Müller, Antje Schmidt, Ester Kuhn


Regie: Florian Fiedler

Volkstheater Fegefeuer in Ingolstadt von Marieluise Fleißer




Sturz in die Tage voller Bösartigkeiten

Zweiundzwanzigjährig schrieb die Ingolstädter Dichterin Marieluise Fleißer (1901-1974) ihr Drama von einer Jugend in der Sackgasse. Es war auch ihre eigene, aus der sie sich schreibend befreien wollte. Mit geringem Erfolg übrigens, wie ihre Biografie zeigt. Das Stück handelt vom Anderssein und von den Problemen, die das Außenseitertum mit sich bringt. Die Hauptheldin Olga (Stephanie Schadewald) ist schwanger und der Kindsvater Peps (Karsten Dahlem) jagt bereits in anderen Gefilden. Ausgerechnet Roelle (Nicholas Reinke), ein Sonderling, der Olga liebt, hat ihren "Fehltritt" öffentlich gemacht. Die Sache macht die Runde in Ingolstadt und ein Fegefeuer entbrennt. Die Jugendlichen, alle irgendwie auf der Suche nach dem Ausgang, bereiten sich die Hölle, wobei sie die Prämissen der gutkatholischen Gesellschaft bedienen, der sie zu entfliehen suchen. Roelle geht dabei am konsequentesten seinen Weg, in dem er die bigotte Religiosität überhöht in der Hoffnung, ein Heiliger zu werden. Eine Steinigung holt ihn auf den Boden der Realität zurück. Am Ende ist alles offen. Liebe bleibt unerwidert und Auswege sind lediglich Katastrophen.

Regisseurin Jorinde Dröse gelang eine tieflotendende Inszenierung, deren wichtigster Vorzug wohl darin besteht, respektvoll mit dem Text umgegangen zu sein.

In einer Welt von seelischen Kretins ist die oder der Normale ... nein, nicht König, sondern der eigentliche Kretin. Alle Figuren, deren Charaktere Verstümmelungen aufweisen, stattete die Regisseurin mit kleinen aber unübersehbaren Haltungsabnormitäten aus. Da ging einer mit eingeknickten Knien; ein anderer machte den Kratzfuß, ehe er sprach und jener hinkte wie ein getroffenes Tier. Auf den ersten Blick schienen die Defekte nebensächlich, doch mit dem Fortschreiten der Geschichte konnte der Zuschauer die Deckungsgleichheit zwischen Psyche und körperlicher Haltung deutlich erkennen. Die Vielschichtigkeit der Geschichte wollte bewältigt werden. Jorinde Dröse gelang dies durch intelligente Verknüpfung der einzelnen Darstellungen. Das war umso schwieriger, da die Figuren in der Geschichte ihre Haltungen verändern, quasi die Seiten wechseln. Unter Verzicht auf grobe Schnörkel und überhitzte Einfälle verwob die Regisseurin das Spiel zu einem deutlichen und in jeder Hinsicht spannenden Sittenbild, dessen Ausweglosigkeit in der Vorlage begründet liegt. Das Bühnenbild von Julia Scholz war zudem maßgeschneidert. Ein leerer sandfarbener Kastenraum, nur mit einem Sessel, einem Tisch und dem obligatorischen Kreuz versehen, widerspiegelte eingangs häusliche Enge. Als die Rückwand fiel, wurde der Blick auf die äußere Welt frei, die ebenso wenig entgrenzt war. Auch sie war nur ein Kasten, schützend aber weitestgehend verschließbar.


Nicholas Reinke, Elisabeth Müller, Stephanie Schadeweg

© Arno Declair


Das vorzügliche Ensemblespiel ließ darauf schließen, dass die Chemie zwischen Regisseurin und Darstellern funktionierte. (Aber wer weiß das als Außenstehender schon?) Dennoch sollen Stephanie Schadeweg als Olga und Nicolas Reinke als Roelle hervorgehoben werden. Stephanie Schadewegs Olga war trotzig selbstbewusst im Aufbegehren, voller Verzweifelung gegen Gott und begehrlich in ihrem Drang nach aufrichtiger Liebe. Nicholas Reinkes Reolle, der krasseste Außenseiter der Geschichte und somit im ständigen Focus der Gesellschaft, wird seiner Aufgabe als von der Gemeinschaft dauerhaft Ausgestoßener mehr als gerecht. Als er am Ende die eigene Mutter tötet und emotionslos entsorgt, ist der Zuschauer überzeugt, dass kaum ein anderes Ende möglich war. Dieser Roelle war einer von allen Hunden (und auch sich selbst) gehetzten. Bei den Darstellern der Nebenrollen fiel besonders Leopold Hornung auf. Als Cervasius war er am stärksten gezeichnet. Seine bis zur Unkenntlichkeit verzerrte Fratze kündete von Hass und Aggression. Und doch nahm auch diese Figur am Ende menschliche Züge an. Als sich die Einsicht einstellte, dass der Wolf unter Wölfen auch nur allein ist, zerbricht die grausige Maske.
Ein starkes Theaterstück fand seine Meisterin, was dem Volkstheater gut zu Gesicht steht. Nebenher sei noch auf das informative Programmheft verwiesen, in dem Marie-Luise Fleißer selbst zu Wort kommt und sehr menschliche Einblicke in die Entstehungsgeschichte des Dramas preisgibt. Immerhin verscherzte sie sich mit diesem Stück (vor allem aber mit dem Drama "Pioniere in Ingolstadt") die Sympathie der Ingolstädter Mitbürger. Viele Jahre musste die große Dichterin sprachlos in der inneren Emigration verbringen.
Doch das alles hat sich ja grundlegend geändert und inzwischen vergibt die Stadt einen Literaturpreis im Namen ihrer großen Tochter. Gottlob! Oder trügt da vielleicht der Schein? Unlängst entbrannte nämlich im schönen Städtchen Regensburg eine Diskussion um einen gekreuzigten Frosch von Martin Kippenberger. (Siehe Programmblatt Volkstheater Januar 2005.) Das kommt in einer demokratischen Gesellschaft vor, möchte man meinen. Mich macht aber dennoch der Ton stutzig, in dem der Oberbürgermeister von Regensburg Hans Schaidinger als 1. Punkt einer Stellungnahme zum Vorgang erklärt:
"Blasphemie (Gotteslästerung) und Verhöhnung von Glaubensinhalten und Glaubenssymbolen hat im Handeln der Stadt Regensburg keinen Platz und wird weder toleriert noch gut geheißen."
Also, Künstler von Regensburg, haltet die Augen offen!


Wolf Banitzki

 

 


Fegefeuer in Ingolstadt

von Marieluise Fleißer

Alexander Duda, Stephanie Schadeweg, Elisabeth Müller, Benjamin Mährlein, Nicholas Reinke, Sophie Wendt, Helmut Zhuber, Leopold Hornung, Karsten Dahlem, Heike Koslowski, Tobias van Dieken, Marcus Brandl.

Regie: Jorinde Dröse
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