Volkstheater Die Jungfrau von Orleans nach Friedrich Schiller




In der Talsohle der Kunst angekommen?

„Die Jungfrau von Orleans“ ist eine „romantische Tragödie“, mit der Schiller einen wesentlichen Beitrag leistete zu einer Reihe von Dramen, die den Prinzipien einer „hohen rührenden Gattung“ verpflichtet waren. Diese Klassifizierung kann bei vielen modernen Menschen ein Schaudern auslösen, insbesondere, wenn man sich die Tatsache bewusst macht, dass eben dieses Drama auf „mystisch-religösem“ Fundament ruht. Gottes- oder wie in diesem Fall „Marienerscheinungen“ taugen heute für esoterische Wochenblättchen oder vielleicht auch für die Bild-Zeitung, die sich ja bekanntlich auf jeden Schwachsinn stürzt. Doch bei näherer Betrachtung kommt man nicht umhin, einzusehen, dass es dem Pantheisten Schiller keineswegs um religiöse Läuterung ging. Wie in vielen guten Werken, diente dieser Ansatz auch hier lediglich einer Dramaturgie, die menschliche Verhaltensweisen, Leidenschaften oder Konflikte bloßlegt und spielbar macht.

Dabei sollte natürlich auch der historische Kontext nicht außer Acht gelassen werden, in dem das Drama entstand. In der historisch nicht genau belegten Vorlage hatte Johanna drei Tage nacheinander Marienerscheinungen, in denen ihr die Pflicht auferlegt wurde, auf jedes private Gefühl zu verzichten, um einem höheren Zweck, der Befreiung Frankreichs von der englischen Okkupation, zu dienen. Doch im Verlauf der Handlung, in der Johanna die französischen Truppen von einem Sieg zum nächsten führte, geriet ihr der Engländer Lionel vor die Klinge. Nachdem sie sein Gesicht ‚geschaut’ hatte, verliebte sie sich und verhalf ihm zur Flucht. Ein gewaltiger innerer Kampf tobte in Johanna, die jetzt plötzlich ein liebendes Weib war und abtrünnig wurde von ihrer göttlichen Berufung. Allein dieser Konflikt könnte abendfüllend sein. Doch Schiller wäre nicht Schiller, hätte er nicht das weite Feld von Politik und nationaler Identität beackert. Ihm ging es um das Pflanzen von nationaler Verbundenheit gegen die napoleonische Unterwerfung der deutschen Kleinstaaten mit dem Ziel einer deutschen Nation. Zuletzt wurde die kriegerische Jungfrau Opfer politischer Machenschaften und spätestens an dieser Stelle wurde das Drama höchst aktuell.

Also hätte man sich eigentlich auf den Abend im Volkstheater freuen können, hätte gespannt sein können auf die Lesart eines jungen Regisseurs und wie es ihm gelingen würde, ein zweihundert Jahre altes zeitloses (mythenhaftes und darum hochpotentes) Drama aufzuheben, neu zu bewanden und zeitgenössisch zu interpretieren. Simon Solberg zeichnete neben der Regie auch für das Bühnenbild verantwortlich, das dem Betrachter eingangs einen Dschungel anbot. Aus diesem trat Jan Viethen in der Rolle des Dunois, entkleidete sich gänzlich, kokettierte mit seiner Nacktheit und stülpte sich ein Baströckchen über: ‚Liebe Neger, wir sind uns darin einig, dass eine derartige Darstellung von „Negern“ politisch nicht korrekt ist! Aber wir, die wir uns hier versammelt haben, wissen doch, dass es sich um das Persiflieren von uralten, in Fleisch und Blut übergegangenen Vorurteilen handelt. Darum müssen wir, eine aufgeklärte Theatergemeinde, politisch nicht korrekt sein.’


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Kristina Pauls, Jean-Luc Bubert

© Arno Declair


Hoppla! Ist das wirklich so? Und warum sind wir plötzlich bei einem afrikanischen Stamm gelandet? Das Programmheft gibt Auskunft: In diesem Drama geht es um Kolonialismus und konkret um die Ausbeutung Nigerias durch multinationale Ölkonzerne, insbesondere durch die Royal Dutch Shell Group. Da staunt der Laie und der Fachmann wundert sich! Das war selbst dem Kühnsten noch nicht aufgefallen, dass in diesem Schiller-Stück Kolonialismus verhandelt wird. Aber aufgemerkt: Es liegt auf der Hand, wurde doch das Land 1861 durch England kolonisiert. Da ist es auch ein Leichtes, Orleans und den französischen Adel in die zersplitterten Königreiche des vorkolonialen Nigeria zu verpflanzen. Wir wollen uns an dieser Stelle nicht von der Tatsache verwirren lassen, dass es sich um den „Hundertjähriger Krieg“ (1337 und 1453) handelte, in dem ein englisch-französischer Konflikt um die Thronfolge ausgefochten wurde. Die Kolonisierung außereuropäischer Gebiete hatte zwar noch nicht begonnen, aber aus der Theaterperspektive betrachtet sind „wilde Neger“ schließlich lustiger als gebildete und kultivierte Franzosen.

Alle diese Ungereimtheiten wurden auch nicht glaubhafter, als die ‚heilige’ Johanna auf der Bildfläche erschien. Kristina Pauls fiel als eine gehetzte schwert- und fäusteschwingende Manga-Prinzessin ein, dürftige Sprechblasen absondernd, deren Inhalte weitestgehend unverständlich blieben, da sie in ihrer Atemlosigkeit nicht Text verschleuderte, sondern große, asthmatisch anmutende Gefühle. Da wurde geschnauft und gequetscht, unterbrochen von Kung-Fu und Prügelkaskaden. Wäre Chuck Norris über die Bühne gegeistert, niemand hätte Anstoß daran genommen, denn die Ästhetik amerikanischer Action-Filme war unübersehbar. Die Männer, bei Schiller gefürchtete Kriegshelden, zelebrierten Runnig-Gags und Blödheiten, wie man sie nur auf dem untersten Level in den Comedy-Sendungen des Privatfernsehens findet. Kaum ein Satz ging über die Bühne, der nicht totgeblödelt wurde. Es war erstaunlich, wie viele physische und materielle Anstrengungen es kosten kann, so schlechtes Theater zu produzieren. Diese Inszenierung hat gewollt oder ungewollt die Intelligenz des Betrachters beleidigt.

Wozu bedurfte es eigentlich Schillers, wenn die Geschichte so wenig mit der klassischen Vorlage zu tun hatte? (In der Titulierung „nach Schiller“ kommt Schiller unbestritten vor.) Diese Frage kann nur spekulativ beantwortet werden. Hier hat sich vermutlich ein junger Regisseur hinter einer Autorität verschanzt, die allein durch Name und Titel künstlerische Seriosität verspricht. Es wird momentan in der Öffentlichkeit sehr viel über Missbrauch gesprochen; dieses Wort würde ich in Bezug auf die Volkstheaterinszenierung gleichfalls ins Spiel bringen. Schiller war es, der im Zusammenhang mit dem Theater von einer „moralischen Anstalt“ sprach. Theater war und ist eine Bildungseinrichtung! Diesen Gedanken hat Regisseur Simon Solberg schändlichst verraten. Wenn bittere Wahrheiten nur noch lustig sind, zeitigen sie keine moralische Entrüstung mehr. Nigeria ins Spiel zu bringen, ist dabei höchst verwerflich, da es um das Leid von Millionen Menschen geht. Das fleischgewordene Ergebnis schnappte ich beim Verlassen des Theaters auf. Eine Frau sagte zu ihrem Begleiter: „War doch schön, oder? War doch lustig.“

Nein, ganz im Gegenteil: Diese Inszenierung markiert leider einen künstlerischen Tiefpunkt in der beachtlichen Tradition des Volkstheaters. In dieser Talsohle der Kunst angekommen, bleibt nur zu hoffen, dass sich wieder Gipfel auftun werden.



Wolf Banitzki

 

 


Die Jungfrau von Orleans

nach Friedrich Schiller

Jean-Luc Bubert, Pascal Fligg, Justin Mühlenhardt, Kristina Pauls, Stefan Ruppe, Robin Sondermann, Jan Viethen

Regie: Simon Solberg

Volksheater I Hired a Contract Killer nach Aki Kaurismäki



Lakonischer Großstadtblues

Wenn dereinst in fünfzig Jahren die Filmgeschichte geschrieben ist, werden die so genannten Blockbuster-Regisseure wie z.B. James Cameron nur marginal erwähnt werden. Sie werden in der Historie wegen ihrer technischen Innovationen und der überdimensionalen (un-menschlichen Formate) Eingang ins Erinnern finden. Ihre Geschichten, soweit es sich überhaupt um solche handelt, werden längst dem Vergessen anheim gefallen sein. Statt ihrer werden Namen aufgelistet wie Jim Jarmusch, Roberto Beghini, Emir Kusturica, Lars von Trier, Thomas Vinterberg und Aki Kaurismäki. Sie sind es, die die Entwicklung der Filmkunst befördert und nachhaltig durch ihre außergewöhnliche Ästhetik und ihre zutiefst menschlichen Geschichten beeinflusst haben. Es ist gar nicht verwunderlich, dass eben diese Männer sich untereinander gut kennen und sogar eng befreundet sind. Es gibt etwas, das sie in ihrem künstlerischen Anspruch eint, nämlich die konsequente Verweigerung gegenüber Hollywood und jeglichem Mainstream. Kluge Schauspieler wie Jonny Depp, Harvey Keitel, Forest Whitaker, Willem Dafoe und Isabella Rossellini haben das erkannt und dürften sich glücklich schätzen, gemeinsam mit diesen Regisseuren in die Annalen der Filmgeschichte einzugehen. Neben der außergewöhnlichen Ästhetik, sind es aber zuerst die grandiosen menschlichen Geschichten, die diese Regisseure erzählen und so verwundert es nicht, dass auch das Theater nach diesen Vorlagen greift.

Kaurismäkis “I Hired a Contract Killer” hat sich inzwischen in den Theaterspielplänen weltweit etabliert. Allein in München taucht dieses Stück bereits zum zweiten Mal in 10 Jahren auf (Metropoltheater 2001). Aber auch Lars von Triers „Dogville“ und „Manderlay“ und Thomas Vinterbergs „Fest“ (Metropoltheater und Volkstheater) wurden vom Publikum dankend angenommen. Warum? Diese Frage ist recht einfach zu beantworten: Diese Stücke haben uns etwas Substanzielles über das menschliche Wesen an sich und im besonderen mitzuteilen. Im Fall Kaurismäki liegt das im Wesentlichen an der radikalen Reduktion des Menschen im Kunstwerk auf sich selbst. Da bedarf es keinerlei Brimborium, um die Figuren interessant zu machen. Und eben diese Kargheit der Mittel ist das Wirkprinzip in den Filmen des Finnen. Ein Segen für das Theater? Gewiss, wenn da nicht die filmischen Vorlagen wären …

Regisseurin Bettina Bruinier gab vor, die filmische Vorlage nicht zu kennen. Das erwies sich vielleicht als die beste Voraussetzung, denn es ist ungleich schwerer, mit dem hochgradig suggestiven Film im Bewusstsein eine eigene Ästhetik zu entwickeln. Es war Bettina Bruiniers vierte Arbeit am Münchner Volkstheater und wie mit den drei vorangegangenen Inszenierungen enttäuschte sie auch mit der Kaurismäki-Adaption nicht.

Erzählt wird die Geschichte des gerade bei den Londoner Wasserwerken entlassenen Franzosen Henri Boulanger. Ohne jegliche soziale Kontakte und einzig auf seine Arbeit fokussiert, sieht er keinen Sinn mehr in seinem Leben. Seine Selbstmordversuche scheitern auf skurrile Weise und so entschließt er sich, einen Auftragsmörder zu engagieren, der ihn schnell und schmerzlos ins Jenseits befördern soll. Befreit von der eigenen Zwanghaftigkeit, wendet sich Henri, für den das Warten auf den Tod ziemlich nervenaufreibend ist, dem Leben und dem Whisky zu und begegnet der Liebe in der Person der Rosenverkäuferin Margaret. Nun, da das Dasein wieder einen Sinn hat, möchte er den Auftrag annullieren. Doch das gelingt nicht und so beginnt eine skurrile Flucht vor dem scheinbar Unausweichlichen. Allein, der Auftragmörder hat ein eigenes schwerwiegendes Problem und am Ende …

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Pascal Fligg, Jean-Luc Bubert

© Arno Declair


Markus Kraner hatte auf der Bühne einen Großstadtdschungel geschaffen. Zahllose Häuserwürfel suggerierten eine gesichtslose Vorstadt, durch die sich auf ausgetretenen Pfaden das Leben schlängelte. Monotonie in Architektur und Bewegungsabläufen verkürzte das Leben auf ein reines sinn- und emotionsloses Funktionieren. Das Dasein, eigentlich ein Geschenk, war zur unerträglichen Last verkommen. Da der Text des gesamten Dramas wohl auf einer handvoll Seiten Platz hat, inszenierte Bettina Bruinier ein Bewegungstheater, über das atmosphärische Musik gelegt war. Oliver Urbanski schuf dafür einen facettenreichen lakonischen Großstadtblues, der live eingespielt wurde.

So grotesk der Kaurismäki-Film auch anmuten mag, Bettina Bruinier setzte ihm noch einmal die Krone auf. Die Darsteller agierten in skurril überzeichnenden Posen, entwickelten eine erstaunlich komische Körperlichkeit und sparten nicht mit gestischen Gags, ohne dabei vom Thema abzuweichen. Die kafkaeske Szenerie, die meisten Darsteller waren in grauenhaftem Grau bis Schwarz gewandet, wurde lediglich durch die Welt der Kriminellen und Halbkriminellen mit schrillen Farben zersetzt. (Kostüme: Justina Klimczyk)

Pascal Fligg gab einen Henri Boulanger, der selbst im Angesicht des bevorstehenden Todes nicht vergaß, an der Wohnungstür die Schuhe abzuputzen. Darsteller Fligg vermittelte glaubhaft, welche übermenschlichen Kräfte sein Henri aufwenden musste, um lebendig zu sein. Jean-Luc Buberts Auftragsmörder streifte schwarzgewandet mit rauer, komisch-furchteinflößender Stimme somnambul wie Fritz Langs „Der müde Tod“ durch die Szenerie. Barbara Romaner irrlichterte als Margaret mädchenhaft im Großstadtdschungel auf den Schwingen der Liebe herum, ganz und gar dem Prinzip Hoffnung verbunden. Am stärksten überzeichnet waren jedoch die Rollen Robin Sondermanns als Abteilungsleiter, Chef der Killer und am Ende als Betreiber eines französischen Fast-Food-Restaurants, was ja schon einen Widerspruch in sich darstellt.

Die erstaunliche ästhetische Botschaft Bettina Bruiniers bestand an diesem Abend ganz sicher auch in der Wirkung einer exzellenten Pausenchoreografie, im Innehalten und in der schlichten Präsenz von Figuren, die sich allein durch ihr sprachloses Dasein definierten. Dadurch entstand viel Raum für die Fantasie des Betrachters. Diese hochartifizielle und intelligente, szenisch immer wieder überraschende Inszenierung braucht den Vergleich mit dem Film nicht zu scheuen. Hier wurde nicht versucht zu kopieren, sondern eine bühnengerechte und eigenständige Erzählweise entwickelt.

Wolf Banitzki



I Hired a Contract Killer

nach dem Film von Aki Kaurismäki

Jean-Luc Bubert, Pascal Fligg, Barbara Romaner, Stefan Ruppe, Robin Sondermann, Xenia Tiling

Regie: Bettina Bruinier

Volkstheater Hamlet von William Shakespeare


 


Hamlet robust

Die Ankündigung des „Hamlet“ elektrisiert die Theatergänger einer Stadt und die Erwartungen sind groß, zu groß, angesichts der Bedeutung dieses Stückes dramatischer Literatur, das seit vierhundert Jahren nicht nur mit dem künstlerischen Denken und Empfinden verschwägert ist. Das Stück ist in seiner Bedeutung längst über den Rang eines Kunstwerkes hinausgelangt. Und von Mal zu Mal wird die Bedeutung gesteigert, wird versucht, das Letzte, das es bei diesem Stück nie geben wird, herauszulocken. Dessen sollte sich jeder Regisseur, der den Versuch wagt, bewusst sein. „Hamlet“ ist kein Stück, mit dem man sich profilieren kann. Mit „Hamlet“ kann man nur bestehen oder durchfallen, denn der Shakespearesche Text wird immer größer sein als jeder Versuch, inszenatorisch über ihn hinaus zu gelangen.

So war es zu allen Zeiten immer ein probates, weil sicheres Mittel, den Text spielen zu lassen und nicht den Text zu spielen. Und genau das machte Regisseur Christian Stückl am Volkstheater nicht. Er reduzierte die Personage der tragenden Rollen um die Hälfte, ließ „Herren und Frauen vom Hofe, Offiziere, Soldaten, Schauspieler, Matrosen, Boten und anderes Gefolge“ gänzlich außen vor. Zugegeben, der Text reichte, würde man ihn sich selbst spielen lassen, problemlos für fünf Stunden. Was allerdings nicht bedeutet, dass das Spiel darum langatmig werden würde. Dazu ist das Drama zu komplex, zu vielschichtig und zu schön. Sei es drum, vermutlich hätte die Hingabebereitschaft der heutigen Zuschauer dafür nicht gereicht. In einer Welt der schnellen Bilder, der flinken Informationen, der sprechblasenhaften Kunstgenüsse scheint eine derartige Verkürzung angebracht, wenn denn das Stück erhalten bleibt.

War das auch wirklich zutreffend? Bereits beim Lesen des Programmheftes kommen Zweifel auf. Darin findet sich einzig ein Essay von H.D.F. Kitto, der überschrieben ist mit: „Das Problem des Hamlet“. Dieser Essay beschäftigt sich mit historischen Interpretationsansätzen, ausgedünstet in staubigen Studierzimmern, und setzt einen vermeintlich neuen dagegen. Es wird die Frage aufgeworfen, in wie weit Hamlet für seine Taten, es sterben immerhin acht Menschen, verantwortlich gemacht werden kann und muss. Diese typisch bürgerliche Sicht auf das „Problem“, wie es genannt wird, kann der Dimension des Stückes nicht gerecht werden. Es ist kein Stück über die Psyche eines Einzelnen und die daraus folgernden Katastrophen, sondern es ist einheitlich ein psychologisches und ein politisches Stück, zu allen Zeiten zeitgemäß. Schon die Bezeichnung des Plots als „Problem“ verrät einen Tunnelblick. Richtig wäre es, von der „Strategie des Hamlets“ zu sprechen. Das würde in jedem Fall den Raum für Interpretation entgrenzen.

Natürlich ist Hamlet in seiner Persönlichkeitsstruktur ebenso komplex und differenziert, wie die um ihn herum existierenden gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse. Um korrekt zu sein, sind Letztere es natürlich nicht ganz so, denn Politik ist nicht selten banal, durchschaubar und stupid. Aber genau diese Hamletsche Psyche macht das Drama so spannend und so potent. Wer in die Literaturgeschichte schaut, wird feststellen, dass das Prinzip des vermeintlichen Verrücktseins, verrückt aus der Realität und ihren Gesetzen, von mehr als einem Dichter benutzt wurde, um dem tatsächlichen Wahnsinn von Macht und Politik entgegen treten zu können. Wie anders, als eine Strategie des Aufbegehrens kann der Wahnsinn eines Don Quijote bezeichnet werden. Zugegeben, dessen Psyche trug pathologischen Züge, nicht aber die des Autors Miguel de Cervantes Saavedra. Oder betrachte man einmal den „Ulenspiegel“ von Charles de Coster, der übrigens in München das Licht der Welt erblickte. Die Macht dieses Tricks rettete vielleicht sogar Hölderlin das Leben, der, nachdem ihm Wahnsinn attestiert wurde und er dadurch einer Strafverfolgung entging, seiner Mutter mitteilte, dass die Dinge nicht immer so sind, wie sie scheinen. Nachgewiesener Maßen hatte Hölderlin gerade den „Hamlet“ gelesen. Was sollen also diesen Fragen nach der Verantwortung Hamlets für sein Tun? Sie berühren den Kern der Geschichte nur peripher. Im Übrigen, er bezahlt am Ende ohnehin mit dem Tod.

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Axel Röhrle, Justin Mühlenhardt, Jean-Luc Bubert, Ursula Burkhart, Eckhard Preuß, Barbara Romaner

Michael Tregor, Friedrich Mücke

© Arno Declair

Friedrich Mücke, Robin Sondermann


Die Geschichte beginnt mit der Heimkehr Hamlets aus dem „protestantischen“ Wittenberg ins dänische Helsingör. Sein Vater ist vom Bruder Claudius ermordet worden. Claudius hat sich damit in den Besitz des Thrones und der Königin gebracht, die mit ihm das Lager teilt. Der ruhelose Geist des Vater erscheint und beauftragt Hamlet mit der Aufklärung der Tat und mit der Rache. Hamlets Strategie besteht nun darin, die Dinge durch eine ausgefeilte Polemik in einem anderen Licht erscheinen zu lassen, wodurch er den Wahrheiten immer beängstigend nahe kommt, seine Gegner damit aufschreckt und sie zum Handeln zwingt. Hamlet tötet mit eigener Hand nur eine Person, den Oberkämmerer Polonius. Er hatte allerdings gehofft, den verhassten König Claudius zu treffen. Ophelia, Tochter von Polonius, wird von Hamlet, der sie aus dem Ränkespiel heraushalten will, in den Freitod getrieben. Das ruft den Bruder Laertes auf den Plan, der sich in seinem Rachedurst in die letzte Intrige von Claudius verstricken lässt, Hamlet tötet und selbst, wie auch die Königin Gertrud, dabei den Tod findet. Hamlet, schon sterbend, reißt Claudius mit sich. Doch nicht um den Tod dieser Menschen geht es im Stück, sondern um die Wahrheitsfindung und um den tragischen Weg bis zum Endpunkt.

Alu Walters Bühnenbild war nicht nur praktisch, es war ín seiner Schlichtheit gleichsam atmosphärisch und rhythmisch. Der Bühnenraum war begrenzt durch anthrazitfarbene Wände, die den Raum dennoch nicht bedrängten, nur begrenzten. Alles war sehr korrekt angelegt und es dominierte der rechte Winkel. Im Vordergrund zwei quadratische Wasserbecken, die rege bespielt, begangen und besprungen wurden, dazwischen Rasen, Flecken mit Muttererde und nach hinten aufsteigend hölzerne Terrassen. Das Arrangement war heutig, modern und in der Unverbindlichkeit ebenso zeitlos.

Regieberserker Christian Stückl, dessen Sache nicht unbedingt das psychologische Theater ist, präsentierte mit seinem Hamlet, robust und willensstark von Friedrich Mücke gespielt, keinen grüblerischen Prinzen von intellektueller Eindringlichkeit, der die Dinge mit dem ketzerischen Wort vorantrieb, dem eigentlichen Transportmittel, sondern durch provokante und aggressive Haltungen. Immer wieder parlierte Jean-Luc Bubert voller Verdruss als König Claudius, in Haltung und Gestus plausibel, über die Bühne und bemerkte: „Ich kann ihn nicht leiden.“ Das war begreiflich, denn Mückes Hamlet  touchierte ihn, wo er nur konnte. Robin Sondermann, der den einzigen verlässlichen Freund Hamlets spielte, den Horatio, gab sich dezent, bisweilen sogar zärtlich. Als Hamlet ihm sterbend den Auftrag erteilte, die Geschichte von Mord, Verrat und Intrige in die Welt hinauszutragen, kamen Zweifel auf, ob er die Kraft dafür hätte. Barbara Romaner entsprach als Ophelia am ehesten der Vorstellung, die der Shakespearesche Text suggeriert. Jugendlich und hoffend eingangs, ging sie nachwandlerisch und ohne den Wahnsinn über Gebühr ausstellend in den Tod. Michael Tregor formte den Geist des getöteten Vaters zu einem wahrhaftigen Geist, bleich, gebrechlich und stimmlich wie aus dem Jenseits. Güldenstern und Rosenkranz (Axel Röhrle und Justin Mühlenhardt), geschmeidige Altersgenossen von Hamlet und opportunistische Genussmenschen, blieben in ihren Rollen ein wenig halbstark. Sie übernahmen allerdings auch den Part der Schauspieler im Stück „Mausefalle“, durch das König Claudius als Mörder überführt wurde. Darin boten Beide ein gelungenes Kabinettstück besten Volkstheaters, wie es Shakespeare wohl begrüßt hätte. Volkstheatralisch gab sich auch Eckhard Preuß als Polonius, bei Shakespeare ein wohltemperierter, pragmatisch handelnder Staatsmann und respektabler Herr. Preuß verwandelte diese Rolle in einen tuntenhaften Clown, der viel Applaus erntete. Zu Shakespeares Zeiten hatte man dafür die Rolle des „Pickelhering“.

Christian Stückl war bemüht, einen „Hamlet“ für Jedermann auf die Bühne zu bringen. Dabei blieb viel, vielleicht zu viel auf der Strecke, auch wenn seine Inszenierung flüssig, ansehnlich und gelegentlich auch lustig war. Allerdings ging letzteres Attribut auf Kosten der Feinsinnigkeit und Tiefe des Hamletkonfliktes und der Shakespearesprache, die immerhin hier und da aufblitzte. Das Publikum nahm es dankend an. Doch es ist Vorsicht geboten, wenn es darum geht, dem Publikum, das nie unterschätzt werden darf, zu weit entgegen zu kommen. Denn sonst endet es, wo es schon zu Shakespeares Zeiten nicht selten endete, als das Stück mit folgenden Worten auf einem Aushang angekündigt wurde: „Die erste Szene der Tragödie ist der bestrafte Brudermord. Hamlet hat den hinter der Tapete lauschenden Polonius im Zimmer der Königin niedergestochen. Der Geist schreitet über die Szene. Hamlet ist davon geloffen.“


Wolf Banitzki

 

 


Hamlet

von William Shakespeare

Jean-Luc Bubert, Ursula Maria Burkhart, Pascal Fligg, Friedrich Mücke, Justin Mühlenhardt, Barbara Romaner, Axel Röhrle, Robin Sondermann, Michael Tregor

Regie: Christian Stückl

Volkstheater Die Orestie von Aischylos




In der „Orestie“ gibt es kein Happy End

Man kann Aischylos getrost den Stammvater des modernen Theaters (inzwischen 2500 Jahre alt) nennen. Er war es, der mit seiner Tetralogie das Kultdrama in den Stand des Kunstdramas erhob und nebenbei eine Revolutionierung des Theaters einleitete. „Die Orestie“ wurde erstmals 458 v.Chr. in Athen aufgeführt. Damit schenkte er der Welt vielleicht das „Urdrama“, das über Jahrtausende hinweg in seiner Dramaturgie und in seiner abgehandelten Mythologie, Offenbarungscharakter hatte. Inhalt ist die Geschichte des fluchbeladenen Atridengeschlechts. Und wie dankten es ihm seine Zeitgenossen? Er wurde beschuldigt, die eleusischen Feste entweiht zu haben. Verbittert zog sich der Dichter, der mit dem Schwert in der Hand sein Blut für Athen vergossen hatte, nach Sizilien zurück, wo er das Wohlwollen des Tyrannen Hieron I. genoss. Soviel zum Thema Kulturpolitik und Kulturpolitiker.

Inhalt der Tetralogie ist im ersten Teil die Ermordung des aus dem Trojanischen Krieg heimkehrenden Königs Agamemnon durch die Ehefrau Klytämnestra und deren Beischläfer Aigisthos (Neffe des Agamemnon) im Palast von Argos.
Im zweiten Teil kehrt Orest, Sohn des Agamemnon nach Argos zurück und tötet in einem Akt der Blutrache, von Apollon befohlen und angestachelt von der Schwester Elektra, die Mutter Klytämnestra und Aigisthos. Daraufhin wird er von den Rachegöttinnen, den Erinnyen heimgesucht und flieht nach Delphi in den Tempel des Apollon.
Dort wird er im dritten Teil durch Apollon von seiner Tat entsühnt. Er kehrt nach Athen zurück und stellt sich einem Gericht unter Vorsitz der Athene. Apollon tritt dabei als sein Verteidiger und gleichsam als Mitverantwortlicher an dieser Bluttat auf. Die Erinnyen verteidigen Klytämnestra mit dem Argument, dass sie nicht blutsverwandt mit Agamemnon sei. (Blut war schon immer dicker als Wasser.)  Muttermord steht gegen Gattenmord, und da Athene, die dem Haupte des Zeus entsprungen, nicht von einer Mutter geboren war, wirft sie ihren Stimmstein für Orest in die Waagschale. Er wird freigesprochen und damit das Geschlecht der Atriden nicht gänzlich ausgerottet wird, verwandelt Athene die rachedürstigen Erinnyen in Eumeniden, die fortan die segensreichen Schutzgötter der Stadt Athen sind. Der Kreislauf der Blutrache, unerklärbar, aber scheinbar tief im Menschen eingeboren, wird durchbrochen, zumindest auf dem Theater.
„Aischylos beschreibt hier den Übergang vom Blutsrecht zum Staatsrecht und damit die Gründung der modernen Demokratie.“ (Werbetext des Volkstheaters)

Tatsächlich ist die Blutrache noch fester Bestandteil des individuellen Rechtsempfindens in vielen Ländern auf der Erde. Das Programmheft zitiert einen Text von C. Emcke,  der berichtet, dass in Albanien nach dem Fall der pseudokommunistischen Alleinherrschaft Enver Hodschas 1991 ca. 20 000 Menschen in Blutfehden verwickelt und ca. 9 500 durch sie zu Tode kamen. Allein diese Zahlen belegen die Brisanz des Themas und hier handelt es sich nur um ein Land.

Der Betrachter wurde beim Betreten des Zuschauerraums von der offenen Bühne empfangen. Bühnenbildnerin Monika Rovan hatte die Wände tiefschwarz streichen lassen. Die Spielfläche war mit Sand aufgefüllt. In der Mitte loderte ein Lagerfeuer, drum herum Bierkästen, Kühlbox, Campinggestühl, Utensilien eine Beachparty. Und das war auch der erste Eindruck, es wurde getanzt und geschwatzt. Ein Brechtscher Verfremdungseffekt, der den Zuschauern sagen sollte, hier seht ihr eine blutrünstige mythologische Geschichte, die von Schauspielern vorgetragen wird? Hoffentlich, denn wenn nicht, bliebe das Ganze nur ein Strandfest.


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Kristina Pauls, Jean-Luc Bubert, Mareile Blendl, Xenia Tiling, Barbara Romaner, Robin Sondermann

© Andrea Huber


Unvermittelt begann das Spiel, stark verknappt und bis zum dritten Teil lediglich die Geschichte erzählend. Die Familienverhältnisse wurden beschrieben, der Konflikt bloßgelegt, schließlich die Messer gewetzt und zugestochen. Und obgleich eine ganze Familie daranging, sich gegenseitig auszurotten, gab es etliches, was Heiterkeit erzeugte. Lag es am Publikum oder an der Inszenierung von Christine Eder? Eines sollte klar sein, über diesem Drama sollte sich, wenn überhaupt, nur ein Homerisches Lachen legen, nicht ein Lachen, das aus Comedygags gespeist wird. Christine Eder ließ kaum eine Gelegenheit aus, Momente ins Komische kippen zu lassen. Das war ein trauriger Kniefall vor dem medialen Zeitgeist.

„Die Orestie“ von Aischylos ist ein so umfassendes Werk, das problemlos eine fünfstündige Vorstellung füllen könnte. Christine Eder trieb die Darsteller in nicht einmal zwei Stunden durch die Geschichte. Wozu sich auch mit Charakteren aufhalten, ging es ihr doch lediglich um die Fabel. Das erste Mal erlangte das Spiel antike und menschliche Größe, als Barbara Romaner in der Rolle der Klytämnestra im zweiten Teil die Nachricht vom vermeintlichen Tod ihres Sohnes Orest mit einem markerschütternden Schmerzensschrei kommentierte. Bis dahin konnte sich das Publikum an den Unterhosen Jean-Luc Buberts als Agamemnon satt sehen, ein fragwürdiges Vergnügen. Und die gewannen am Ende auch wieder die Überhand, als er den Gott Apollon billig chargierend zu entthronen meinte. Mareile Blendl sprang ihm in diesem Unterfangen als oberlippenbärtige Athene bei. An Stelle der Waagschale für die Stimmsteine reckte sie ein Paddel in die Höhe. Ein Paddel, das war lustig.

Wenn überhaupt mythologischer Habitus zutage trat, dann im Spiel von Barbara Romaner. Sie ließ sich auf nichts ein, was die Tragik verwässerte. Ebenso Robin Sondermann als Orest. Eingedenk seiner Rolle als unschuldiges Opfer und als schuldiger Täter zugleich, hielt er den Gestus dieser Rolle aufrecht, ohne sich zu  Plattitüden verleiten zu lassen. Xenia Tiling gab, ebenso unbeirrt ihrer Rolle folgend, eine vom Gedanken an die Blutrache zerfressene Elektra.

Das Anliegen von Christine Eder, auf das immer noch aktuelle Thema Blutrache hinzuweisen, mag durchaus lobenswert gewesen sein. Allein dieses Ziel hat sie deutlich verfehlt. Statt dessen gelang es ihr, die vielleicht grausamste Familiengeschichte in der Theaterliteratur, von Aischylos mit dem Ziel einer großen Katharsis verfasst, in eine unterhaltsame familientaugliche Theaterveranstaltung zu verwandeln. Am Schluss hatte man das Gefühl, es hätte ein Happy End gegeben. Selbst wenn das Drama bei Aischylos mit einer Jubelprozession endet, hat dieses Stück angesichts der Blutspur, die sich durch die Familie der Atriden zieht, kein wirklich glückliches Ende.

Sie hätte sich mehr vom (der Antike verpflichteten) Wort Walter Jens leiten lassen sollen, nach dessen Vorlage gespielt wurde, statt sich beim Publikum anzubiedern. Dann wäre dem Publikum ein Geschenk zuteil geworden. So wurde ihm nur mehr oder weniger die Zeit vertrieben.

Lösbar war das Problem, wie die Realität überdeutlich zeigt, unter diesen gesellschaftlichen Bedingungen ohnehin nicht. Selbst Aischylos musste auf die Götter zurückgreifen, eine Schwäche, die allen antiken Dramen innewohnt, um das Desaster zu beenden. Dabei sind die Götter nie klüger als die Menschen. Sie unterscheiden sich vom Menschen lediglich darin, dass sie die fast uneingeschränkte Macht zur Willkür haben. Vielleicht käme man einer Lösung näher, wenn man nicht der Geschichte (als gottgegebene) das Wort redete, sondern ihr eine Vision von einer Gesellschaft mit Menschen, die frei von diesen Erbsünden sind, gegenüberstellt. Theater könnte das möglich machen.


Wolf Banitzki

 

 

 


Die Orestie

von Aischylos

Mareile Blendl, Jean-Luc Bubert, Justin Mühlenhardt, Kristina Pauls, Barbara Romaner, Robin Sondermann, Xenia Tiling

Regie: Christine Eder

Volkstheater Der Kaktus von Juli Zeh




Nur ein ängstlicher Bürger ist ein guter Bürger

Tatort: Flughafen Frankfurt. Es herrscht große Aufregung im Hinterzimmer, dem Aufenthaltsraum für die Polizeianwärter. Derer gibt es zwei, Susi und Cem. Susi ist engagierte Staatsbürgerin, Mitglied bei Amnesty International und sämtlichen anderen Organisationen, die um Menschenrechte, Tier- und Klimaschutz bemüht sind. Und sie hat Abitur, im Gegensatz zum Volksschulabsolventen Cem, der wie seine türkischen Brüder Waffen mag, echte, versteht sich. Und da die Folgen nicht zu verhindern waren, riet Cems weitsichtige Mutter ihm, zur Polizei zu gehen, „da ist er wenigstens auf der richtigen Seite“.

Die „richtige Seite“, welche ist das? Auch um diese Frage geht es in Juli Zehs neuestem dramatischen Entwurf. Die „richtige Seite“ ist ein sehr wandelbarer Begriff. Eingangs ist die „richtige Seite“ die, die dem Terrorismus gegenübersteht. Auf dieser Seite gibt es Regeln. Doch dann wird ein Verdächtiger vorgeführt. „Man“ hat Informationen und „es gibt untrügliche Verdachtsmomente“ und „aus sicherer Quelle“ weiß man, dass eben dieser Verdächtige für die bevorstehende Sprengung des Frankfurter Flughafens verantwortlich ist. Man muss mit Opferzahlen um die 25.000 und mehr rechnen. Wer will, wer kann das verantworten?

Frau Dr. Schmidt, Polizeioberrat vom BKA, die von Polizeiobermeister Jochen Dürrmann von der GSG 9, der maßgeblich an der Verhaftung beteiligt war, herbeigerufen wurde, wird diese Verantwortung nicht übernehmen und schreitet zur Tat. Die Tat bedeutet in diesem Fall Folter. Die Bombe, keiner weiß wo sie ist, tickt und der langjährig gesuchte Terroristen Abu Mehsud, der unter dem Decknamen Frank Miller in einem Blumenfachhandel untergetaucht war, schweigt beharrlich. Welche Sprache spricht der Terrorist überhaupt? Egal, es gilt zu handeln.

Doch Susi, deren, wie sie meinte, gesicherte Weltanschauung ins Wanken gerät, verweigert sich. Es kommt zu einer Abstimmung, an deren Ende, unter dem Druck der (vermeintlichen) Bedrohung, die Folter beschlossen und durchgeführt wird. Doch der Verdächtige schweigt. Ein von Frau Dr. Schmidt gerufenes SEK (Sondereinsatzkommando) stürmt den Raum und „eliminiert“ alle (vermeintlichen) Zielpersonen. Der Verdächtige schweigt weiterhin. Wie auch nicht, er ist ein Kaktus.

Juli Zeh gelingt mit diesem Stück ein echter Geniestreich. Die studierte Juristin bringt das Problem ohne Umschweife auf den Punkt: Die Sicherheitsbestrebungen des Staates haben pathologische und selbstzerstörerische Formen angenommen. Ihre Protagonisten vom GSG 9, CIA, BKA, SEK und wie immer sie heißen mögen, haben den Bezug zur Realität verloren, sind Opfer ihrer eigenen verquasten Panikideologie geworden, und drohen sich in ihrem krebsartigen Wuchern zu verselbständigen. Das ist keine bloße Behauptung von Juli Zeh, denn inspiriert wurde ihr Text aus öffentlichen Überlegungen deutscher Rechtsprofessoren, warum Folter zum jetzigen Zeitpunkt ein legitimes Mittel sei. Wohl gemerkt, deutsche Professoren an deutschen Universitäten, bezahlt mit den Steuergeldern der Bürger dieses Landes, schwitzen in ihrer Antiterrorismuserektion derartige Schwachsinnigkeiten aus, die eigentlich überwunden schienen. Einen Geniestreich kann man dieses Stück getrost nennen, denn der Autorin gelang eine wunderbare künstlerische Brechung des Themas, womit die Perfidie der Vorgänge eine bedrückende und nachhaltige Eingängigkeit erfuhr.

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Kristina Pauls, Thomas Schmidt, Stefan Ruppe

Arno Declair


Bettina Bruinier, ganz augenscheinlich kongeniale Partnerin für Juli Zeh, denn schon die Inszenierung von Zehs „Schilf“ war eine gelungene, zauberte ein modernes  kafkaeskes Kammerspiel auf die Kleine Bühne des Volkstheaters. Zwei Wände in billigem beamtenstubengrau, einen PC-Bildschirm, eine Tastatur und notwendigerweise einen Stuhl, der dann, wie im Kino oft gesehen, zum Folterinstrument wurde. Für die karge aber hinreichende Bühne, die mit dem Zuschauerraum verwachsen war, zeichnete Markus Karner verantwortlich. Der hautnahe Kontakt mit dem Spiel auf der Bühne war ein wesentlicher Grund für den Gesamtgenuss, denn die Darsteller brillierten allesamt in ihren Rollen.

Thomas Schmidts Jochen Dürrmann von der GSG 9 war zuerst ein unauffälliger Zeitgenosse, nervig und schnell zur Aggressivität neigend. Er reagiert, wie man sich die Reaktionen von „Elitesoldaten“ dank der großen Verbildungseinrichtung Hollywood vorstellt: blitzschnell, kalt berechnend und stets, durchaus devot, die Befehlsstruktur im Auge. Zum Helden wurde er aber erst im Auge von Cem, der seine ganz eigenen Vorstellungen von Heldentum entwickelt hatte, und die allesamt den patriotischen, Amerika unentwegt als Hort der Freiheit und Demokratie verherrlichenden Machwerken aus der Traumfabrik, folgten. „Unglückliches Land, dass (solche) Helden nötig hat.“ (Brecht: Das Leben des Galilei) Stefan Ruppe in der Rolle des Cem war auf besondere Weise sehenswert. Er spielte Understatement, ein wenig dümmlich und beschränkt, ungeheuer sympathisch und mit sehenswerter Mimik. Sophie Wendts Dr. Schmidt war eine der Frauen, die mit wenig weiblichen Eigenschaften ausgestattet den Männern permanent vor Augen halten, dass sie im Grunde „Weicheier“ sind. (Wie Juli Zeh bloß auf dieses Frauenbild kam?) Sophie Wendt denunzierte mit ihrer Rolle und auch mit ihrem radikalen Spiel, dass die machtstrebenden Frauen in jedem Fall die besseren Männer sind.  Kristina Paul fiel mit der Susi die Rolle der moralischen Instanz zu, die sie mit sehr viel Verzweifelung spielte. Aber auch sie musste am Ende klein beigeben, denn als Deutsche hatte sie beizeiten gelernt, dass es eine Hierarchie gibt, der man vertrauen kann und muss.

Seit den frühen 70er Jahren, also seit fast vier Jahrzehnten, gibt es von dem Psychiater Friedrich Hacker das Buch „Aggression – Die Brutalisierung der modernen Welt“. Darin wird beschrieben, woher Gewalt kommt, wie ‚gerechte’ Gewalt verherrlicht wird und welche Konsequenzen so genannte ‚Gewaltspiralen’ haben, nämlich die schlimmsten. Das Buch ist wunderbar verständlich geschrieben. Warum also, fragt man sich, denkt der Mensch heute wie ein frühmittelalterliches Wesen, obwohl Renaissance und Aufklärung Hunderte von Jahren her sind. Wie wäre es damit: Nur ein ängstlicher Bürger ist ein guter und folgsamer Bürger. Und, ist schon einmal aufgefallen, dass zwei Bereiche in jeder Krise Konjunktur haben: Rüstung und der Staatsapparat! Man denke sich seinen Teil.

Diese intelligente und witzige Inszenierung sei besonders denen empfohlen, die der Politik noch Glauben und Vertrauen schenken, die aber schon seit einiger Zeit spüren, dass es dafür nicht mehr allzu viele gute Gründe gibt.

Wolf Banitzki

 

 


Der Kaktus

von Juli Zeh

Thomas Schmidt, Stefan Ruppe, Kristina Pauls, Sophie Wendt

Regie: Bettina Bruinier
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