Volkstheater Frühlings Erwachen von Frank Wedekind




Wissen statt Leben

Es ist eine Inszenierung in Schwarz-Weiß, mit der Frank Wedekinds Erstling "Frühlings Erwachen" auf die Bühne des Münchner Volkstheaters kam. Sowohl Schwarz als auch Weiß enthält alle Farben des Spektrums. Die Mischung von Schwarz und Weiß jedoch ergibt mitnichten Frühlingsbunt sondern Grau - und Grau ist alle Klischeehaftigkeit gegenüber dem Lebendigen. Frank Wedekind nannte sein Werk "... ein sonniges Abbild des Lebens, in dem ich jeder einzelnen Szene an unbekümmertem Humor alles abzugewinnen suchte, was irgendwie daraus zu schöpfen war."

"Skandalstück", "... reine Pornografie ...", "Lehrstück" und ähnliches mehr wurde die Kindertragödie in der Vergangenheit genannt. Für Frank Wedekind, Schriftsteller an der Schwelle zwischen Naturalismus und Expressionismus, war die Sexualität "...eine Absonderlichkeit, der ich alles übrige verdanke" und er widmete ihr nicht nur seine erste Arbeit. Die bürgerliche Moral seiner Zeit, vor allem deren heuchlerischen Umgang mit der Sexualität aufzudecken und diese von der Verlogenheit zu befreien, war sein Anliegen. Die Prüderie wohnte damals in fast allen Häusern.

Heute, über hundert Jahre später, ist Prüderie "in" in den jüngeren Generationen. Dort ist man zwar sexuell aufgeklärt, weiß Bescheid, wenn auch die entscheidenden Fragen nach wie vor offen sind, wie eine Umfrage der bekanntesten deutschsprachigen Jugendzeitschrift ergab. Und Grau ist alle Theorie gegenüber der Erfahrung, der man sich verweigert. Doch nicht aus diesem Grunde wählten Regisseurin Christine Eder und die Intendanz das Stück aus, sondern einfach, weil es Frühling ist und das Ensemble des Hauses aus jungen Schauspielern besteht. Was blüht ist eine bürgerliche Scheinmoral und sie tut dies, wie ehedem, in Schwarz-Weiß.

 


Benjamin Mährlein, Timur Isik, Bettina Schwarz, Elisabeth Müller, Gabriel Raab, Nicholas Reinke

© Arno Declair


Im Programmheft zitiert man jedoch den schillernden Kurt Cobain: "... nicht mehr bloß auf meinem Dach zu sitzen und darüber nachzudenken, runterzuspringen, sondern mich wirklich umzubringen, aber ich wollte nicht aus dieser Welt gehen, ohne zu wissen, wie es ist zu bumsen."
Das Bühnenbild nahm Bezug auf seine Aussage und Monika Rovan gestaltete zwei Dachflächen die ein schwarzer tiefer Abgrund trennte, den die Darsteller wieder und wieder überwinden mussten. Dachluken in Form von kleinen lichten Kuppeln unterbrachen die Spielfläche. Schwarze Netze an den Wänden zeugten von Gefangenschaft im Leben und dem doch nicht sicher aufgefangen sein.

Das Stück handelt von einer Gruppe vierzehnjähriger Gymnasiasten. Melchior Gabor ist Klassenbester, sein Mitschüler und Freund Moritz Stiefel schafft es ohne seine Hilfe nicht. Melchior nutzt dies, um ihn in seine Weltsicht einzuweihen und ihn unverblümt sexuell aufzuklären. Moritz leidet unter seinem erwachenden Geschlechtstrieb, dem Unverständnis seitens der Eltern und der Angst zu versagen. Nachdem er den Aufstieg nicht bewältigt, erschießt er sich. Der Schuldirektor benennt als Todesursache die Aufklärungsschrift Melchiors. Dieser schwängert die Klassenkameradin Wendla, die an den Folgen der Abtreibung stirbt. Melchior begegnet dem toten Moritz und findet über ihn seinen Weg zum Leben.

Für Frank Wedekind waren seine Bühnenfiguren fleischgewordene Leidenschaft, die Frauen in Ihrer Sinnlichkeit, die Männer im konsequenten Verfolgen ihrer Gedanken. Die Verleugnung dieser Sinnlichkeit war ihm zeitlebens der Dorn in der Moral, den er stets der Gesellschaft vor Augen hielt.

Regisseurin Christine Eder inszenierte brav und artig und die Darsteller trugen klar den Text Wedekinds vor. Ihre Leistungen waren harmonisch und die Arbeit des Ensembles wirkte ausgeglichen. Dies alles spiegelte unmissverständlich die zeitgenössische bürgerliche Prämisse - Leben ohne den Gefahren, welche Erfahrungen bergen, ausgeliefert zu sein - exzellent wieder. Die Pubertät, der Tod, Jungsein und Erwachsen werden sind Klischees, Alternativen, die man beliebig anlegen oder vermeiden kann, als wären es Kleider. Frank Wedekind ist tot.


C.M.Meier

 

 

 


Frühlings Erwachen

von Frank Wedekind

Dirk Bender, Timur Isik, Benjamin Mährlein, Elisabeth Müller, Gabriel Raab, Nicholas Reinke, Stephanie Schadeweg, Bettina Schwarz, Sophie Wendt

Regie: Christine Eder

Volkstheater Ein Sommernachtstraum von W. Shakespeare




Wenn Leidenschaft leiden schafft

Selten war ein Programmheft so wichtig und erhellend für ein Theaterspektakel wie das zur "Sommernachtstaum"-Inszenierung von Christian Stückl am Volkstheater. Die beiden kurzen Beiträge von Jan Kott und Stephen Greenblatt vermitteln mehr notwendiges Wissen über dieses Drama als die lange Inszenierungsgeschichte es vermochte. Das liegt nicht zuletzt daran, dass diese Inszenierungsgeschichte eine Historie der Irrungen und geschmäcklerischen Verwirrungen war. Wenngleich dieses Bühnenstück märchenhaft anmutet, so ist es doch ganz und gar kein Märchen. Shakespeares Dramatik zeichnet sich durch Authentizität und Realismus menschlichen Denkens, Fühlen und Handelns aus. Dabei ist die Tatsache, dass weder Orte, Zeiten, noch die dargestellten Handlungen historisch richtig eingeordnet sind, kein Widerspruch zum Wahrheitsgehalt. Und da bei Shakespeare nichts zufällig oder ungewollt oder gar einer künstlerischen Laune entsprungen ist, muss gerade dieses märchenhafteste seine Werke auf die Metaphorik und den Hintersinn befragt werden.

Es geht um Liebe und Sexualität im komplexesten Sinn. Gerade deren Schattenseiten werden in diesem Werk beleuchtet und wer genau hinschaut, der bemerkt, wie aktuell das Stück ist. Ein Blick in die einschlägigen Internetseiten beweist, das von platonischer Verzückung bis hin zur Sodomie alles praktiziert wird und genau diese Elemente finden sich im Stück allesamt wieder. Unerhörte Liebe trifft auf erhörte. Triebhaftigkeit explodiert von einem zum anderen Augenblick in alle Richtungen und tabuisierte sexuelle Begehrlichkeiten (homoerotische und sodomitische) blühen in den verborgenen Sphären einer faunischen Welt. Nebenher konfrontiert der Dichter sein Publikum mit den gesellschaftlichen Schranken, denen Liebende unterworfen sind und er rechnet mit der Theaterkultur seiner Zeit ab. Dies alles herauszufinden ist nicht schwer, wenn man sich dem Text nur unvoreingenommen und mit Fantasie (!) nähert. Das hat die Truppe um Christian Stückl getan und heraus kam eine erfrischende und unverstellte Sicht auf das Drama.

 

Alexander Duda, Benjamin Mährlein

© Arno Declair


Drei Paare sind auf der Suche nach ihrem Partnerglück. Die Geschichte wirkt wie ein gordischer Knoten, denn die Liebenden finden ihre Liebe auf fatalste Weise unerwidert. Erst das Eingreifen Oberons mittels einer Zauberblume bringt das Happyend. Christian Stückl mag es deutlich, ohne sich auf unzulässige Vereinfachungen einzulassen. Und er mag es direkt. Heraus kam eine spritzige, turbulente, saft-und kraftvolle Inszenierung, die streckenweise einem Feuerwerk glich. Die komischen Angebote Shakespeares wurden ausgebeutet und das Publikum erlebte streckenweise eine wahre Hatz nach dem Glück. Alexander Duda umgarmte göttlich donnernd und schmeichelnd als Theseus seine Hippolyta und als Oberon seine Titania. Beide Damen wurden von Ursula Burkhard gegeben. Die jungen Paare, gestaltet von Elisabeth Müller (Hermia), Stephanie Schadeweg (Helena), Markus Brandl (Demetrius) und Gabriel Raab (Lysander), gerieten streckenweise in echte Raserei. Sie agierten mit großem körperlichen Einsatz, und gestalteten die charakterlichen Feinheiten der Figuren in aller notwendigen Deutlichkeit. Die reizvollste Rolle im Stück ist natürlich die des Puck und Benjamin Mährlein wurde ihr mehr als gerecht.

Lieder wies die einfallsreiche Inszenierung im zweiten Teil einige Längen auf, in denen die Spannung deutlich abfiel. Schade. Zu bedauern ist auch das Experiment Christina Stückls, einige Rollen der Handwerkerrüpel mit Laien zu besetzen. Zweifellos wollte er damit den Intentionen des Autors gerecht werden, der Klage wider das dilettierende und unprofessionelle Theater führte. Doch Shakespeare wollte seine Texte nicht vorgeführt wissen, sondern gespielt. Es sind hochartifizielle Sätze, mit ungeheurer Komik angefüllt, die gestaltet werden wollen. Hier wurde zu großzügig verschenkt.

Entschädigt wurde der Zuschauer doch immerhin durch das witzige und sehr hintersinnige Bühnenbild von Christof Hetzer. Auf einer weitestgehend kahlen Bühne stand eine futuristische hölzerne Blüte, in der Eingangsszene Thron von Theseus und Hippolyta. In der nachfolgenden Szene, in der das Spiel in den nahe gelegenen Wald, Wohnstatt der Geister, verlagert wird, öffnet sie sich und lässt einen solchen erkennen. Hetzer definiert mit diesem Vorgang eine innere und eine äußere Welt, was der Psychologie des Stücke trefflich entspricht.

Die Inszenierung ist ein gelungener Auftakt der neuen Spielzeit im Volkstheater und wird ihre Anhänger finden.


Wolf Banitzki

 

 


Ein Sommernachtstraum

von W. Shakespeare

Alexander Duda, Ursula Burkhart, Benjamin Mährlein, Gabriel Raab, Markus Brandl, Elisabeth Müller, Stephanie Schadeweg, Stefan Murr, Timur Isik, Georg Staber, Franz Maier, Martin Norz, Marinus Strasser, David Rehbehn, Feenchor

Regie: Christian Stückl

Volkstheater Liliom von Ferenc Molnár




Liliom - der unschuldig Getötete

Liliom ist der Platzhirsch auf dem Rummelplatz der Vorstadt. Er verdient seine Brötchen als Ausrufer. Die Mädchen lieben seine Testosteron-Ausdünstungen und wenn er ihnen die Hand auf die Hüften legt, sind sie im Paradies. So läuft das Geschäft gut für Frau Muskat, die seinen Vorstadtmachoreizen ebenfalls erliegt. Doch Liliom ist stolz und als Frau Muskat ihn zurechtweisen will, geht er. Im seinem Gefolge Frau Muskats Angestellte Julie, die ihn liebt, es ihm aber nicht sagen kann und schwanger wird. Als der arbeits- und einkommenslose Liliom von seiner künftigen Vaterschaft erfährt, lässt er sich zu einem Raubüberfall verleiten. Doch es ist nicht sein Metier und bevor er sich in die Hände der Justiz zu begibt, rammt er sich lieber das Küchenmesser in den Leib. Nach sechzehn Jahren Fegefeuer wird ihm noch ein Erdentag geschenkt. Ist Liliom ein besserer Mensch geworden? Franz Molnár gibt eine überzeugende Antwort.

Molnárs schrieb sein "Märchenspiel" vor etwa 100 Jahren. Es wurde ein Klassiker des Volkstheaters und wer nicht weiß, wie alt dieser Text ist, könnte ihn möglicherweise für einen zeitgenössischen halten. Das Drama beschreibt die Welt der "kleinen Leute", die damals wie heute mit Unterschicht tituliert wurden und werden. Es sind bedauernswerte Geschöpfe, die nachmittags im Privatfernsehen wie in einer Freakshow vorgeführt werden. Es sind Menschen ohne Bildung und ohne einen bedeutsamen Lebensanspruch außer dem, ein guter Konsument zu sein. Im Konsumismus aber hat Ethik keinen Platz. So sind diese Menschen selten mehr als Produkte eines Schlagabtausches mit der verleugneten Realität, wobei die Realität letztlich immer siegt. Sie folgen keiner Moral, sondern den existenziellen Notwendigkeiten des Tagesgeschäftes.

 

Benjamin Mährlein

© Arno Declair


Monika Rovans Bühnenbild war schlicht und überzeugend. In einer runden Arena, gekrönt von einem kreisrunden Glitzerhimmel, drehte sich die Scheibe des Lebens. Die Welt als Scheibe - bewusster Entwurf oder passierter Geniestreich? Die Scheibe rotiert und entwickelt für alles, was sich auf ihr befindet, Fliehkraft. Wer nachlässt im Lebenskampf wird über den Rand geworfen. So funktioniert selbstentfremdetes, von den Gesetzen der Ökonomie diktiertes Leben. Doris Homolkas Kostüme beschreiben eine weitere Ebene der sozialen Determination. In einer Welt, in der Design mehr zählt als Sein, ist derjenige automatisch außen vor, der sich Geschmack (eine kulturelle Errungenschaft - die er selbst nicht haben muss) nicht leisten kann. So geben sich diese Menschen freiwillig der Lächerlichkeit preis in formlosen schrillfarbigen Joggingklamotten, Turnschuhen oder Cowboystiefeln, die alles andere als kleidsam und vorteilhaft sind. Strass spiegelte sich in den Augen und in den Gedanken.

Nicholas Reinke gab Liliom. Das Pseudonym ist der Mythologie entlehnt und suggeriert den "unschuldig Getöteten". Reinke wirkte kraftvoll, unberechenbar und zugleich doch auch verletzlich. Er, Liliom, genoss seinen Ruf, scheute vor Brutalitäten nicht zurück und war doch zugleich ein Hilfloser. Er wusste sich im Dilemma, fand aber in seiner Welt keinen Ausweg. Die Rhetorik war geprägt von den soziale Verhältnissen. So verkörperte die sehr zerbrechlich wirkende Ines Schiller eine Julie, die im Bewusstsein ihrer eigenen Zerbrechlichkeit wegstecken konnte, auswich, duldsam war und wenig preis gab von ihren inneren Kämpfen und Sehnsüchten. Freundin Marie war das ganze Gegenteil. Stephanie Schadeweg gestaltete die Rolle der oberflächlichen, in Fettleibigkeit und Stumpfsinn endenden Frau facettenreich und witzig.

Regisseurin Christine Eder konnte auf eine wunderbare Vorlage zurückgreifen und tat dieser keine Gewalt an. Die Inszenierung hatte, Dank des guten Bühnenbildes und der durchgängig guten schauspielerischen Leistungen, einen hohen Schauwert. Leider wies die Inszenierung in der ersten Hälfte einige Längen auf. Die gelegentliche Sprachlosigkeit der Protagonisten in Liebesdingen, ein geschwätziges Geplänkel, um sich nicht trennen zu müssen, erhielt nicht den notwendigen gestischen oder mimischen Subtext. Um so gelungener hingegen die Darstellung der jenseitigen Welt. Der Übermächtige als Zwerg, als Entertainer. Benjamin Mährlein gab ihn von nüchtern bis süffisant.

Unterm Strich eine sehenswerte Arbeit, mit der sich das Volkstheater das Verdienst erworben hat, ein so wertvolles und gutes Stück Dramatik von Franz Molnar am Leben zu erhalten.


Wolf Banitzki

 

 

 


Liliom

von Ferenc Molnár

Nicholas Reinke, Ines Schiller, Stephanie Schadeweg, Sophie Wendt, Benjamin Mährlein

Regie: Christine Eder

Volkstheater Nachtblind von Darja Stocker


 

 

Leiden voller Selbstgefälligkeit

"Leyla, eine junge Frau, sucht ihren eigenen Weg jenseits der Normalität. …" Mit diesem Satz kündigte das Volkstheater die Inszenierung von "Nachtblind", das Erstlingswerk der 23jährigen Schweizerin Darja Stöcker, an. 2005 wurde das Drama auf dem Heidelberger Stückemarkt mit dem 1. Preis ausgezeichnet. Die Autorin erwarb ihr Handwerkszeug in Schreib-Workshops und Autorenförderprojekten. Jetzt vervollkommnet die Dramatikerin ihre Künste an der Berliner Universität, wo die "Szenisches Schreiben" studiert. Es macht neugierig, wenn eine 21jährige - älter kann sie beim Schreiben des Textes kaum gewesen sein - Auskunft gibt über die Befindlichkeiten und Sehnsüchte einer ganzen Generation.

Was ist für die junge Frau mit dem metaphorischen Namen Leyla, er kommt aus dem Arabischen und bedeutet Nacht und Dunkelheit, die Normalität? Im Stück ist diese Normalität eine zerrüttete Familie aus einem Vater (Arzt), der eine Geliebte hat, eine Mutter (Journalistin), die sich durch Haltungslosigkeit definiert, und einen Bruder, dessen Aggressionen sich gegen alles und jeden wendet. Was ist nun der Weg vorbei an dieser Realität? Er führt entlang an Mauern, die mit Graffitis versehen werden in die Arme einer dunklen, nicht näher bestimmten Gestalt, dessen Liebe, wenn sie nicht erwidert wird, in unmenschlichste Brutalität umschlagen kann. Wie geht Leyla ihren Weg? Erst einmal frei von materiellen Nöten, auch frei von Bevormundung und weitestgehend auch frei von Zielen, von einer diffusen Sehnsucht nach Wärme und Zärtlichkeit einmal abgesehen. Immerhin wurde klar, diese Jugend leidet! Woran? Doch erst einmal an sich selbst und da man für dieses Leidensgefühl Verantwortliche braucht, werden die Eltern Maß genommen, der Vater, der die Familie verraten hat und die Mutter, die sich selbst verrät. Es sind Leiden voller Selbstgefälligkeit, die Leiden der Darja Stocker - oder sind es vielleicht nur handgewerkelte Leiden, um ein dramaturgisches Prinzip zu bedienen?

Was hier preisgekrönt daher kommt, hat weder literarische Qualitäten, noch geht es im Inhalt über spätpubertäre Befindlichkeiten hinaus, die ernst genommen werden möchten. Die Höllen der Autorin sind die der Vorabendserien mit Sozialtouch. Und sie werden nicht nur ernst genommen, sie werden auch noch preisgekrönt. Wenn es nichts zu feiern gibt, dann feiern wir eben das Nichts. Glaubt man den Juroren, müsste diese Arbeit in einer Reihe mit "Fänger im Roggen" oder, um beim Theater zu bleiben, "Die neuen Leiden des jungen W." bestehen können. Hier erübrigt sich jeder Kommentar.

Unter diesem Vorzeichen ist es höchst erstaunlich, was Regisseur Philipp Jescheck gemeinsam mit den Darstellern aus diesen Mädchenfantasien und deren Pseudohintergrund machte. Grundsätzlich ist dabei lobenswert, dass das Volkstheater mit dieser Inszenierung einen neuen, sehr intimen Spielort am Haus schuf. Bleibt zu hoffen, dass derartige Experimente fortgesetzt werden.

Es war gerade die Intimität, die den Reiz des Abends ausmachte, die Tuchfühlung mit den Darstellern. Gänzlich ohne Abstand konnte der Zuschauer die Feinheiten des Spiels von Elisabeth Müller (Leyla) und Timur Isik (Moe) genießen, mit denen Regisseur Jescheck deutlich über die Vorlage hinaus gestalten ließ. Frisch und sehr jugendlich wirkten die Schauspieler und dabei souverän und diszipliniert. Das Spektrum der geforderten szenischen Umsetzungen war groß und die stillen Momente wurden ebenso maßvoll gegeben wie der Exzess. Gabriel Raab (Bruder) und Sophie Wendt (Mutter) blieben zwar mehr oder weniger periphere Figuren in der Handlung, überzeugten jedoch mit ihrer physischen Präsenz und hatte großen Anteil an der sehr guten Leistung Elisabeth Müllers.

Das Bühnenbild von Florian Helmbold war abstrakt und funktional gehalten. Ein Lichtwürfel, der einen Schuppen vorstellen konnte und ein fast ebenerdiges Lichtpodest als Gegenentwurf reichten aus, um alle Räume suggerieren zu können. Der Rest war Spiel.

Das Volkstheater bemühte sich mit dieser Inszenierung ganz augenscheinlich um den Zuschauernachwuchs. Was allerdings kann die Geschichte einem jungen Publikum mit auf den Weg geben außer das dumpfe Gefühl, irgendwie nicht wirklich gestaltend am Leben beteiligt zu sein? Was Leben ist, erfährt der Zuschauer jedenfalls nicht. So bleibt ein mögliches Anliegen im Dunkeln gemäß der Metapher "Leyla", die im Arabischen bedeutet: "Die Dunkelheit ist echt, das Licht scheint nur so."



Wolf Banitzki
 

 

 


Nachtblind

von Darja Stocker

lElisabeth Müller, Timur Isik, Sophie Wendt, Gabriel Raab

Regie: Philipp Jescheck

Volkstheater Baal von Bertolt Brecht




Aufbegehren wäre angebracht

Orge sagte mir: der liebste Ort
Auf Erden war ihm immer der Abort.
(…)
Ein Ort der Demut, dort erkennst du scharf
Daß du ein Mensch bist, der nichts behalten darf.
(…)
Und doch erkennst du dorten, was du bist:
Ein Bursche, der auf dem Aborte -frißt.

(Aus Orges Gesang - im Stück "Baal")

Und weil der Mensch am Ende nichts behalten kann, so halte er sich im Leben schadlos. Das ist die Devise des junger talentierten Dichters Baal, der den Großkaufmann Mech (Timur Isik) auf den Plan ruft, um ihn zu fördern. Baal brüskiert den Mann, macht dessen Frau Emilie (Sophie Wendt) zu seiner Geliebten und erniedrigt sie. Sein Treiben ist hemmungslos. Er verführt die junge schwärmerische Johanna (Elisabeth Müller), Freundin seines Jüngers Johannes (Markus Brandl), und lässt sie bereits nach einer Nacht wieder fallen. Sie ertränkt sich. Dann schwängert Baal Sophie Dechant (Stephanie Schadeweg). Aber auch dieser Liebe wird er bald überdrüssig. Als sein Freund Ekart (Gabriel Raab), mit dem er durch die Lande zieht, ihn an einen Rest Menschlichkeit gemahnt, versucht Baal sie ihm "abzutreten". "Was muß ich dir geben daß du meine Frau nimmst?" Acht Jahre später sticht Baal den Freund im Streit um eine Kellnerin (Xenia Tiling) nieder. Der geniale Viechsmensch, wie der Dichter im Stück mehrfach tituliert wird, wird ebenfalls schwer verletzt und schlüpft auf der Flucht vor Landjägern im Wald in einer Holzfällerhütte unter. Ob Baal hier stirb, lässt Brecht offen. Die letzte Zeile lautete: "Sterne ... Hm" (Er kriecht hinaus.)

 

Sophie Wendt, Ludwig Blochberger, Benjamin Mährlein

© Arno Declair


Bertolt Brecht stellte das Stück im Alter von 20 Jahren fertig. Am 8. Dezember 1923 wurde es in Leipzig uraufgeführt und ummittelbar darauf vom Oberbürgermeister als unanständig, weil anarchisch verboten. Das gereichte einem Manne wie Brecht allerdings zur Ehre, denn im Baal steckt auch eine gehörige Portion des Autors. Brechts Umgang mit Frauen war nicht selten schändlich, auch wenn er aus dieser Eigenschaft eine literarisch-künstlerische Tugendfloskel machte: "In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen". Mit Kollegen verfuhr er ebenso. Frage an Brecht: "Was halten sie von Max Frisch?" Antwort: "Gar nichts. Der schreibt auch." Oder man lese nach, wie er mit Marie-Luise Fleißer umgegangen ist. Die verriet er für einen Theaterskandal, um seine eigene Publizität zu steigern. Er hielt sich einen ganzen Harem schöner und kluger Frauen, die er schamlos für sich ausnutzte, ohne jemals seinen Ruhm mit ihnen zu teilen. Im Gegensatz zum Baal war er jedoch ein physischer Feigling, der die Bequemlichkeit und den Luxus liebte.

Hans Neuenfels ließ wissen, dass er mit Brecht zu neuen Ufern aufbrechen wollte. Mit seinem "Baal" gedachte er die Gesellschaft aufzurütteln. Ob es ihm gelungen ist, bleibt abzuwarten. Gute Gründe dazu hat er allemal, beklagt er doch schon seit längerem das Fehlen von Visionen in der heutigen Zeit. Brecht hatte seinerzeit einen ebenfalls triftigen Grund für das Schreiben. Die Figur des Baals entsprang dem Geist des Dichters als eine parodistische Antwort auf das Stück "Der Einsame" von Hanns Johst, der später als Präsident der nationalsozialistischen Reichschrifttumskammer Meriten erntete. Brecht stellte dem "Westentaschendämonen" und "Spießergenie" Johsts ein wahrhaft wildes und anarchisches Genie gegenüber. Sechsunddreißig Jahre später, Brecht hatte Weltruhm erlangt und war der wichtigste Vertreter des epischen Theaters, gestand er: "Dem Stück fehlt Weisheit."

Damit hatte Brecht wohl Recht und doch ist es allein wegen der hochlyrischen, wuchtigen und klaren Sprache bereits ein echter Geniestreich. Kluge Kritiker hatten in den sechziger Jahren nach einer Züricher Inszenierung sogar herausgefunden, dass die "Unfähigkeit zur Sozialisation Baals, sein an den Menschen Vorbeireden" schon das Wetterleuchten des Theaters des Absurden (Beckett und Ionesco) war. Das ist bei näherer Betrachtung ziemlicher Unsinn. Fragt sich nun, was Hans Neuenfels gerade mit diesem Drama zu sagen beabsichtigte? Der inzwischen Fünfundsechzigjährige ist ein Aufsässiger geblieben. Er inszenierte das Stück erstmals mit sechsundzwanzig und sieht auch heute noch genügend Anlässe, "Baal" zu Wort kommen zu lassen. Er fragte sich, wie der "Baal" auf die Absetzung seiner Inszenierung des "Idomeneo" an der Deutschen Oper in Berlin reagiert hätte. Neuenfels fürchtet nicht islamische Fundamentalisten, sondern die Menschen, die die Angst vor ihnen schüren. Aufbegehren, auch heftiges, wäre angebracht. Doch es gibt keine genialen Berserker mehr und auch Neuenfels hält sich selbst nicht für einen solchen. Wie auch, wo doch Berserkertum in Marktlücken passt und Quoten bringt.

Worum ging es also? Hans Neuenfels: "Es geht um Bedürfnisbefriedigung sofort. Dabei weiß keiner, was er wollen soll. Wir stehen im Leben wie vor dem Last-Minute-Schalter." Seine Lesart offenbarte sich denn auch in der Besetzung der Rolle des Baals mit Ludwig Blochberger. Der junge und hochbegabte Schauspieler kam zwar rüde, aber sichtbar sensibel und so gar nicht berserkerhaft daher. Er war vielmehr ein Möchtegernbaal, der sehnsuchtsvoll und selbstzerstörerisch seinen Weg ging, da er keine Idee von etwas Höherem hatte. Und genau das war die Botschaft dieser Inszenierung, ohne Zweifel zweitgemäß.

Die Inszenierung war über weite Strecken eher unspektakulär, aber dennoch eine Augen- und vor allem Ohrenweide. Sie rührte an. Hans Neuenfels erzählte die Geschichte und er erzählte sie gut. Baal sinngemäß: ‚Eine Geschichte, die man versteht, ist eine schlecht erzählte Geschichte.` - Eine Geschichte will erfühlt sein! Genau das leistete diese Inszenierung. In einem funktionalen Bühnenbild von Gerhard Fresacher, bestehend aus schwarzen Wänden und weißen Mauerresten, die wie Wolken in den (Bühnen-) Himmel ragten, herrschte das Wort. Ganz im Brechtschen Sinn wurde auf alles verzichtet, was dem Spiel nicht diente. Dennoch war diese Klarheit ein ästhetischer Genuss. Jazzige Musik, hervorragend ausgewählt, trieb die Handlung unterschwellig und suggestiv voran. Auffällig, und das sollte durchaus als eine neue Qualität verstanden werden, war das hochmotivierte und erstaunlich konzentrierte, präzise Spiel aller Darsteller. Selten konnte man die vornehmlich jungen Schauspieler des Volkstheaters so diszipliniert und ganz der Rolle ergeben agieren sehen. Vielleicht sind es gerade diese Qualitäten, die einen Regisseur als einen "Regie-Altstar" (Zitat) auszeichnen. So könnte das Stück "Baal" einen sehr Brechtschen Sinn haben, nämlich den des Lehrstücks für "Regie-Jungstars".

Mit dieser Inszenierung hat das Münchner Volkstheater eine wunderbar schillernde dramatisch-lyrische Perle im Programm, deren innerer Glanz der menschlichen Verderbtheit entspringt.


Wolf Banitzki

 

 


Baal

von Bertolt Brecht

Ludwig Blochberger, Karin Werner, Timur Isik, Sophie Wendt, Benjamin Mährlein, Andreas Tobias, Markus Brandl, Elisabeth Müller, Gabriel Raab, Ursula Maria Burkhart, Stephanie Schadeweg, Xenia Tiling, Nicholas Reinke

Regie: Hans Neuenfels
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