Volkstheater Nachtblind von Darja Stocker
Leiden voller Selbstgefälligkeit
"Leyla, eine junge Frau, sucht ihren eigenen Weg jenseits der Normalität. …" Mit diesem Satz kündigte das Volkstheater die Inszenierung von "Nachtblind", das Erstlingswerk der 23jährigen Schweizerin Darja Stöcker, an. 2005 wurde das Drama auf dem Heidelberger Stückemarkt mit dem 1. Preis ausgezeichnet. Die Autorin erwarb ihr Handwerkszeug in Schreib-Workshops und Autorenförderprojekten. Jetzt vervollkommnet die Dramatikerin ihre Künste an der Berliner Universität, wo die "Szenisches Schreiben" studiert. Es macht neugierig, wenn eine 21jährige - älter kann sie beim Schreiben des Textes kaum gewesen sein - Auskunft gibt über die Befindlichkeiten und Sehnsüchte einer ganzen Generation.
Was ist für die junge Frau mit dem metaphorischen Namen Leyla, er kommt aus dem Arabischen und bedeutet Nacht und Dunkelheit, die Normalität? Im Stück ist diese Normalität eine zerrüttete Familie aus einem Vater (Arzt), der eine Geliebte hat, eine Mutter (Journalistin), die sich durch Haltungslosigkeit definiert, und einen Bruder, dessen Aggressionen sich gegen alles und jeden wendet. Was ist nun der Weg vorbei an dieser Realität? Er führt entlang an Mauern, die mit Graffitis versehen werden in die Arme einer dunklen, nicht näher bestimmten Gestalt, dessen Liebe, wenn sie nicht erwidert wird, in unmenschlichste Brutalität umschlagen kann. Wie geht Leyla ihren Weg? Erst einmal frei von materiellen Nöten, auch frei von Bevormundung und weitestgehend auch frei von Zielen, von einer diffusen Sehnsucht nach Wärme und Zärtlichkeit einmal abgesehen. Immerhin wurde klar, diese Jugend leidet! Woran? Doch erst einmal an sich selbst und da man für dieses Leidensgefühl Verantwortliche braucht, werden die Eltern Maß genommen, der Vater, der die Familie verraten hat und die Mutter, die sich selbst verrät. Es sind Leiden voller Selbstgefälligkeit, die Leiden der Darja Stocker - oder sind es vielleicht nur handgewerkelte Leiden, um ein dramaturgisches Prinzip zu bedienen?
Was hier preisgekrönt daher kommt, hat weder literarische Qualitäten, noch geht es im Inhalt über spätpubertäre Befindlichkeiten hinaus, die ernst genommen werden möchten. Die Höllen der Autorin sind die der Vorabendserien mit Sozialtouch. Und sie werden nicht nur ernst genommen, sie werden auch noch preisgekrönt. Wenn es nichts zu feiern gibt, dann feiern wir eben das Nichts. Glaubt man den Juroren, müsste diese Arbeit in einer Reihe mit "Fänger im Roggen" oder, um beim Theater zu bleiben, "Die neuen Leiden des jungen W." bestehen können. Hier erübrigt sich jeder Kommentar.
Unter diesem Vorzeichen ist es höchst erstaunlich, was Regisseur Philipp Jescheck gemeinsam mit den Darstellern aus diesen Mädchenfantasien und deren Pseudohintergrund machte. Grundsätzlich ist dabei lobenswert, dass das Volkstheater mit dieser Inszenierung einen neuen, sehr intimen Spielort am Haus schuf. Bleibt zu hoffen, dass derartige Experimente fortgesetzt werden.
Es war gerade die Intimität, die den Reiz des Abends ausmachte, die Tuchfühlung mit den Darstellern. Gänzlich ohne Abstand konnte der Zuschauer die Feinheiten des Spiels von Elisabeth Müller (Leyla) und Timur Isik (Moe) genießen, mit denen Regisseur Jescheck deutlich über die Vorlage hinaus gestalten ließ. Frisch und sehr jugendlich wirkten die Schauspieler und dabei souverän und diszipliniert. Das Spektrum der geforderten szenischen Umsetzungen war groß und die stillen Momente wurden ebenso maßvoll gegeben wie der Exzess. Gabriel Raab (Bruder) und Sophie Wendt (Mutter) blieben zwar mehr oder weniger periphere Figuren in der Handlung, überzeugten jedoch mit ihrer physischen Präsenz und hatte großen Anteil an der sehr guten Leistung Elisabeth Müllers.
Das Bühnenbild von Florian Helmbold war abstrakt und funktional gehalten. Ein Lichtwürfel, der einen Schuppen vorstellen konnte und ein fast ebenerdiges Lichtpodest als Gegenentwurf reichten aus, um alle Räume suggerieren zu können. Der Rest war Spiel.
Das Volkstheater bemühte sich mit dieser Inszenierung ganz augenscheinlich um den Zuschauernachwuchs. Was allerdings kann die Geschichte einem jungen Publikum mit auf den Weg geben außer das dumpfe Gefühl, irgendwie nicht wirklich gestaltend am Leben beteiligt zu sein? Was Leben ist, erfährt der Zuschauer jedenfalls nicht. So bleibt ein mögliches Anliegen im Dunkeln gemäß der Metapher "Leyla", die im Arabischen bedeutet: "Die Dunkelheit ist echt, das Licht scheint nur so."
Wolf Banitzki
Nachtblind
von Darja Stocker
lElisabeth Müller, Timur Isik, Sophie Wendt, Gabriel Raab
Regie: Philipp Jescheck |
Volkstheater Baal von Bertolt Brecht
Aufbegehren wäre angebracht
Orge sagte mir: der liebste Ort
Auf Erden war ihm immer der Abort.
(…)
Ein Ort der Demut, dort erkennst du scharf
Daß du ein Mensch bist, der nichts behalten darf.
(…)
Und doch erkennst du dorten, was du bist:
Ein Bursche, der auf dem Aborte -frißt.
(Aus Orges Gesang - im Stück "Baal")
Und weil der Mensch am Ende nichts behalten kann, so halte er sich im Leben schadlos. Das ist die Devise des junger talentierten Dichters Baal, der den Großkaufmann Mech (Timur Isik) auf den Plan ruft, um ihn zu fördern. Baal brüskiert den Mann, macht dessen Frau Emilie (Sophie Wendt) zu seiner Geliebten und erniedrigt sie. Sein Treiben ist hemmungslos. Er verführt die junge schwärmerische Johanna (Elisabeth Müller), Freundin seines Jüngers Johannes (Markus Brandl), und lässt sie bereits nach einer Nacht wieder fallen. Sie ertränkt sich. Dann schwängert Baal Sophie Dechant (Stephanie Schadeweg). Aber auch dieser Liebe wird er bald überdrüssig. Als sein Freund Ekart (Gabriel Raab), mit dem er durch die Lande zieht, ihn an einen Rest Menschlichkeit gemahnt, versucht Baal sie ihm "abzutreten". "Was muß ich dir geben daß du meine Frau nimmst?" Acht Jahre später sticht Baal den Freund im Streit um eine Kellnerin (Xenia Tiling) nieder. Der geniale Viechsmensch, wie der Dichter im Stück mehrfach tituliert wird, wird ebenfalls schwer verletzt und schlüpft auf der Flucht vor Landjägern im Wald in einer Holzfällerhütte unter. Ob Baal hier stirb, lässt Brecht offen. Die letzte Zeile lautete: "Sterne ... Hm" (Er kriecht hinaus.)
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Sophie Wendt, Ludwig Blochberger, Benjamin Mährlein
© Arno Declair
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Bertolt Brecht stellte das Stück im Alter von 20 Jahren fertig. Am 8. Dezember 1923 wurde es in Leipzig uraufgeführt und ummittelbar darauf vom Oberbürgermeister als unanständig, weil anarchisch verboten. Das gereichte einem Manne wie Brecht allerdings zur Ehre, denn im Baal steckt auch eine gehörige Portion des Autors. Brechts Umgang mit Frauen war nicht selten schändlich, auch wenn er aus dieser Eigenschaft eine literarisch-künstlerische Tugendfloskel machte: "In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen". Mit Kollegen verfuhr er ebenso. Frage an Brecht: "Was halten sie von Max Frisch?" Antwort: "Gar nichts. Der schreibt auch." Oder man lese nach, wie er mit Marie-Luise Fleißer umgegangen ist. Die verriet er für einen Theaterskandal, um seine eigene Publizität zu steigern. Er hielt sich einen ganzen Harem schöner und kluger Frauen, die er schamlos für sich ausnutzte, ohne jemals seinen Ruhm mit ihnen zu teilen. Im Gegensatz zum Baal war er jedoch ein physischer Feigling, der die Bequemlichkeit und den Luxus liebte.
Hans Neuenfels ließ wissen, dass er mit Brecht zu neuen Ufern aufbrechen wollte. Mit seinem "Baal" gedachte er die Gesellschaft aufzurütteln. Ob es ihm gelungen ist, bleibt abzuwarten. Gute Gründe dazu hat er allemal, beklagt er doch schon seit längerem das Fehlen von Visionen in der heutigen Zeit. Brecht hatte seinerzeit einen ebenfalls triftigen Grund für das Schreiben. Die Figur des Baals entsprang dem Geist des Dichters als eine parodistische Antwort auf das Stück "Der Einsame" von Hanns Johst, der später als Präsident der nationalsozialistischen Reichschrifttumskammer Meriten erntete. Brecht stellte dem "Westentaschendämonen" und "Spießergenie" Johsts ein wahrhaft wildes und anarchisches Genie gegenüber. Sechsunddreißig Jahre später, Brecht hatte Weltruhm erlangt und war der wichtigste Vertreter des epischen Theaters, gestand er: "Dem Stück fehlt Weisheit."
Damit hatte Brecht wohl Recht und doch ist es allein wegen der hochlyrischen, wuchtigen und klaren Sprache bereits ein echter Geniestreich. Kluge Kritiker hatten in den sechziger Jahren nach einer Züricher Inszenierung sogar herausgefunden, dass die "Unfähigkeit zur Sozialisation Baals, sein an den Menschen Vorbeireden" schon das Wetterleuchten des Theaters des Absurden (Beckett und Ionesco) war. Das ist bei näherer Betrachtung ziemlicher Unsinn. Fragt sich nun, was Hans Neuenfels gerade mit diesem Drama zu sagen beabsichtigte? Der inzwischen Fünfundsechzigjährige ist ein Aufsässiger geblieben. Er inszenierte das Stück erstmals mit sechsundzwanzig und sieht auch heute noch genügend Anlässe, "Baal" zu Wort kommen zu lassen. Er fragte sich, wie der "Baal" auf die Absetzung seiner Inszenierung des "Idomeneo" an der Deutschen Oper in Berlin reagiert hätte. Neuenfels fürchtet nicht islamische Fundamentalisten, sondern die Menschen, die die Angst vor ihnen schüren. Aufbegehren, auch heftiges, wäre angebracht. Doch es gibt keine genialen Berserker mehr und auch Neuenfels hält sich selbst nicht für einen solchen. Wie auch, wo doch Berserkertum in Marktlücken passt und Quoten bringt.
Worum ging es also? Hans Neuenfels: "Es geht um Bedürfnisbefriedigung sofort. Dabei weiß keiner, was er wollen soll. Wir stehen im Leben wie vor dem Last-Minute-Schalter." Seine Lesart offenbarte sich denn auch in der Besetzung der Rolle des Baals mit Ludwig Blochberger. Der junge und hochbegabte Schauspieler kam zwar rüde, aber sichtbar sensibel und so gar nicht berserkerhaft daher. Er war vielmehr ein Möchtegernbaal, der sehnsuchtsvoll und selbstzerstörerisch seinen Weg ging, da er keine Idee von etwas Höherem hatte. Und genau das war die Botschaft dieser Inszenierung, ohne Zweifel zweitgemäß.
Die Inszenierung war über weite Strecken eher unspektakulär, aber dennoch eine Augen- und vor allem Ohrenweide. Sie rührte an. Hans Neuenfels erzählte die Geschichte und er erzählte sie gut. Baal sinngemäß: ‚Eine Geschichte, die man versteht, ist eine schlecht erzählte Geschichte.` - Eine Geschichte will erfühlt sein! Genau das leistete diese Inszenierung. In einem funktionalen Bühnenbild von Gerhard Fresacher, bestehend aus schwarzen Wänden und weißen Mauerresten, die wie Wolken in den (Bühnen-) Himmel ragten, herrschte das Wort. Ganz im Brechtschen Sinn wurde auf alles verzichtet, was dem Spiel nicht diente. Dennoch war diese Klarheit ein ästhetischer Genuss. Jazzige Musik, hervorragend ausgewählt, trieb die Handlung unterschwellig und suggestiv voran. Auffällig, und das sollte durchaus als eine neue Qualität verstanden werden, war das hochmotivierte und erstaunlich konzentrierte, präzise Spiel aller Darsteller. Selten konnte man die vornehmlich jungen Schauspieler des Volkstheaters so diszipliniert und ganz der Rolle ergeben agieren sehen. Vielleicht sind es gerade diese Qualitäten, die einen Regisseur als einen "Regie-Altstar" (Zitat) auszeichnen. So könnte das Stück "Baal" einen sehr Brechtschen Sinn haben, nämlich den des Lehrstücks für "Regie-Jungstars".
Mit dieser Inszenierung hat das Münchner Volkstheater eine wunderbar schillernde dramatisch-lyrische Perle im Programm, deren innerer Glanz der menschlichen Verderbtheit entspringt.
Wolf Banitzki
Baal
von Bertolt Brecht
Ludwig Blochberger, Karin Werner, Timur Isik, Sophie Wendt, Benjamin Mährlein, Andreas Tobias, Markus Brandl, Elisabeth Müller, Gabriel Raab, Ursula Maria Burkhart, Stephanie Schadeweg, Xenia Tiling, Nicholas Reinke
Regie: Hans Neuenfels |