Theater Viel Lärm um Nichts  Die Menschenfabrik Nach einer phantastischen Erzählung von Oskar Panizza


 

Aufzeichnungen eines „Psichopathen“

„Mir war, als kehrte ich von einem grauenhaften Ausflug ins Schattenreich zur Welt zurück, die ich mit all ihrem Jammer vor Entzücken an mein Herz hätte drücken können.“ Der sich dieser Empfindung rühmen durfte, war ein verirrter Wanderer, der eine Nacht durchlebt hatte, wie sie der Gruselpoet Edgar Allen Poe nicht fürchterlicher hätte ersinnen können. Doch der Autor dieser fantastischen Kurzgeschichte war nicht Poe, sondern Leopold Hermann Oskar Panizza. Darin wird Panizza, der Autor ist unverkennbar auch sein Held, Zeuge einer Fabrikationsstätte, in der Menschen produziert werden. Das Geschäft scheint gut zu laufen, der Produktionsausstoß ist hoch. Wie auch nicht, erfüllen die Kunst-Menschen doch viel eher und besser die Anforderungen der Natur-Menschen.

Das Denken hat man abgestellt. Sie funktionieren, von wenigen technischen Pannen abgesehen, einwandfrei. Die Wesen sind für unterschiedlichste Zwecke konzipiert und weisen keinerlei Nebenwirkungen auf. Das wirft bei dem verirrten Wanderer eine Frage auf: „Und wenn die neue Rasse nach einem bestimmten, reif überdachten Plan gemacht ist, besitzt sie vielleicht größere Fähigkeiten als wir, wird im Kampf ums Dasein den alten Erdenbewohnern überlegen sein! – Ein fürchterlicher Zusammenstoß muß erfolgen!“ Und wenig später ergeht die Gretchen-Frage an den Direktor der Menschenfabrik: „Was ist Ihr Ziel? – Ein Umsturz der gegenwärtigen Gesellschafts-Ordnung!“ Nichts dergleichen, versichert der kleine, schwarz gekleidete Mann. Es ist ein Geschäft.

Das macht die Sache in den Augen des Wanderers nicht besser, denn diese Kunst-Wesen sind frei von Moral: „Die Moral, als Grundlage unseres Denkens und Handelns, hört auf! – Neue Gesetze müssen geschaffen werden!“ Der Vorschlag des Mannes, diese technischen Möglichkeiten zu nutzen, um eine „Moral-Rasse“ zu schaffen, die „als leuchtendes Beispiel ihren fleischlich gesinnten Brüdern und Schwestern stets vor Augen stünde“, tut der Direktor mit dem knappen Einwurf ab: „Die wäre absolut unverkäuflich!“ Doch der Wanderer lässt nicht locker: „Denken Sie, welcher Fortschritt für die ethische Entwicklung unseres Menschengeschlechts, dessen Moral zur Zeit so schon im argen liegt!“ Der Alte erwidert nüchtern: „Sie sind ein Idealist!“

Der verirrte Wanderer, der in seiner Not gegen Mitternacht an die Pforten eines gewaltigen Fabrikgebäudes pochte und freundlich eingelassen wurde, erlebte einen horriblen fantastischen Albtraum. Oskar Panizza nahm damit etwas vorweg, was heute Realität zu werden beginnt. Seit einiger Zeit werden Forderungen nach einer Ethik für künstliche Intelligenz laut. Der Weg von der (scheinbar fantastischen) Idee bis zur Realisierung dauert heute nur noch ein Bruchteil der Zeit, die im Industriezeitalter des 20. Jahrhundert benötigt wurde. Angesichts der Tatsache, dass diese Geschichte um 1890 verfasst wurde, kann Oskar Panizza durchaus als ein Visionär bezeichnet wurde. Dabei sind es nicht die Vorstellungen von den technischen Errungenschaften, die zur Herstellung künstlicher Menschen führen, sondern die ethischen Fragen, die diese Technologie aufwirft. Es ist aus der Geschichte hinlänglich bekannt, dass der Mensch alles denkbare auch in die Realität umsetzt, ohne sich vorab zu den Konsequenzen zu befragen.

  Menschenfabrik  
 

Andreas Mayer, Margrit Carls, Ardhi Engl, Kathrin Knöpfle

© Hilda Lobinger

 

Und wenn es dann doch einer tut, und zwar lange bevor das Problem als solches auftritt, wird er erst einmal als Narr gehandelt. Oskar Panizza ereilte eben dieses Schicksal. Der promovierte Mediziner stürzt sich, als er glaubte, verrückt zu werden, in die Literatur. Er legte sich mit dem wilhelminischen Staat und der katholischen Kirche an (Jeder gesunde Mensch hätte diesen Impuls haben müssen!) und sieht sich alsbald zwischen den Mahlsteinen der Justiz. Sein Werk „Das Liebeskonzil – eine Himmelstragödie“ führte zu einem exemplarischen Skandal, an dessen Ende eine einjährige Haftstrafe stand. Letztlich musste er, nicht unfreiwillig, die letzten 16 Jahre seines Lebens in Irrenanstalten zubringen.

Margrit Carls brachte den Prosaalbtraum in eine dramatische Form und Andreas Seyferth diesen auf die Bühne des Theaters „Viel Lärm um Nichts“. Um diesem Albtraum auch auf der Bühne zu einem solchen zu machen, holte Andreas Seyferth die Stimm- und Bewegungskünstlerin Urte Gudian und den Klang- und Videotüftler Ardhi Engl mit ins Boot. Gemeinsam schufen sie eine hochartifizielle, multimediale Inszenierung, in der alle Elemente, Schauspiel, Tanz, Klang, Raum (Peter Schultze) und Videokunst (Ardhi Engel) organisch miteinander verschmolzen. Heraus kam ein psychedelischer Bilderreigen, der sich allerdings nicht in Bildern und Klängen erschöpfte, sondern stringent der Grundidee der Panizza-Vorlage folgte. Das gewährleisteten Margrit Carls als das schwarze Männlein und Andreas Mayer als der verirrte Wanderer. Mayers Spielgestus traf sich durchaus mit der Vorstellung vom Menschen Oskar Panizza, dessen Themen überwiegend autobiografisch geprägt waren, dienten sie doch nicht selten der Selbsttherapie des psychisch labilen Schriftstellers. Andreas Mayer gab einen gehetzten, aber aufbegehrenden jungen Mann, dem alle Zerrissenheit überdeutlich anzusehen war. Margrit Carls schwarzes Männlein wirkte skurril in der Erscheinung, transzendent in Gestus und Sprache. Im Prosatext wird das schwarze Männlein gefragt, was er eigentlich sei, Kunst- oder Natur-Mensch. Die Frage wird nicht in aller Deutlichkeit beantwortet. Auch das Kostüm von Johannes Schrödl, bestehend aus weißem Kopfverband, schwarzem Frack, darüber ein schwarzes Rüschen-Stützkorsett und mit schwarzrandiger Brille beantwortete diese Frage nicht eindeutig. Irgendwie erinnerte Frau Carls an Harold Lloyd, der seine Komik häufig aus seiner Erscheinung zog. Urte Gudian und Kathrin Knöpfle vervollkommneten das Ensemble als Geister der Nacht, Werkmeisterin und das verführerische Produkt, oder, am Ende, einfach nur Bürgerinnen, die den Wanderer und das Publikum in die Realität zurückbrachten.

Es war eine kurzweilige und inszenatorisch gelungene Inszenierung in denen sämtliche Aktionen und Interaktionen, realisiert mit den denkbar unterschiedlichsten Mitteln, bestens funktionierten. Es war eine Augenweide Kathrin Knöpfles Verführungstanz anzuschauen. Die Choreografien Urte Gudian brachten Inhalt und Stimmungen auf den Punkt. Ardhi Engls z.T. sehr ungewöhnliche Klangkulissen, die Helene Fischer geschulten Hörgewohnheiten nicht unbedingt schmeichelten, waren erregend und aufregend. Wenn die Macher ihre Inszenierung als „Amalgam aus Tanz, Klang, Schauspiel & Video“ bewerben, kann ohne Vorbehalte zugestimmt werden. Heraus kam eine glänzende, wertvolle Legierung, die den Alchimisten zur Ehre gereichte. Darüber hinaus soll aber auch auf das Verdienst verwiesen werden, dass dem Team mit der Wiederentdeckung Oskar Panizzas gebührt. Dieser Autor ist durchaus originell und seine Werke haben ihre Reize, auch oder vielleicht gerade, wenn der Literaturrezensent Dieter Wenk über sie schreibt: „Manche (…) der Erzählungen lesen sich wie ein etwas zu sehr in die Länge gezogener Witz, dessen Pointe ziemlich abstrus ist und man sich fragt, auf welchem Register der Ernsthaftigkeit dieser Autor spielt. Mehr als einmal sagt man sich, dass das doch nicht wahr sein darf. Dass man so etwas Bescheuertes schon lange nicht mehr gelesen hat.“ (In: Gewinn von Hopfen und Malz)

Wann vermochte Literatur zuletzt in so ungläubiges Erstaunen versetzen? Die zeitgenössische Literatur leistet das kaum. Wie auch, wenn die Autoren aus den Brutkästen des saturierten Kulturbetriebes schlüpfen und zuallererst, noch vor dem Leben, ihre Autobiografien schreiben. Lassen wir also Oskar Panizza das letzte Wort: "Ich bin kein Künstler, ich bin Psichopathe, und benutze nur hie und da die künstlerische Form, um mich zum Ausdruck zu bringen. Ich will nur meine Seele offenbaren, dieses jammernde Tier, welches nach Hilfe schreit."

Wolf Banitzki

 


Die Menschenfabrik

Nach einer phantastischen Erzählung von Oskar Panizza

Andreas Mayer, Margrit Carls, Ardhi Engl, Urte Gudian, Kathrin Knöpfle

Regie: Andreas Seyferth

Theater Viel Lärm um Nichts The Beggar 's Opera von John Gay (Text) und Johann Christoph Pepusch (Musik)


 

 

Eine feine Gesellschaft

Es gab und gibt theatrale Ereignisse, die in ihrer Wirkung Theatergeschichte schreiben, ohne dass jemand im Vorfeld auch nur die geringste Ahnung hatte. Eines dieser Werke ist die „Beggar’s opera“, von John Gay aus dem Jahr 1728. Derartige Ereignisse fallen jedoch nicht vom Himmel, sondern sie deuten sich tendenziell an. In Englands Philosophie hatte sich der Empirismus breit gemacht und das Theater folgte dieser Tendenz. „Decency, propriety, order und common sense“ waren die Leitworte für die Texte und auch die darstellerische Umsetzung. In dieses Klima aus Sentimentalität und Satire brach ein Autor mit besonderer Wucht ein: Henry Fielding. Seine aggressiv-satirische Dramatik brachte einige Theater, die Stücke wie „Tragedy of Tragedies or the Life and Death of Tom Thumb the Great“ zur Aufführung brachten, immer wieder in arge Bedrängnis. So glaubte auch niemand an einen Erfolg, als John Rich Gays „Beggar’s opera“ zur Aufführung brachte. John Rich war der Sohn von Christopher Rich, einem „patentierten“ Theatermanager neuen Typus. Christopher war Geschäftsmann und kein Künstler, bei vielen Theaterkollegen verhasst. John Rich, selbst ein herausragender Harlekin-Darsteller und Pantomimen-Regisseur,  trat erfolgreich in die Fußstapfen des Vaters und erbaute 1731 das Theater „Covent Garden“, das G.F. Händel anmietete, um seine Prunkopern aufzuführen.

Tatsächlich galt die theatrale Attacke gar nicht vordergründig den herrschenden politischen Verhältnissen, sondern in erster Linie dem von der italienischen Oper geprägten Musiktheater. Es war ebenso ein Rachefeldzug John Gays, der immer wieder versucht hatte, in der „besseren Gesellschaft“, also bei Hof, Aufnahme zu finden. Er wurde immer wieder abgewiesen. Als der Siegeszug seiner „Bettleroper“ auf Richs Theater in Lincoln’s Inn Field begann, klingelten zuallererst die Kassen kräftig. John Rich konnte aufgrund der Nachfrage die Eintrittspreise um ein Viertel erhöhen und steigerte die wöchentlichen Einnahmen von 600 auf 1000 Pfund. Daher auch das Witzwort, die „Bettleroper“ habe „Gay rich“ und „Rich gay“ gemacht. Das Publikum stürmte die Vorstellungen geradezu, doch nicht wegen der ästhetischen Seitenhiebe auf die Unsitten der italienischen, und insbesondere der Händelschen Prunkopern, sondern wegen der politischen Demaskierung der „vornehmen Welt“, die das Publikum zu erkennen glaubte. Zuallererst sahen sie im Werk eine Parodie auf das Ministerium Walpole und das unter seiner Ägide entstandene und grassierende „privilegierte Gaunertum“. Walpole selbst saß in der Premiere und sah sich bei jeder Anspielung den Blicken des Publikums gnadenlos ausgesetzt. Er war immerhin klug genug, am Ende mitzuklatschen und das Stück nicht zu verbieten. Das tat er erst beim Nachfolgewerk „Polly“ womit er die Lektüre des Stückes in der Bevölkerung befeuerte.

Im Werk stellte Gay die Zusammenhänge zwischen der „feinen Gesellschaft“ und der Unterwelt, repräsentiert von dem Hehler Peachum und seiner Frau dar. Sie betreiben eine Firma mit Netzwerkcharakter, in der von Diebstahl, über Veräußerung des Diebesgutes, oder Rückgabe gegen Obolus, Erpressung, wenn kompromittierendes Material vorhanden war, bis hin zum Verrat der Diebe alles in einer Hand, der von Peachum, lag. Die Satire entstand, da die Aufgeblasenheit der italienischen Oper im Grundton, durchsetzt mit groben Vulgarismen, beibehalten wurde. So erschien auf dem ersten Blick die Unterwelt als eine durchaus wohlorganisierte „feine“ Gesellschaft mit Regeln, was implizierte, dass die „Feine Gesellschaft“ sich nicht wirklich von der Unterwelt unterschied. Heraus kam die bittere Wahrheit, dass die damalige englische Gesellschaft nicht „in Moral, sondern von Moral!“ lebte.

Die Geschichte beginnt, als die Peachums erfahren, dass ihre Tochter sich heimlich mit dem Gangster Macheath verehelicht hat. Der Mann muss weg, und da alles Geschäft ist, kassiert man erst die Prämie für den Verrat und behält für den Fall der Hinrichtung den Besitz des Gangsters im Auge. Schließlich ist Polly die rechtmäßige Ehefrau und Erbin. Doch Macheath trifft in der Haftanstalt auf die Tochter des Direktors Lockits, dem Geschäftspartner Peachums. Das Mädchen heißt Lucy und ist bereits hochschwanger von der letzten Begegnung mit Macheath. Sie verhilft ihm zur Flucht, doch am Ende wird Macheath in einer Spielhölle erneut festgesetzt. Während die Väter der beiden Mädchen auf die Auslöschung des Ganoven drängen, treten ihre Töchter vehement für eine Begnadigung ein. Schließlich erscheinen vier weitere Frauen mit Sprösslingen des Gangsters. Ein Bettler tritt auf und erklärt das Spiel für beendet, da das Publikum keine Hinrichtung auf der Bühne möchte. Im Theater Viel Lärm um Nichts geschah das durch Abstimmung mit Handzeichen. Schön, wenn ein Happy End so einfach herbeigeführt werden kann.

 

  BettlersOper  
 

Martin Cambeis, Elisabeth Grünebach. Hannes Berg, Luise Weber, Sven Schöcker

© Hilda Lobinger

 

 

Regisseur Andreas Seyferth bescherte dem Publikum in Pasing einen kurzweiligen und heiteren Abend, der großes Lob verdient hat. Margrit Carls hatte ihm dafür eine Fassung bereitet, die radikal und mutig in heutige und hiesige Zustände leuchtete und der mindestens genau so viel Lob gebührt. Peter Schultzes Bühne war aus Pappkarton und Spanholzplatten gefertigt. Es glich einem Lagerhaus, in der das Diebesgut aufbewahrt wurde. Die Bühne war von einem Laufsteg umringt, hinter dem die Musiker (Musikalische Leitung: Kai Taschner und Marcus Tronsberg) logierten. Die Kostüme von Johannes Schrödl waren eine Mischung aus Barocken Formen und heutigen (Verpackungs-) Materialien. Diese Überzeichnungen wurden durch kräftige Schminkmasken komplettiert. Und so wurde dann auch gesungen und gespielt: direkt, unverblümt, mit lächerlichen Verzierungen und Schnörkel, aber auch mit explosionsartigen Ausbrüchen.

Martin Cambeis Peachum war ein grobschlächtiger, ergebnisorientierter BWLer, der auch bereit gewesen wäre Weib und Tochter zu verscherbeln, wenn es Zuwachs bedeutet hätte. Sven Schöckers Knastdirektor Lockit, je nach Situation Partner oder Gegenspieler von Peachum, gab sich hingegen schrill und manieriert. Der Macheath von Hannes Berg war eine schräge Mischung aus entlaufenem „Leningradcowboy“ und „Captain Jack Sparrow“, ein lendengesteuerter Vorstadtcasanova, dem man zu Füßen lag, insbesondere Elisabeth Grünebach als puppenhafte, leichtfüßige Polly Peachum und Luise Weber als sehr, sehr schwangere, aber der Schwerkraft tapfer trotzende Lucy Lockit. Maria Maschenka leitete als Bettlerin den Abend ein und aus. Zwischendrin begeisterte sie mit Gesang und Spiel als rothaarig, verruchte Mrs. Peachum. Andreas Seyferths Regie entfesselte ein Feuerwerk an szenischen Bonmot, die die Darsteller ohne Mühe und flüssig umsetzten. Heraus kam ein intelligentes, ideenreiches und überaus witziges Musiktheater.

Dass Margit Carl aktuelle Politikerpersönlichkeiten in das Stück hineinschrieb, entspricht durchaus der Geschichte der „Bettlers Oper“, denn Gay hatte nichts anderes getan. So haben Joaquine von Bellevue, Hosen Angie und Haubitzen-Uschi Auftritte als Prostituierte. Eine Prostituierte ist eine gewerbsmäßige Anbieterin von besonderen Leistungen. Eine Übertreibung? Hier kommt es wohl auf den Blickwinkel an, aus dem man die Sache betrachtet. Das Allgemeingültige dieses Werks ist und bleibt unbestritten. Die schmissige und eingängige Musik, geschrieben von einem Hamburger namens Johann Christoph Pepusch, dessen balladesken Songs nach der Uraufführung 1728 schnell Ohrwürmer wurden, war alles andere als antiquiert und bereitete großen Spaß.

Es bleibt zu hoffen, dass dieser Inszenierung widerfährt, was der Uraufführung widerfuhr, ein Run der Zuschauer auf die Theaterkasse. Lohnenswert ist es allemal und es schadet dem Theater bestimmt nicht, wenn dieser künstlerische Erfolg sich auch in einen wirtschaftlichen ummünzen ließe.

Wolf Banitzki

 


The Beggar 's Opera
Ein prekäres Spektakel von John Gay (Text) und Johann Christoph Pepusch (Musik)

Hannes Berg, Maria Maschenka, Martin Cambeis, Elisabeth Grünebach, Sven Schöcker, Luise Weber, Marcus Tronsberg

Regie: Andreas Seyferth   

Theater Viel Lärm um Nichts  Wölfe und Schafe von Alexander Nikolajewitsch Ostrowski


 

 

Wenn Schafe die Zähne fletschen

Er besuchte die interessantesten „Bildungsstätten“ und schuf in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts grandiose Komödien, beinahe 50 an der Zahl, die an Aktualität kaum etwas eingebüßt haben. 1823 als Sohn eines kleinen Gerichtsbeamten im Moskauer Kaufmannsviertel geboren, zog es ihn von der gymnasialen Schulbank weg ins Moskauer „Kleine Theater“. Das Jurastudium brach er ab und wurde Schreiber am Moskauer „Gewissensgericht“, eine Einrichtung, die familiäre Streitigkeiten beilegte oder familiäre Kriminalfälle entschied. Hier erhielt er intimste Einblicke in das Leben des Adels und der reichen Kaufleute und Bürger. Später konnte er seine Studien als Kanzlist am Moskauer Handelsgericht fortsetzen, wo er mit den betrügerischen Tricks der Kaufleute und Händler und deren Moral vertraut wurde. Mit vielen, zutiefst menschlichen Erfahrungen negativer Natur ausgestattet, machte er sich mit 28 Jahren als Dramatiker selbständig.  

Obgleich Ostrowsi in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einer der meistgespieltesten Theaterautoren war, kann von finanziellen Erfolgen nicht die Rede sein, denn in Russland wurden Theaterautoren kaum oder gar nicht bezahlt. Auch hatte er einige Widerstände von Seiten der Zensur zu überwinden. Sein Stück „Bankrott“ aus dem Jahr 1849 wurde vom Zensor mit den Worten verboten: „Alle handelnden Personen sind ausgemachte Schurken. (…) Das Stück ist eine Beleidigung der Kaufmannschaft.“ Zar Nikolai I. unterstützte dieses Verbot mit der Randglosse auf dem Komitee-Gutachten: „Ganz richtig. Umsonst gedruckt. Spielen verboten!“ Zudem stellte er Ostrowski unter Polizeiaufsicht. Was für „Bankrott“ in Bezug auf die Charaktere der handelnden Figuren zutraf, trifft im Wesentlichen auch auf die der Komödie „Wölfe und Schafe“ aus dem Jahr 1875 zu.

Die Fäden werden in dieser Komödie, der ein wahrer Gerichtsfall zugrunde liegt, von einer gewissen Meropa Dawydna, einem 65jährigen Fräulein gezogen, die zur Sanierung ihres eigenen Gutes ein Auge auf das Vermögen der jungen, reichen und leidlich unbedarften Witwe Jewlampia Nikolajewna geworfen hat. Ihr Verbündeter in den unredlichen Machenschaften ist das Ex-Mitglied des Kreisgerichtes Wukol Naumytsch, ein mit allen Wassern gewaschenes Schlitzohr. Der kürzeste Weg, um an das Vermögen der jungen Witwe zu gelangen ist, sie mit dem verblödeten und zum Suff neigenden Neffen Apollon Wiktoritsch zu vermählen. Doch der stellt sich derart ungeschickt an, dass die Witwe auf das Werben des Ex-Soldaten nicht anspringt. Nun ist das Talent von Klawdi Gorjetzki gefragt, Wukol Naumytschs Neffe und Meister in der Kunst der Kalligrafie. Ein Dokument wird produziert, das die Witwe Jewlampia Nikolajewna um ihr Vermögen bringen könnte, wäre da nicht Wassili Iwanytsch Berkutow. Er hatte der jungen Witwe bereits zu Lebzeiten ihres Gatten den Hof gemacht und die weibliche Festung sturmreif geschossen. Nun ist er gekommen, um sie und ihren beträchtlichen Besitz im Handstreich zu nehmen. Das gelingt und plötzlich stellen die lokalen „Wölfe“ fest, dass sie unversehens zu „Schafen“ mutiert sind. Es gibt aber auch andere Strategien, sich zu sanieren, wie die verarmte Verwandte von Meropa Dawydna, Glafira Alexejewna beweist. Lediglich mit weiblicher Raffinesse erobert sie Michail Borissowitsch, einen ehrenamtlichen Friedensrichter, ein Mann, der die Vorzüge der physischen aber auch der mentalen Horizontalen zu schätzen weiß. Sein Erwachen ist ein ebenso böses.

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Andreas Seyferth, Denis Fink

© Hilda Lobinger

 

Peter Schultzes Spielraum hielt eine schmalstrukturierte Spielfläche, einen mit weißen Flokati belegten Laufsteg vor, der an die Form eines russisch-orthodoxen Kreuzes erinnerte. Man wandelte naturgemäß auf den Fundamenten der Kirche und unterstrich beinahe jede wichtige Aussage mit dem Schlagen des Kreuzes vor der Brust, egal, ob man damit den Zorn Gottes erregen würde. Das nennt sich Bigotterie. Im Hintergrund waren mit dunkler Gaze dezent beleuchtete Logen abgeteilt. Es waren die Wohnstätten der einzelnen Protagonisten. Darin tat man, was man charakteristischerweise tat, jeder für sich. Das schuf Atmosphäre, ohne Salonbehaglichkeit heraufzubeschwören oder zuzulassen. Tatsächlich gelang Regisseur Andreas Seyferth mehr ein zeitgenössisches Destillat als eine opulente historische Boulevardkomödie, welches den Spaß aber keinesfalls vermissen ließ. Und Dank der wunderbaren Leistungen der Schauspieler war der durchaus lehrreiche Abend ein ebenso amüsanter.

Die kleine, sehr zerbrechlich wirkende Margrit Carls als Meropa Dawydna nahm in dieser Rolle monströse Ausmaße einer gänzlich skrupellosen und mit gewaltiger negativer Energie geladenen Intrigantin an. Ihr zur Seite Andreas Seyferth als kanzleistaubtrockener Hexenmeister in Fragen der manipulativen Dokumentengestaltung. Als Wukol Naumytsch mit clownesken Zügen zauberte er für jeden noch so unlösbaren gordischen Knoten ein papiernes Schwert hervor. Willig und devot, erfahren in jedem buchhalterischen Sündenfall, blieb er auch im großen Finale ein Überlebender. Dieses Finale dominierte Sebastian Kalhammer, alias Wassili Iwanytsch Berkutow, ein „Wolf“ von den Schauplätzen dieser Welt, auf denen die wirklichen Schlachten ausgefochten werden. Kalt, glatt und eloquent, hinter modischer Sonnenbrille, kaltglänzendem Anzug und geschliffener Rhetorik verschanzt, verschlang er den ganzen intriganten Haufen mühelos. Und als er am Ende sein Resümee zog, dem alle mehr oder weniger zähneknirschend zustimmen mussten, schmückte ihn zudem auch noch die schöne junge Witwe Jewlampia Nikolajewna. Die zuvor agile und lebenslustige Anna Veit verlieh ihr am Ende einen zarten Hauch Wehmut über die verlorene Freiheit, tröstete sich allerdings schnell mit einem probaten Mittel: Shopping. Weit peinvoller zeichnete sich die Zukunft von Michail Borissowitsch am Horizont ab. Der reiche ehrenamtliche Friedensrichter, dessen oberstes Gebot immer seine Freiheit gewesen war, um seiner Faulheit und seiner Indolenz hemmungslos frönen zu können, Hubert Bail gestaltete diese Rolle mehr als würdig, wurde jetzt von einer gnadenlosen Glafira Alexejewna am Nasenring durch das (Ehe-) Leben geführt. Yasmin Ott verlieh dieser Rolle unwiderstehlichen Charme in der Phase der Eroberung und Bösartigkeit nach dem Sieg.

Alexander Eliasberg schrieb in seiner „Russische Literaturgeschichte in Einzelporträts“ sehr zutreffend: „Ostrowski war Anhänger des reinsten Realismus und jeder gewollten Tendenz abhold. Selbst seine negativen Gestalten haben immer auch etwas Menschlich-Positives, und man findet bei ihm weder absolute Schurken noch absolute Heilige.“ Anders können wohl Komödienhelden kaum überzeugen. Eliasberg gestand Alexander Nikolajewitsch Ostrowski zu, der wichtigste Dramatiker in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewesen zu sein, sprach ihm aber literarisch den höchsten Rang ab. Auch damit mag er wohl Recht haben. Ungeachtet dessen bewies aber die Inszenierung im Theater Viel Lärm um Nichts in der Pasinger Fabrik, dass Ostrowskis Komödien nicht nur spielbar und hochaktuell sind, sondern dass sie in gelungenen Inszenierungen durchaus über zeitgenössische Entwürfe hinausgelangen. Ach übrigens: Wo sind eigentlich die guten Komödien unserer Zeit?

Wolf Banitzki

 


Wölfe und Schafe

Eine bestialische Komödie
von Alexander Nikolajewitsch Ostrowski

Hubert Bail, Margrit Carls, Denis Fink, Walter von Hauff, Yasmin Ott, Sebastian Kalhammer, Anna Veit, Alexander Wagner

Regie: Andreas Seyferth

Theater Viel Lärm um Nichts Die Nashörner von Eugène Ionesco


 

Wir sind die Herde

Eine Stadt ist in Auflösung begriffen. Es geschah an einem Sonntagvormittag. Behringer, ein zurückhaltender, schüchterner Verlagsmitarbeiter mit einem deutlich sichtbaren Alkoholproblem, muss eine Standpauke von seinem Freund Hans über sich ergehen lassen, als plötzlich ein Nashorn die Straße entlang galoppiert und die verblüfften Bewohner in einer Staubwolke zurücklässt. Und noch einmal. Man diskutiert, ob es sich um zwei oder ein und dasselbe Nashorn gehandelt hat und ob es mit einem oder zwei Hörnern ausgestattet war. Am nächsten Tag wird das Problem in der Verlagsredaktion ausgiebig diskutiert, vorerst ohne Ergebnis, doch dann taucht Frau Ochs auf, um ihren Mann zu entschuldigen, der angeblich mit einer leichten Grippe auswärts weilt. Dann jedoch ertönt unvermittelt ein dumpfes Schnaufen vor dem Redaktionsgebäude und Frau Ochs erkennt in dem Nashorn, das den Treppenaufgang zur Redaktion gründlich ruiniert, zweifelsfrei ihren Mann.

Als Behringer am nächsten Tag seinen Freund Hans besucht, muss er die seltsame Verwandlung des Menschen in ein Nashorn miterleben. Entsetzt und verängstigt, derselben Epidemie zu erliegen, verkriecht er sich in seiner Wohnung. Als ihn der Kollege Stech besucht, erfährt er, dass sich sämtliche Kollegen der ominösen Verwandlung ergeben haben. Auch bei Stech machen sich bereits die Symptome bemerkbar. Zurück bleiben Behringer und die Sekretärin Daisy, der er in dieser Ausnahmesituation endlich seine Liebe erklären kann. Doch auch Daisy spürt das animalisch-wollüstige Gefühl, sich in einen gewaltigen Dickhäuter verwandeln zu wollen. Behringer bleibt standhaft. So ist er der letzte, der menschlichen Spezies, unbeugsam und entschlossen…

Eugène Ionescos Geniestreich über einen virulenten Massenwahn entstand nur ein dutzend Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der auch und vor allem möglich war, weil ein ganzes Volk einer Idee verfiel, für die Ionescos „Rhinozeritis“ stellvertretend stehen könnte. Der rumänisch-französische Dramatiker schuf mit seinem Drama gleichsam ein zeitloses Stück. Er beschrieb auf treffliche Weise, dass es der menschlichen Natur eigen ist, sich wahnhaften Ideen willig zu ergeben. Der Mensch sucht die Gemeinschaft, in der er sich selbst fühlt und in der er ausleben kann, was ihm durch die herrschenden gesellschaftlichen Konventionen versagt bleibt, in der er schlichtweg unter Verzicht auf seinen individuellen Willen im allgemeinen und verbindenden Gefühl aufgehen kann. Voraussetzung ist zumeist ein selbstentfremdeter, vom Gesetz disziplinierter und häufig frustrierter Mensch. Durch eine wahnhafte Idee von der Selbstkontrolle enthoben, bricht es dann aus ihm heraus. Je animalischer, umso besser; je fanatischer, umso hingebungsvoller bringt er sich ein. Ein Nashorn ist dafür eine geradezu ideale Existenz: keine natürlichen Feinde, enorm kraftvoll, mit imposanter Erscheinung und mit einem undurchdringlichen Panzer ist man quasi unverletzbar. Dann ist Schluss mit den alltäglichen Demütigungen, als die man die eigenen Bedeutungslosigkeit empfindet, Schluss mit der devoten Unterordnung, die so schmerzt, weil man sich doch zu Höherem berufen fühlt. Also ergibt man sich willig. Und in der Herde geht man auf als Teil eines (unüberwindlichen) Ganzen. Ionescos Stücke sind Theater des Absurden und sie beschreiben auf absurde Weise eine Realität, die allenthalben existiert und von uns gar nicht als so absurd empfunden wird.  

 
  Die-Nashoerner  
 

v.l.: Alexander Wagner ( Herr mit Fliege ) ,Marion Niederländer ( Hausfrau)  , Melda Hazirci ( Daisy ), Sven Schöcker ( der Ladenbesitzer ), Sebastian Krawczynski ( Hans )

© Hilda Lobinger

 

 

Andreas Seyferth brachte „Die Nashörner“ im Theater Viel Lärm um Nichts auf die Bühne. Die Bilder der Inszenierung von „Die Stühle“ noch vor Augen, muss dem Regisseur ein Händchen für das Theater des Absurden bescheinigt werden. Dabei überrascht Seyferth mit jeder Inszenierung aufs Neue, denn seine Ästhetik folgt keinem bewährten Rezept. Für „Die Nashörner“  schuf ihm Peter Schultze ein weitestgehend virtuelles Bühnenbild. Einige Caféhaustische waren auf der Spielfläche angeordnet, die von drei Gazevorhängen begrenzt war. Als das Spiel begann, entstand vor den Augen der Zuschauer eine in Comicmanier gezeichnete Kulisse. Diese änderte sich jeweils mit dem Handlungsort. Es war ein bezaubernder Einfall, der nichts zu wünschen übrig ließ. In einem gezeichneten Fernseher ließen sich sogar „Tagesschau“-Nachrichten verfolgen, in denen auch die „Rhinozeritis“ zur Sprache kam und in denen von der Ratlosigkeit der Regierung gesprochen wurde. Ratlosigkeit – man kann sie inzwischen als eine der Grundeigenschaften von aktueller Politik bezeichnen.

Die Rolle des Behringer spielte sehr überzeugend und facettenreich Philipp Weiche. Sein Outfit war ziemlich ruiniert, hatte in den nächtlichen Kneipentouren stark gelitten. Die anderen Figuren agierten indes in Anzügen mit leuchtenden Farben, die sich deutlich voneinander unterschieden. Es war die Zeit, in der Individualität noch unangefochten war. Melda Hazirci machte als Daisy in einem leuchtend roten Kleid eine wunderbar anzuschauende Figur. Geleckt und gelackt stolzierten die Bürger der Stadt einher und philosophierten, wie Chris Mancin als Logiker (des Absurden), einem wissbegierigen Herrn mit Fliege, gespielt von Alxander Wagner, die blödsinnigsten Syllogismen erklärend. Sven Schöckers Herr Stech war der unerschütterlichen Überzeugung, dass sich am Ende doch alles stets zum Besten wenden würde: "Es wird vorbeigehen." Widerspruch erfuhr er allerdings von der beflissen-hysterischen Frau Wisser. Marion Niederländers Spiel erinnerte an die Bissigkeit eine Terriers. Sebastian Krawczynski warf seine propere Körperlichkeit in die Waagschale und vermittelte als Hans durchaus anschaulich die Verwandlung eines Menschen in ein Nashorn. Dabei toppte er die verstörenden und bedrohlichen Klänge Kai Taschner (Klangdesign) mit seinen stimmlichen Metamorphosen.

Andreas Seyferth inszenierte klar und gradlinig, auf den Text und die Fähigkeiten seiner Darsteller vertrauend, ohne überflüssiges Beiwerk. Die Selbstverständlichkeit, mit der Absurdes auf der Bühne als Realität verbreitet wurde, machte unmissverständlich deutlich, wie absurd die Realität ist, wenn man diese nur zu schauen vermag. Die fast zwei Stunden vergingen wie im Flug und ließen keine Fragen offen. Auch diese Arbeit war, wie schon „Die Stühle“, wenn auch gänzlich anders, so doch gelungen und bewies einmal mehr, dass Ionesco auch als Klassiker der Moderne brandaktuell sein kann. Immerhin unterstellt man den Klassikern allzu häufig durchschlagende Wirkungslosigkeit. Wenn im Theater Viel Lärm um Nichts der verzweifelt und lautstark opponierende Behringer von Unmengen Nashörnern umzingelt ist, heißt das nichts anderes, als dass die Nashörner wieder auf dem Vormarsch sind. Man muss sie nur sehen können. Denn Nashörner sind in diesem Kontext ein Ausdruck für Totalitarismus, der stets auf der Lauer liegt. Er ist omnipräsent und marschiert, heißt auch Monopol oder Freihandelsabkommen, Facebook oder Shitstorm, Pegida oder Religionskampf, Fußball oder Datenspeicherung. Wenn man ganz still ist, kann man sie atmen hören …

 

Wolf Banitzki

 


Die Nashörner

von Eugène Ionesco

Melda Hazirci, Sebastian Krawczynski, Chris Mancin, Marion Niederländer, Sven Schöcker, Alxander Wagner, Philipp Weiche

Regie: Andreas Seyferth

Theater Viel Lärm um Nichts Mei Fähr Lady von Joseph Berlinger


 

 

„Lecker“, geht gar nicht! - "Basst scho!"

Die Chinesin Mei Ding putzt eigentlich ganz gerne, doch die Arbeit im Asia-Shop ihres Bruders beginnt sie zu langweilen. Immer wieder zieht es sie zum Wasser, zur Donau. Dort entdeckt die aus Shanghai stammende Frau ihre eigentliche Leidenschaft. Sie würde gern eine Fähre betreiben, Einheimische und Touristen über den Fluss setzen. Eine kleine Fähre wäre sogar vakant, doch der Kauf ist mit einer Bedingung verknüpft: Die Fährfrau muss perfektes Bairisch sprechen. Also besucht sie einen (Crash-) Kurs beim bairischen Dialektpapst Professor Ludwig Zehetner. Der Mann ist keine Erfindung des Autors, Regisseurs und Bühnenbildners Joseph Berlinger, sondern ein gestandener Professor und Autor des populären dreibändigen Standardwerks "Basst scho!"

Mei Ding ist nicht die einzige Lernende. Ihr gesellt sich der gediegene Manager Striede hinzu, der ein Bauernhaus in ländlicher Umgebung erworben hat und nun um gute Nachbarschaft mit den Eingeborenen buhlt. Dabei gilt es erst einmal, die Sprachbarriere zu überwinden. Der dritte lernwillige Geselle ist ein „reifer“ französischer Rapper, gerade aus Paris zugezogen, der sich in eine Kellnerin verguckt (Das Wort geht auch gar nicht!) hat, jedoch keinen Draht zu ihr findet. Die Dame hat deutliche Vorbehalte gegen Ausländer, was für den Herrn Boulanger nicht nachvollziehbar ist, denn schließlich ist er ja gar kein Ausländer. Er ist Franzose! Während sich die beiden Herren, beeindruckend differenziert von Titus Horst gespielt, schwertun mit dem Erlernen des „schönsten Dialekts“ des Landes, macht Mei Ding rasante Fortschritte. Auch nach einem knappen Jahr kommt es zwischen dem Manager Striede und seinen Nachbarn zu gravierenden Missverständnissen. Der französische Rapper Boulanger verliert seine angebetete Kellnerin angesichts der zur wahren Bayerin mutierenden Mei Ding im Dirndl (von Norma) schließlich und naturgemäß aus den Augen. So kann das Leben spielen.

Eva Sixt als Mei Ding wird den Zuschauern noch lange in Erinnerung bleiben mit ihrer silberfarbenen Perücke und im Billigdirndl gewandet. Immer wieder gab es Szenenapplaus, denn Frau Sixt sprach bairisch, aber mit chinesischer Sprachmelodie. Als (Sau-) Preiß war es für mich schwer zu unterscheiden, worin die faszinierendere Leistung bestand. Der Abend war keine Theaterveranstaltung im üblichen Sinn. Zwar fanden immer wieder witzige Szenen mit den eigenwilligen Schülern und dem Herrn Professor statt, doch diese rahmten eigentlich nur einen sehr gründlichen und überaus interessanten Exkurs über die wahrlich zungenbrecherische Sprache.

Ludwig Zehetner wusste Kurioses über die Sprache, ihre Entstehung und ihre Mutationen zu berichten. Dinge, die selbst einem Nichtbayern durchaus bekannt sind, wie zum Beispiel der Spruch: Barthel weiß, wo er den Most holt, entpuppte sich zumindest für mich als ein gravierendes Missverständnis. Etymologie kann spannend wie ein Krimi sein, insbesondere wenn wir uns eingestehen müssen, wie sehr wir häufig im Verständnis von einem Wort oder einer Redewendung daneben liegen. Überraschend ist auch die Vielzahl von Lehnwörtern aus dem Englischen und dem Französischen. Sosehr „Hinterwald“ kann Bayern also nie gewesen sein. Man lernt bereits zu Beginn des Abends, was gar nicht geht, zum Beispiel „lecker“. Hat man aber doch einmal den Zorn der Eingeborenen mit seiner Unkenntnis erregt, gibt es eine Zauberformel, die stets versöhnlich stimmt: "Basst scho!" Wer also in Bayern überleben will, kommt an der Sprache der Einheimischen auf Dauer nicht vorbei. Wenn gar nichts mehr geht auf dem Lande, bleibt allerdings immer noch der Umzug nach München. Da reicht Englisch.

Fraglos ist diese Sprache eine echte Hürde für den, der neben den üblichen Fremdsprachen nichts anderes kann als Hochdeutsch. In der mehr als zweistündigen Vorstellung (eine Pause) wurden schließlich auch Sätze, nicht unbedingt sinnvollen Inhalts, auf eine Leinwand projiziert. Unkundige (wie ich) hätten jede Wette verloren, dass diese scheinbar sinnlosen Vokalanhäufungen überhaupt einen Sinn haben könnten. Weit gefehlt. Gesprochen klangen diese Sätze schließlich wie Gedichte von Ernst Jandl, dem Großmeister der onomatopoetischen Dichtung.

Joseph Berlingers theatralisch in Szene gesetzte Vorlesung von Ludwig Zehetner hatte echten Unterhaltungswert und komödiantische Momente. Darüber hinaus war der Abend ein bewegendes Plädoyer nicht nur für bayerische Dialekte und die Schönheit mundartlicher Sprache schlechthin. Zehetner beendete den Abend nicht ohne den deutlichen Hinweis, dass Dialekte in der heutigen Kommunikationsgesellschaft bedrohte Kulturen sind. Wer auch immer Freude an Sprache und insbesondere an mundartlicher hat, sollte sich diese Aufführung im Theater Viel Lärm um Nichts in der Pasinger Fabrik keinesfalls entgehen lassen. Theater sollte immer horizonterweiternd sein. In diesem Fall steht der Sprachwissenschaftler Prof. Ludwig Zehetner mit seiner eigenen Person dafür ein.

 

Wolf Banitzki

 

Weitere Termine: 10. / 11. / 16. / 17. / 23. / 24. / 25. / 30. / 31. Oktober 2014

 


Mei Fähr Lady
Der Bairisch-Crashkurs mit Prof. Zehetner
Ein Gastspiel des TURMTHEATER REGENSBURG

von Joseph Berlinger

Mit: Ludwig Zehetner, Eva Sixt, Titus Horst
Stimme der Sekretärin: Alba Falchi
In den Videotracks: Werner Rösch, Josef Ettl, Hans Steinberger, Jürgen Wiss, Eva Schmidbauer, Evi Steinberger

Regie: Joseph Berlinger

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