Kammerspiele Neues Haus  Die Kränkungen der Menschheit  von Anta Helena Recke


 

Wider den Eurozentrismus in den Köpfen

Ausgangspunkt der Performance von Anta Helena Recke sind die von Sigmund Freud festgeschriebenen drei großen Kränkungen der Menschheit, die da sind: 1. Das kopernikanische Weltbild, in dem die Erde nicht mehr der Mittelunkt des Universums ist, 2. die Darwinsche Erkenntnis, dass der Mensch vom Affen abstammt und 3. die Freudsche Erkenntnis, dass es ein Unterbewusstsein gibt, welches der Mensch nicht beherrscht. Allerdings ging Freud hierbei vornehmlich vom männlichen weißen Europäer aus, der nach seinem dafürhalten die höchste zivilisatorische Stufe einnahm.

Die vierte vermeintliche Kränkung könnte die Erkenntnis sein, dass es sowas wie eine universelle Menschheits- und Kulturgeschichte, bislang eine europäische Vorstellung, in der Europa Hort der bedeutendsten Errungenschaften und der letzten und höchsten Kultur ist, nicht gibt. Dass diese These eine deutlich andere Qualität hat als die ersten beiden, liegt auf der Hand, denn in diesem Falle wären doch in erster Linie die Europäer gekränkt und von denen auch nur die, die einem eurozentristischen Weltbild anhängen. Aber sei es drum, die These taugt, darüber nachzudenken. Und genau das tut die Inszenierung, was auch eine besondere Qualität ist, denn hier werden keine Ergebnisse präsentiert, sondern das Nachdenken darüber. Also bleibt es Diskurs.

Der Abend begann mit der Invasion einer Primatenhorde, die auf physisch eindrucksvolle Weise unsere Vorfahren kopierte. Inmitten der Bühne von Carlo Siegfried ein Glaskasten mit einem hölzernen Rondell auf einem weißgefliesten Sockel. Der Bühnenraum ist (erklärter Maßen) ein Museum, aber auch, die Primaten werden zwischendurch gefüttert, ein Zoo. Es drängten sich die ersten Bilder aus Stanley Kubricks „2001 – Odyssee im Weltraum“ auf, unterlegt mit bombastischen Klängen aus „Also sprach Zarathustra“ von Richard Strauß. Der akustische Part für das Treiben der Primaten auf der Bühne des Neuen Hauses wurde ebenso eindrucksvoll und bombastisch von Leon Frei mit einem Gong realisiert.

  Die Krnkungen der Menschhe  
 

v.l.n.r.: Joana Tischkau, Vincent Redetzki, Ensemble

© Gabriela Neeb

 

Für die Regisseurin Anta Helena Recke ist ein Museumsraum ohnehin „universalistischer und internationaler funktionierend, als der deutsche Theaterraum“, um Strukturen sichtbar zu machen. (Interview Programmheft) Und wenn sie von Strukturen spricht, meint sie vornehmlich die Strukturiertheit des „weißen alten Mannes“ der „seine Hausaufgaben nicht macht“ und daher nicht in den Stand versetzt wird, die „Matrix“ aufzubrechen, damit die Strukturen sich verändern können. Auf der Bühne (im Museum) beginnt das mit einer Diskussion um das Bild „Affen als Kunstrichter“ von Gabriel Cornelius von Max aus dem Jahr 1889. Der 1915 in München verstorbene Maler beschäftigte sich neben der Malerei mit der Anthropologie von Affen, allerdings auch mit Somnambulismus und Spiritismus. Zu ersterem Zweck hatte er in seiner Villa in Ammerland eine größere Herde von Primaten gezüchtet, die allerdings in der Regel vor der Zeit verstarben. Diese Information wurde auch ans Publikum durchgereicht.

Eine Gruppe Museumsbesucher, eben jene Repräsentanten der eurozentristischen Kulturauffassung, betrachteten und besprachen das Bild mit Blickrichtung ins Publikum. Man spekulierte darüber, was wohl auf dem Bild sein könnte, das die Affen betrachten und das für den Bildbetrachter (im Originalgemälde) nicht sichtbar wird. Um über dieses Bild und ein weiteres zu sprechen, zog man sich schließlich in das „Glashaus“ (!) zurück. Betrachtet wurde ebenfalls „Two Planets Series: Van Gogh´s The Midday Sleep and the Tai Farmers“ von Araya Rasdjarmrearnsook. Dabei handelte es sich um ein Foto, auf dem thailändische Bauern zu sehen sind, die ein Van Gogh Gemälde betrachten, das auf einer Staffelei mitten in einem grünen Feld steht. Auch hier wird gemutmaßt, was dabei vorgeht. Immer wieder korrigierten sich die Diskutanten, weil sie sich der üblichen politischen Unkorrektheiten überführt sahen. Das Wort „Wildnis“ beispielsweise assoziiert, dass die zu sehenden Menschen „Wilde“ seien. J.J. Rosseau kam in den Sinn, seine „eurozentrische“ Sicht (und deren matrixfördernder Einfluss) auf den „schönen Wilden“. Das Wort wurde ersetzt durch das unverfängliche Wort „Natur“. Ebenso wurde überdeutlich betont, dass es sich um Bäuer*innen handelte, usf.

Unvermittelt wurde die Bühne erneut geflutet, diesmal mit Menschen von nicht europäischen Kontinenten, sämtlich in farbenprächtige traditionelle Kleidung (Kostüme Pola Kardum) gewandet. Fröhlich schnatternd und gestikulierend überquerten sie die Bühne, warfen einen kurzen Blick auf das Glashaus und die darin befindlichen Europäer und zogen weiter. Die Musik von Luca Mortellaro läutete langsam und unaufhaltsam einen Paradigmenwechsel ein. Es wurde bedrohlich und die bunte Schar Nichteuropäer froren langsam ein, während sich die Europäer im Glaskasten in Entsetzen übten. Das ganze Haus geriet aus der metaphorischen Verankerung … Eine Stunde und fünf Minuten dauerte die Performance und wurde vom Premierenpublikum frenetisch gefeiert.

Die Performance von Anta Helena Recke war eine Bebilderung der „ignoranten und arroganten Haltung der Europäer“. Nun steht es jedem frei, sich darin wiederzuentdecken und die Selbstanklage anzunehmen. Die Effizienz dieser andauernden Kasteiung darf wohl in Frage gestellt werden und über die Maßen unterhaltsam ist sie auch nicht. Die Werbung durch die Kammerspiele war da konkreter als das Gesehene auf der Bühne und entdeckte das Grundproblem, um das es geht, im „gegenwärtig zu beobachtenden globale Wiedererstarken faschistischer Kräfte, Phänomene wie ‚Men’s Right Activism‘ und das selbstbewusste Auftreten von White Supremacy Gruppierungen zeigen, wie tiefgreifend die Illusion einer weißen männlichen Menschheit im weißen Körper verankert ist. Alle wehren sich mit Haut und Haaren – und sind sich für nichts zu schade.“ Es sei daran erinnert, dass diese Bewegungen immer noch Minderheiten sind und dass eine Emotionalisierung durch Bilder (nicht durch Argumente) schnell in Hysterie umschlagen kann, wie man durchaus an der Bewegung zum Klimaschutz sieht. Die meisten „Phänomene“ gab es zu fast allen Zeiten. Seien wir dankbar, dass sie sichtbarer geworden sind und wir ihnen mit Vernunft und der Macht der Wahrheit begegnen können.

Wolf Banitzki

 


Die Kränkungen der Menschheit

von Anta Helena Recke

Choreografie, Text, Performance: Ariane Andereggen, Jean Chaize, Noah Donker, Sir Henry, Kinan Hmeidan, Mario Lopes, Samuel Lopes, Lara-Sophie Milagro, Benjamin Radjaipour, Vincent Redetzki, Joana Tischkau, Else Tunemyr, Hayato Yamaguchi
Desweiteren: Canay Altin, Belkisa Arifi, Abida Arifi, Jeanne-Francine Aziamble, Lakaraba Lilliane Blessing, Tracey Adel Cooper, Lendita Daffeh, Sinthiou Dia, Rebecca Duverger-Fischer, Amie Georgson Jammeh, Kathrin Knöpfle, Ivy Lißack, Prisca Mbawala, Seggen Mikael, Elisa Nadal, Liza Noori, Cintia Rangel Martins, Gaba Sahory, Reyes Baca, Jucilene Santos Costa, Janine Schmidt, Siri Fatou Seidl, Aya Sone, Lea Tesfaye, Roula Ukkeh, Awa Wassa, Jane Zentgraf, Kinder: Lendita Daffeh / Siri Fatou Seidl, Gong: Leon Frei

Inszenierung: Anta Helena Recke

Kammerspiele Neues Haus Hochdeutschland nach Alexander Schimmelbusch


 

Theater sollte mehr leisten

Victor ist ein erfolgreicher Banker, der Millionen verdient und sich alles leisten kann. Doch er ist nicht wirklich glücklich, denn er spürt, dass die Gesellschaft in eine Schieflage geraten ist. Und obwohl es ihn eigentlich gar nichts angeht, denn er ist ja auf der Gewinnerseite, also auf dem Heck, der bugwärts sinkenden Titanic, fühlt er sich auf absurde Weise herausgefordert. Er denkt ernsthaft darüber nach, wie diese Ungleichheit aufgehoben werden kann. Die Gründung einer „Deutschland AG“ erscheint ihm ein probates Mittel zu sein. Zudem soll der Reichtum gedeckelt werden. Maximal 25 Millionen Euro pro Person erscheinen ihm angemessen. Und das Land soll sich erheblich mehr um sich selbst kümmern, soll egoistischer sein und dabei seine Stärken ausbauen über Bildung, Chancengleichheit und ausgewogene Ernährung. Es soll tatsächlich Menschen geben, die die Produkte von Kentucky Fried Chicken als Nahrung ansehen. Vor allem muss darauf bestanden werden, dass jedes Individuum sich den „Deutschen Werten“ verpflichtet fühlt. Die anderen sollen gefälligst draußen bleiben. Kurz und gut, hier kommt ein programmatischer Verhau zustande, der zwischen den geistigen Polen (wenn man überhaupt von solchen sprechen kann) von Donald Trump und Gauland/Meuthen/Weidel liegt.

Victor ist wild entschlossen, diese politischen Ziele, denen sich ja kein „vernünftiger“ Mensch verschließen kann, in die Tat umzusetzen. Dazu, und das ist der Kern des Romans von Alexander Schimmelbusch, braucht es ein populistisches Manifest, das die Leute aufrüttelt und in Bewegung bringt. Tatsächlich findet sich ein Politiker, ehemals Grüner, jetzt populistisch, der genau auf diese geniale Rede, die Victor in einer halben Stunde ganz nebenbei verfasste, gewartet hat. Im Roman kommt Victor überraschend zu Tode. Er wird Opfer einer radikalen Bewegung, die noch niemand so recht auf dem Schirm hatte. Dumm gelaufen, möchte man sagen. Alexander Schimmelbusch war selbst fünf Jahre Investmentbanker in London. Er weiß also, wovon er redet, wenn er über Finanzen und deren Gewinnen spricht, die allen versprochen, auch dem kleinsten Sparer, jedoch nur einer immer kleiner werdenden Zahl von Menschen in immer höheren Margen zufließt. Schon Brecht hatte festgestellt, dass ein noch größeres Verbrechen, eine Bank auszurauben, die Gründung einer solchen sei. Das war kein Witz!

In Schimmelbuschs Werk geht es auf provokante Weise darum, über Politik nachzudenken und Alternativen im künstlerischen Raum durchzuspielen. Eine sehr sinnvolle Sache, wenn man einen wirklich neuen Ansatz und vielleicht ein paar revolutionäre Ideen hat. Die hat Schimmelbusch nicht. Vielmehr versucht er den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. Nationalistischem Egoismus stellt Victor eine „Deutschland AG“ gegenüber. Neoliberalem Egoismus begegnet der Protagonist mit einer diffusen Hoffnung auf ein kollektives „Wir“. Und er beginnt damit, den Reichtum pro Person auf 25 Millionen zu begrenzen. Somit gehört auch der fünfundzwanzigfache Millionär endlich wieder zum Mittelstand und ist nicht abgekoppelt von der Realität und der Gesellschaft, was ja häufig das traurige und bedauernswerte Los reicher Menschen ist.

Was für ein abstruser Irrsinn! Tatsächlich hat Schimmelbusch keine Ahnung, wie man dieser negativen und vermutlich folgenreichen Entwicklung begegnen kann. Doch diese Ahnungslosigkeit verkauft er eloquent und in sehr hipper Sprache. Dabei bedient er vornehmlich den erlesenen Geschmack der intellektuellen Sophisten und Drübersteher im Land. Da begegnet man wenig Aufrichtigkeit und viel Jux, wenig ehrlichem Mitgefühl und viel arrogantem Wortwitz. Am Ende, soviel kann schon mal verraten werden, gibt es weder neue Erkenntnisse, noch Ansätze für praktisches politisches Handeln.

  Hochdeutschland  
 

Julia Windischbauer, Abdoul Kader Traoré, Zeynep Bozbay, Jannik Mioducki

© Gabriela Neeb

 

Der Bühnenraum des Neuen Hauses der Münchner Kammerspiele war gänzlich mit Schaum geflutet. Damit sollte allerdings keine Schaumparty suggeriert werden, sondern ein Raum geschaffen werden, in dem es nichts Konkretes gab, in dem alles abstrakt und schwer fassbar blieb. Die Darsteller konnten in den Schaum greifen und zutage fördern, was immer ihnen beliebte. Und sie konnten das, was sie dem Publikum präsentierten, liebkosen, formen, zerstören oder von sich schleudern. Der Idee darf man getrost Respekt zollen. (Bühne Manuel La Casta) Der hintere Bereich der Bühne war schwarz verhangen und mit einem Flügel ausgestattet, auf dem Sachiko Hara ihre musikalischen Kommentare beisteuerte. Und so nahm denn das Spiel seinen Lauf, besser gesagt die Handlung des Romans, die vornehmlich deklamiert wurde. Dabei dominierte die Qualität der Sprache, die vom Publikum auch hinreichend honoriert wurde. Inhaltlich gab es im Wesentlichen nur Bekanntes und Altbekanntes.

Regisseur Kevin Barz setzte auf Körperlichkeit, denn der Schaum wollte bewegt werden. Sämtliche Darsteller bewiesen Einfühlungsvermögen in die jeweils geschilderte Situation, die gestisch und mimisch kommentiert wurden, ohne dass Rollenspiel dabei herauskam. Rolle gab es ja nicht oder nur ansatzweise und so setzten Zeynep Bozbay, Abdoul Kader Traoré, Jannik Mioducki und Julia Windischbauer das gesprochene Wort in Posen um, stets bemüht, dabei auch unterhaltsam zu sein. An physischer Aktion ließen sie es nicht mangeln. Die wäre vermutlich wesentlich effektvoller gewesen, hätten die (nicht vorhandene) Handlung eine Richtung und vielleicht sogar ein Ziel gehabt und die Figuren sich in dialogischen Verhältnissen befunden. So war die Inszenierung nur bedingt kurzweilig. Doch Kurzweiligkeit sollte eigentlich ein sekundäres Kriterium für eine gute Inszenierung sein, schließlich befand man sich ja nicht im Komödiantenstadl. Wichtiger sollten der Inhalt und die Botschaft sein. Doch auf echte substanzielle Botschaften warten wir seit geraumer Zeit in zunehmendem Maß. Stattdessen pflegen wir eine Diskurskultur mit abstrusen Modellen, die selten mehr als ergötzlich sind. Wenn man nichts zu sagen hat, wird umso mehr geredet. Dabei ist es ernst, wirklich ernst.

Der gesellschaftliche Diskurs ist ziemlich heruntergekommen zu einem Tummelplatz für Worthülsenproduzenten, Demagogen und Egomanen, die nicht selten über erhebliches kriminelles Potenzial verfügen. Grundvoraussetzung für eine Karriere in der Wirtschaft ist heutigen tags die Abwesenheit von Moral, also keine negative Moral, sondern die Abwesenheit von Moral. Dieser Zustand wird mit dem Gefangensein im System erklärt. Selbst wenn man moralisch sein wollte, man könnte es nicht, und wenn doch, dann um den Preis, dass einen das System ausscheidet. Das nennt man Wirtschaftsliberalismus und bedeutet unterm Strich, dass eine kleine Gruppe dank ihres Besitzes an Kapital oder Produktionsmitteln diesen permanent vermehrt, während die Schicht der Besitzlosen stetig wächst. Die relative Verarmung schreitet ungehemmt voran.

Und wenn einer um die Ecke kommt und recht zögerlich einen Vorschlag macht, der durchaus in die richtige Richtung geht, hagelt es Häme und arroganten Spott. Ein junger Sozialist nimmt das Wort Verstaatlichung in den Mund und sofort hagelt es Maulschellen von allen Seiten. Der Kapitalismus, von dem genannter Victor glaubt er sei reformierbar, ist möglicherweise die letzte existenzielle Geißel der Menschheit. Er hat nur ein Ziel: Streben nach Profit. Und dabei nimmt er weder Rücksicht auf die Ressourcen, die erwiesenermaßen endlich sind, noch darauf, dass Reichtum im Umkehrschluss Armut bedeutet. Wenn nicht langsam an Stelle der Gier die Vernunft zu regieren beginnt, dann war es das. Wenn das permanente extensive Wachstum ungebremst weitergeht, dann wird sich der „no return point“ des Klimawandels nicht in elf Jahren einstellen, sondern noch früher. Karl Marx schrieb, dass sich der Kapitalist bei der Aussicht auf 100 % Profit bereitfindet zu lügen, bei 200 % zu betrügen und bei 300 % zu töten. Schauen wir uns um. Alles das findet statt und wir weigern uns immer noch, von einem kriminellen System zu sprechen. Ein Aufschrei des Entsetzens geht um, wenn mal ein sozialistischer Politiker das Wort Sozialismus in den Mund nimmt. Diese politische Keule funktioniert noch immer und sofort kommt der Reflex, lieber tot als rot. Das könnte klappen. Dabei weiß noch niemand, wie ein richtiger Sozialismus aussieht, denn es gab ihn noch nie.

Die Münchner Kammerspiele haben sich auf die Fahnen geschrieben, politisch und multikulturell zu sein. Das kommt gut an, bewirkt aber nicht das Geringste, wenn das politische Engagement keine Richtung, keine echten Prämissen und vor allem kein handwerklich funktionierendes Instrumentarium hat. Multikulturalismus ist unterm Strich ohne eindeutige und verbindliche humanistische Leitsätze sowieso nur Folklore. Die Botschaft von „Hochdeutschland“ ist so, wie sie sich durch die Inszenierung an den Münchner Kammerspielen darstellt, kein tauglicher Versuch, die Fragen, wie sie in der Bewerbung durch die Kammerspiele formuliert sind, zu beantworten „Kann sich das System von innen selbst zerstören? Wie weit ist die Elite in Deutschland von der Realität entfernt? Deutschland 2019: Braucht es einen Neuanfang?“ Wenn wir noch lange darüber lamentieren, werden uns die Antworten, nach denen wir nicht gefragt haben, erbarmungslos ins Gesicht schlagen. Die Verwirrung des politischen Geistes schreitet voran und die „starken Männer“ stehen vor der Tür. Egal, wir feiern uns lieber in unserem Bemühen, darüber oder über andere Dinge zu diskutieren. Theater sollte mehr leisten.

Wolf Banitzki

 


Hochdeutschland

Nach dem Roman von Alexander Schimmelbusch

Mit: Zeynep Bozbay, Abdoul Kader Traoré, Jannik Mioducki, Julia Windischbauer
Am Flügel: Sachiko Hara

Inszenierung: Kevin Barz

Kammerspiele Neues Haus  Yung Faust nach Johann Wolfgang von Goethe


 

Faust gefiltert

Leonie Böhm, Jahrgang 1982, ist studierte Bildende Künstlerin. 2011 wechselte sie zur Schauspielregie und wartete bereits während ihres Studiums an der Theaterakademie der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg mit beachtlichen Arbeiten auf. Heute versteht sie sich selbst als Regisseurin, Performerin und Bildende Künstlerin. Gemeinsam mit den Darstellern Annette Paulmann, Julia Riedler und Benjamin Radjaipour hat sie sich daran gemacht, Goethes Faust auf seinen emotionalen Gehalt zu untersuchen. Nun steht das Werk „Faust“ (I und II) weniger für Gefühlstheater, als vielmehr für Weltanschauungstheater, doch wer will es der Jugend schon verargen, ein so großes Werk auch auf andere Substanzen hin auszuloten. Die Sehnsucht Fausts nach einem weiblichen Pendant ist immerhin unbestritten und wo Liebe im Spiel ist, sind auch Gefühle dabei. Allein, bei Faust bleibt es ungestillte Sehnsucht.

Faust, aller Wissenschaften überdrüssig, denn sie konnten ihm nicht vermitteln, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, sucht neue Wege, seinen unbändigen Forschergeist und seinen Lebensdrang zu befriedigen. In tiefster Verzweiflung fasst er sogar einen Suizid ins Auge. Das ist das Stichwort für Mephistopheles, der eines der beiden dualistischen Prinzipien des Daseins repräsentiert. „Ich bin der Geist, der stets verneint! / Und das mit Recht; denn alles, was entsteht, / Ist wert, dass es zugrunde geht; / Drum besser wär´s, dass nichts entstünde. / So ist denn alles, was ihr Sünde, / Zerstörung, kurz das Böse nennt, / Mein eigentliches Element.“ Immerhin verspricht er Faust, ihm sämtliche Genüsse zu bereiten, die Himmel und Erde vorhalten. Faust ist willens, seine Seele zu geben, sollte er letzte Befriedigung finden. Der Deal lautet: „Werd ich beruhigt je mich auf ein Faulbett legen, / So sei es gleich um mich getan! / Kannst du mich schmeichelnd je belügen, / Dass ich mir selbst gefallen mag, / Kannst du mich mit Genuss betrügen - / Das sei für mich der letzte Tag! / Die Wette biet ich!“

Und los ging es, nachdem sich Julia Riedler zögerlich vor den Vorhang getraut hatte und ihr Begehren vortrug. Sie war Faust, doch nur der Faust, der seine emotionale Sehnsucht zu stillen suchte. Gesucht wurde ein Mensch, der ihre Gefühle bemerkte, lesen konnte, erwiderte. Erster Ansprechpartner war das Publikum. Im Publikum war Benjamin Radjaipour und der Funke sprang über. Allerdings auch auf den einen oder anderen Zuschauer, der in das improvisiert wirkende Spiel einbezogen wurde. Die beiden Darsteller kehrten zurück vor den Vorhang und beschlossen, das Spiel zu beginnen. Vorhang auf und weiter ging es auf der etwas steril wirkenden Bühne von Sören Gerhardt. Ein weißer, brusthoher Springbrunnen, einige zweidimensionale, den Raum strukturierende Stellelemente und ein großer Prospekt mit einer sattgrünen Topfpflanze in horizontaler Lage, der den Hintergrund bildete. Das Leben wurde ausgekostet, vornehmlich verbal unter Verwendung der wunderbaren und starken Texte Goethes. Rausch wurde als Wasserschlacht dargestellt und als die Bühne hinreichend geflutet war, ließ es sich darauf auch gut Bodysurfen. Ein roter Faden war nicht auszumachen, vielmehr wurde ein Bilderreigen aufgefächert, in dem emotionale Fundstücke aus Goethes „Faust“ in Spiel umgesetzt wurden, in ekstatisches, aber auch zurückhaltendes zärtliches oder erotisches.

  Yung Faust  
 

Julia Riedler

© Julian Baumann

 

Doch in Goethes „Faust“ steckt auch Verrat, Kindsmord und Hinrichtung. „(..), mir graut vor dir“, konnte man vernehmen und Textkenner wussten, um die Szene. Die Gretchenfrage wird gestellt, allein das „Wie hältst du es mit der Religion, Heinrich?“ wurde nicht ausgesprochen, wie vieles auf die Handlung verweisendes. Damit blieb Konkretheit in Bezug auf die Geschichte aus. Doch darum ging es auch nicht, wie ein Statement auf der Vorderseite des Programmheftes propagierte: „Gefühl ist alles“. Das ist allemal eine gewagte These! Den Gefühlen, die aufgespürt wurden im Text und auch in der Geschichte wurden mit großem körperlichem Einsatz Ausdruck verliehen. Dabei muss angemerkt werden, dass Bewegungs- und auch Sprachelemente und Codes einer Jugendkultur verwendet wurden, für deren Verständnis einiges Wissen oder Kenntnisse vorausgesetzt werden.

So findet sich das Wort „Yung“ nur in einem noch nicht kanonisierten Urbandictionary. Eine Bedeutung des Wortes ist adjektivisch und heißt so viel wie „dumm oder cool“. In diesem Zusammenhang bezieht es sich aber auf die Funktion als Namenszusatz. Man findet ihn bei Cloudrappern Yung Hurn oder Yung Lean. (Cloud Rap ist eine Spielart des Hip-Hop, der geprägt ist von sphärischen Synthesizer-Klängen und dem Einsatz von Auto Tune.) Im Zusammenhang mit „Yung Faust“ werden allerdings eine unbedingte Jugendlichkeit und ein entsprechendes Herangehen definiert.

Die einstündige Vorstellung, die vom Live-Musiker Johannes Rieder auf bisweilen sehr witzige Weise gesanglich und an Drums und Keyboards begleitet wurde, war, wie bereits erwähnt, geprägt von körperbetontem Spiel, bei dem Annette Paulmann (in der Premiere) kleinlaut gestand, dass sie dafür eigentlich zu alt sei (Originaltext oder Verzweiflung?) Zur Verbeugung humpelte sie denn auch auf die Bühne. Unbestritten hatte die Performance einen großen Unterhaltungswert, wobei angemerkt werden muss, dass die wunderbaren Verse in Goethescher Kunstsprache allen modernen Konfrontationen, sei es Musik, Kostüme (Mascha Mihoa Bischoff) oder an Kung-Fu oder verwandten asiatischen Kampfsportarten ähnelnden Bewegungsabläufen unerschütterlich standhielten.

Die Macher bezeichneten ihr Vorhaben als „frischen Zugriff auf die Welt und die Beziehungen“ im „alten Faust-Text“. Sie wollten „den allzu viel gesprochenen Sätzen des mächtigen alten weißen Mannes (Goethe) eine verletzliche Unmittelbarkeit abgewinnen“. Das ist ihnen ganz sicher gelungen und der Unterhaltungswert war ebenso unbestritten. Allerdings stellt sich die Frage, ob es nicht allzu gewagt ist, das vielleicht bedeutendste deutschsprachige literarische Werk herzunehmen, Goethe hat immerhin sechzig Jahre daran gearbeitet, um emotionale Marginalien herauszufiltern, sie in einem unterhaltsamen Potpourri darzubieten, und die letzte große Botschaft des Dramas abzuändern in die Bekundung, emotional nie zu erstarren oder zu verstummen. Das mag dem Lebensgefühl der Generation zwanzig plus entsprechen, doch Goethes Botschaft ist da weitreichender. „Das ist der Weisheit letzter Schluss: / Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, / der täglich sie erobern muss!“ In Zeiten von „Fack ju Göhte“ sollte man das allerdings nicht allzu ernst nehmen.

Nein, es war wohl nicht zu gewagt, denn das vornehmlich junge Publikum feierte die Inszenierung frenetisch. Und das macht man bekanntlich nur, wenn man überzeugt und ergriffen ist von der intellektuellen und künstlerischen Leistung aller Beteiligten. Und wer aus dem Alter heraus ist, in dem Beziehungen, Liebe, Sex, Rausch etc. nicht mehr die vorrangige Bedeutung hat, und vermutlich kommt beinahe jeder irgendwann einmal dahin, dem bleibt ja immer noch das ganze Werk, auf Papier gedruckt und in Buchdeckeln eingebunden. Also, keine Panik!

Wolf Banitzki

 


Yung Faust

nach Johann Wolfgang von Goethe

Mit: Annette Paulmann, Benjamin Radjaipour, Julia Riedler

Inszenierung: Leonie Böhm

Kammerspiele Neues Haus  Farm Fatale von Philippe Quesne


 

Weltenwende

Es geht um nichts Geringeres, als um den „Weltuntergang“. Und schon hat sich der Mensch wieder seiner eigenen Aufgeblasenheit überführt, denn er ist keineswegs imstande, die Welt untergehen zu lassen. Er ist im Stande, seine und viele andere Spezies auszurotten, vom Planeten zu tilgen. Den Planeten juckt das gar nicht. Der macht einfach weiter. Insofern sollten wir nicht die „Schöpfung“ beklagen, sondern unsere eigene Dummheit. Doch folgen wir einmal der Annahme, dem Menschen sei die Selbstauslöschung gelungen, dann hätten wir einen Zustand, den man mit „Tabula rasa“ bezeichnen könnte.

Philippe Quesne hat genau dieses Bild für seine Inszenierung an den Münchner Kammerspielen im Neuen Haus gewählt. Alles ist jungfräulich weiß. Und er hatte eine Farm als Topos gewählt. Die ist bevölkert von Vogelscheuchen. Eine wunderbare Idee, stehen sie doch gleichsam als Ausdruck für das menschliche Bestreben, seinen Lebensraum nicht mit den gefiederten Erdenbewohnern teilen zu müssen aus Angst, Einkommenseinbußen zu erleiden. Nun haben die Vogelscheuchen überlebt und sie müssen sich das Desaster anschauen, das der Mensch ihnen hinterlassen hat. Sie lauschen den Vögeln, die immer weniger werden, weil die Insekten, ihre Nahrungsgrundlage, beinahe ausgestorben sind und müssen erleben, wie diese tot vom Himmel fallen.

Eine fünfte Vogelscheuche stößt zum Quartett auf der Farm und sie tauschen sich aus, wie der Untergang der menschlichen Wesen stattgefunden hat. Alle Schicksale spiegeln sich in den aktuellen politischen und ethischen Diskussionen. Allerdings hat auf der Bühne „the most worst case“ bereits stattgefunden. Friedlich geht es zu auf der Farm, man musiziert miteinander, denn die Geräusche, die nicht mehr da sind, weil ihre Verursacher ausgestorben sind, müssen durch andere Geräusche ersetzt werden. Und dann, ganz ohne Grund und ohne Vorwarnung, taucht ein Ei auf. Nicht irgendein Ei, sondern das Ei. In Ihm ruht alle Hoffnung, davon ist man überzeugt, wenngleich niemand zu sagen vermag, warum. Also baut man dem Ei, es bleibt nicht das einzige, ein Haus, bettet es mit den anderen und geht schließlich mit diesem Haus auf die Reise, auf eine Odyssee, an deren Ende vielleicht die Rettung steht.

Philippe Quesne, der die Inszenierung, das Konzept, die Bühne und auch die Kostüme in Personalunion gestaltete, schuf ein Theaterereignis, das künstlerische und philosophische Tiefe aufwies, das berührte und das vor allem sehr, sehr komisch war. Die fünf Darsteller waren gänzlich unkenntlich gemacht durch Masken und Kostüme, wobei auch hier rückschlüssig der Mensch definiert wurde. Der hatte sie als Monster erschaffen, damit sie seinen niederen Zielen zu Diensten sein sollten. Sie waren lieblos mit Stroh gestopft und dadurch unförmig, mit Buckeln und Beulen, zudem äußerst liderlich gekleidet und beschuht, so dass sie auch in ihren Bewegungen eingeschränkt waren. Alles ging sehr behutsam vonstatten, wodurch die Figuren ihren Schrecken verloren und äußerst harmlos erschienen. Ihre Stimmen waren elektronisch verfremdet, so dass sie sehr kindlich wirkten. Die Bewegungsabläufe waren penibel durch choreografiert, so dass auch die geringste Bewegung oder Äußerung enorme Wirkung erzeugte. Leben gab es auf der Bühne auch, allerdings ließ es sich nicht näher definieren. Ein haariges Etwas bewegte sich und reagierte auf Zuwendung und Ansprache.

  Farm Fatale  
 

Gaëtan Vourc'h, Julia Riedler, Leo Gobin, Damian Rebgetz, Stefan Merki

© Martin Argyroglo

 

Selbst wenn die Scheuchen zusammen musizierten, war es eine Musik, die auf den ersten Eindruck hölzern und mechanisch klang, die aber dennoch einen Charme entfaltete, der sich in absoluter Übereinstimmung mit den Bewegungsabläufen und den Erscheinungen der Figuren befand. Es war eine ganz eigene Welt, die der Vogelscheuchen, obgleich sie doch sehr durch den Menschen geprägt waren. Von wem hätten sie auch sonst lernen sollen, wenn nicht von ihren Herren und Meistern. Und so verwunderte es nicht, dass bei einer Konfrontation mit „Turbo-Kühen“ erst einmal Mordlüsternheit aufflackert. Moralische Bedenken wurden weggewischt, denn schließlich gehört man ja zu den Guten. Letzten Endes blieb es dann aber doch bei einem Rap-Battle.

Eine besonders bemerkenswerte Szene war das Interview mit der Bienenkönigin Magarete. Dabei erfuhren die Zuschauer, dass Bienen kein Englisch sprechen. Ihre natürliche Sprache ist Schwizerdütsch. Wen wundert´s?! Magaretes Auskünfte waren sehr aufschlussreich. Sie litt sehr unter Einsamkeit, denn ihr Volk war ausgestorben. Auf die Frage, wie sich denn die Fortpflanzung zukünftig gestalten würde, gestand die Königin, eine vielleicht etwas sonderbare Beziehung zu Pilzen zu haben. Was wissen wir Menschen schon von den Überlebensstrategien anderer Arten…?

Die Botschaft des Abends war grob zusammengefasst: „Go green before Green goes!“ Die Idee, Vogelscheuchen zu den Protagonisten zu machen, war schlichtweg grandios. So bekam die Theatralik eine zusätzliche Ebene und die Spielsituation etwas Zirzensisches. Philippe Quesne füllte den Raum mit Wesen, die klüger, sympathischer und liebenswerter waren als der Mensch an sich. Dabei fällt ein, es ist nicht der Mensch an sich, wie ein bedeutender bayerischer Philosoph von der Bühne der Münchner Kammerspiele verkündete, denn der ist eigentlich in seinem Wesen gut. Es sind vielmehr die Leute, die so unerträglich sind. Mit denen musste man sich an diesem Abend indes nicht herumschlagen. Darum verließ man das Theater auch mit einem sehr guten Gefühl, denn die Vogelscheuchen waren lustiger anzusehen, sie waren witziger und sie kamen nicht so staubernst daher wie die aktuellen ökologischen Bewegungen. Es mag schwer vorstellbar sein, dass Vogelscheuchen humorvoller sind als Menschen. Das liegt allerdings nur daran, dass lebendige Vogelscheuchen nicht vorstellbar sind. Schade eigentlich.

Es war ein kurzweiliger Theaterabend, der weitestgehend in englischer Sprache absolviert wurde, der aber dennoch nie Unverständnis auslöste. Einmal mehr wurde zudem deutlich, wie magisch, wie prickelnd das Spiel mit Masken sein kann. Die Reduktion der Körperlichkeit brachte zudem ein größeres Maß an Gestaltung mit noch geringeren gestischen und mimischen Mitteln mit sich. Das war wirklich sehenswert. Und als die Darsteller bei der Verbeugung die Masken lüfteten, wurde schlagartig deutlich, das haben exzellente menschliche Schauspieler vollbracht. (Abgesehen von dem haarigen undefinierbaren Wesen, das sich am Ende auch verbeugte.) Ihnen allen gebührt höchstes Lob.
Philippe Quesnes „Farm Fatale“ endete als Roadmovie und damit blieb alles offen. Doch im Verlauf der Vorstellung wurde auf märchenhafte Weise Hoffnung erzeugt, die, angesichts der Probleme, absurd anmutet. Aber das Verhalten der Menschen, das die Welt in diese Schieflage gebracht hat und weiterhin bringt, ist ebenso absurd. Also, vielleicht ist diese Absurdität der Grund dafür zu glauben, dass der Mensch es doch noch gerichtet bekommt.

Wolf Banitzki

 


Farm Fatale

von Philippe Quesne

Mit: Leo Gobin, Stefan Merki, Damian Rebgetz, Julia Riedler, Gaëtan Vourc'h

Inszenierung/Konzept/Bühne/Kostüme: Philippe Quesne

Kammerspiele Neues Haus Morning in Byzantium von Trajal Harrell


 

Ein Übermaß an Ästhetik

Walter Hess spricht. Er spricht über sich, denn sein jüngeres hochpotentes Ich ist gerade aufgetreten, auf Zehenspitzen, schwebend und doch schleppend, als drücke Mühsal ihn nieder. Ihm folgen auf denselben Pfaden in derselben Pose alle anderen Darsteller des Abends. Das Areal, Bühne von Erik Flatmo und Trajal Harrell, eine schneeweiße Spielfläche, darauf zwei Podeste, eines mit einem Springbrunnen im Japanstyle ausgestattet, wird abgeschritten, ausgelotet, in Besitz genommen. Walter Hess erzählt von seinem jungen Ich, einem depressiven Gärtner, der in der Betrachtung einer Rose versunken ist und staunend erkennen muss, dass sie länger und schöner blühte an diesem Tag, als erhofft oder gar vermutet. Dann wird tänzerisch kommentiert, arrangiert, bis man sich unvermittelt einer Handtasche gegenübersieht und gemeinschaftlich nach dem Namen des/r Dings/Person sucht. Jean? Vielleicht. Ja. Freudige Erregung wabert wieder durch die Compagnie.

Doch dann entwickelt sich aus der Bewegung heraus die Schlüsselfrage des Abends, um den sich scheinbar oder wirklich alles zu drehen scheint. Orpheus und Eurydike. Der einstige Argonaut, der als Sänger unglaublichen Ruhm auf sich geladen hatte, bekam von den Göttern die Chance, seine Angebetete aus dem Hades, dem Totenreich ans Licht der Welt zu führen. Bedingung: Er darf sich nicht nach ihr umschauen. Er schaute sich um und vertat damit die gemeinsame Liebe. Warum? Egal, denn wichtig ist die Erkenntnis, dass durch eine falsche Handlung, eine fast beiläufige unachtsame Bewegung der Lebensfluss aus dem Bett geraten kann und auf dürrem Boden versiegt. Das ist das Problem des Mannes, Walter Hess, der die Geschichte erzählt, der im fortgeschrittenen Alter eine lohnenswerte Perspektive sucht.

Dann tritt ihm sein mittelalterliches Ich gegenüber, Stefan Merki. Sie (Walter Hess und sein Ich) trafen sich im Cafe Byzantium, in denen keine alkoholischen Getränke, dafür aber Desserts und Rauschgift gereicht wurden. Merki erzählt: Me Encanta trat auf und entkleidete sich. Es war wenig erbaulich, ihr Körper nicht mehr frisch, ihr Fleisch nicht mehr fest … Und wir sollten zu ahnen beginnen, wie sich der alte Mann fühlt. Elegisch ist die Stimmung zu minimalistischen Klaviertönen (Soundtrack Trajal Harrell), schleppend und expressiv zugleich die Bewegungen der Figuren, außer, sie tänzeln über den Catwalk (Choreografie Trajal Harrell). Dabei sind sie nicht angezogen, sondern mit Kleidungsstücken drapiert. Höchst sonderbar, teilweise oder zumeist. (Kostüme Trajal Harrell) Die Liste der Kostümdesigns ist lang, umfasst fünfzehn Marken, die an dieser Stelle nicht genannt werden. (Hier gibt’s kein product placement!)

Am Ende, der kleine Springbrunnen wird in Gang gesetzt und der „Quell des Lebens“ sprudelt wieder, starteten alle, auch Walter Hess im rosa Jöppchen, wieder furios ins Leben. Es wirkte auf das Publikum wie eine Befreiung (Woraus auch immer?) und es honorierte die Performance mit tosendem Applaus und Bravos.

  Morning in Byzantium  
 

Trajal Harrell

© Orpheas Emirzas

 

Die Inszenierung von Trajal Harrell war eine Arbeit in Personalunion, der ureigene und zutiefst subjektive Blick auf eine Realität, die sich schwer in Zusammenhang bringen ließ. Mythisches rieb sich an Realismus, der jedoch mehr erklärt als geschaut wurde. Vielleicht war der Realismus zu abstoßend, als dass man sich ihm wirklich nähern konnte, daher die ästhetische Überhöhung? Die Übermacht von Ästhetik, hier auch Moden und Marken, lässt darauf schließen. In Harrels Biografie wird erklärt, er komme „aus der (Tradition der -W.B.) queeren afro- und latein-amerikanischen Clubcultur in Harlem hervorgegangenen Voguing und des postmodernen Tanzes“.

Zudem beschäftigt er sich intensiv mit der Arbeit des japanischen Gründers des Butoh-Tanzes Tatsumi Hijikata und er wird heute als einer der wichtigsten Choreografen seiner Generation betrachtet. Im japanischen Butoh Tanz, eine künstlerische Reaktion auch auf die Atombombenabwürfe über japanische Städte, werden die Ursprünge des Daseins ergründet. Unter Einbeziehung der Erinnerung und des Unterbewussten wird über Leben und Tod philosophiert. Charakteristika sind die Entindividualisierung des Körpers, die Expressivität der Gesten und Posen, die extreme Langsamkeit der Bewegungen. Wichtig dabei ist der Verzicht auf ein logisches Handlungsgerüst sowie die Entwicklung einer Metaphorik des Unbewussten. Soviel zum ästhetischen Verständnis.

Die Liste der Arbeiten und der Aufführungsorte von Trajal Harrell ist geradezu einschüchternd. Dennoch stellt sich die Frage, was seine Arbeit uns Mitteleuropäern, uns Müchnern geben kann und hier teilen sich die Geister. Den Zuschauern älteren Jahrgangs, Bildungsbürger, aufgewachsen im Sinn der Aufklärung und der Ratio damit gewogen, bevorzugt in der Regel ein Handlungsgerüst. Bei aller Rationalität, die uns eigene ist, sind wir doch darum nicht unpoetisch. In der Inszenierung wurden die Zuschauer (im wahrsten Sinn des Wortes) zum Anfang gebrieft. Ein paar Seiten Text wurden ausgegeben, darin auch Rainer Maria Rilke. Dieser Mann war reine Poesie. Ihn zu verstehen, fällt uns leicht. „Butoh ist eine einzigartige Sprache, in der auf die Stille gehört, auf die Leere geschaut wird.“ Das ist sehr exotisch und nicht ganz so leicht verständlich.

Nun leben wir in einer Welt, die stets und ständig nach Neuem giert, um uns vor Langeweile, das Kreuz der reichen Hochzivilisation, zu schützen. Es steht zu befürchten, dass Trajal Harrell, der ganz sicher ein seriöses künstlerisches Anliegen hat, genau dieses Bedürfnis bedient. Wir Europäer sind pragmatisch, auch wenn der Pragmatismus eine amerikanische Erfindung ist und in Bezug auf Kunst wenig bis gar nichts geleistet hat. Wir sind nicht unglücklich darüber, mit einer Botschaft, mit einer Erkenntnis, mag sie auch emotionaler Natur sein, sie ist darum nicht weniger wert, aus einem Kunstvorgang herauszugehen. Die Ästhetik, so unsere Tradition, war immer das Mittel zum Zweck oder das Transportmittel der Botschaft. Überästhetisierungen führen schnell zum Überdruss. Bei Trajal Harrells Inszenierung dominierte die Ästhetik, zumal die Botschaft, dass das Leben voller gefährlicher Fallstricke sei, nicht unbedingt der Born der Weisheit ist. Allein, insbesondere das sehr junge Publikum fühlte sich ganz offensichtlich gut unterhalten. Und das hat auch einen Wert.

Wolf Banitzki

 


Morning in Byzantium

von Trajal Harrell

Irae Diessa, Marie Goyette, Trajal Harrell, Thomas Hauser, Walter Hess, Max Krause, Jelena Kuljić, Stefan Merki, Songhay Toldon, Ondrej Vidlar

Inszenierung: Trajal Harrell