Werkraum They shoot horses, don’t they? nach Horace McCoy
Der Mensch im Würgegriff der Verhältnisse
Die Regeln sind einfach und klar. Die Knie dürfen den Boden nicht berühren und man musst immer in Bewegung bleiben. Das letzte Paar auf der Tanzfläche gewinnt 1.500 $. (Im Stück sind es 1.000 $.) Tanzmarathon nennt sich das Spektakel und damit die immer wieder wechselnden Zuschauer auf ihre Kosten kommen, werden Rennen eingeschoben in denen die Paar wie gehetzte Tiere um die Tanzfläche hasten. Die tausend Dollar sind bei einigen Teilnehmern die letzte Hoffnung. Mehr noch, so lange man tanzt, wird man verköstigt. Also pfeift man auf menschliche Würde, Solidarität oder gar Fairness. Homo homini lupus – Der Mensch ist des Menschen Wolf. Horace McCoy schuf 1935 die Vorlage zu dem 1969 entstandenen Film „Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss“ von Sydney Pollack (Neun Oscar-Nominierungen).
Die Handlung ist in den 30er Jahren angesiedelt, in den Zeiten der großen Depression in Amerika. Hauptperson ist die zynische Film-Statistin Gloria Beatty, deren Partner kurz vor Beginn der Veranstaltung erkrankt. In dem jungen Robert findet sie einen neuen Partner. Die erfolglose Schauspielerin und Jean Harlow-Kopie Alice hofft, während des Turniers von Agenten oder Produzenten entdeckt zu werden. Ruby, die trotz fortgeschrittener Schwangerschaft mit ihrem Ehemann an der Veranstaltung teilnimmt, benötigt mit Blick auf das zu erwartende Kind dringend das Geld. In hunderten von Stunden erschöpfen sich die Paare, belauern sich, boykottieren einander und bleiben auf der Strecke, wie der alte Sailor. Rocky, der Veranstalter und Moderator, versucht das Unmögliche. Er verkauft das erniedrigende Spektakel als Show. Da sich der Mensch im Würgegriff der gesellschaftlichen Verhältnisse befand, war es einfach, Rekruten zu finden. Als Gloria sich am Ende erschießen will, fehlt ihr selbst dazu die Kraft. Sie bittet Robert um den finalen Schuss, der ihr nichts mehr verwehrt. Als die Polizei den Fall untersucht, sieht sie darin nichts Ungewöhnliches, denn auch Pferden gibt man den Gnadenschuss. Soweit die Handlung des Buches und auch des Films, der in seiner Opulenz durchaus optimistische Züge trägt, wie die damalige Filmkritik bemerkte.
Selten spiegelte ein Kunstwerk die Perversionen des American way of life so erschütternd wider. Was Susanne Kennedy auf die Bühne des Werkraums brachte, waren Fragmente der Geschichte, die in ihrer Gesamtheit nicht leicht entschlüsselbar waren für die Zuschauer, die weder die literarische Vorlage, noch den Film kannten. Bert Neumann hatte den Raum für das Drama eingerichtet: eine mit Linien begrenzte Tanzfläche mit einem von der Decke herabhängenden Mikrofon, wie man es aus einem Boxring kennt.
Jil Bertermann zeichnete für die Bühne verantwortlich, die lediglich aus einem kleinen metallenen Tritt für Solodarbietungen bestand. Darauf, apathisch agierend, verkündete Thomas Schmauser als Rocky kettenrauchend z.B., dass Rauchen auf der Tanzfläche verboten sei. Schmauser spulte nachtwandlerisch und fast tonlos seine Moderation ab, kommentierte müde die „wunderbaren, schönen und berührenden“ Momente des Kampfes. Anna Maria Sturm gab als Alice, blond, sehr blond mit aufgespritzten Lippen ihre Gesangskunst zum Besten. Sie war sehr bemüht, sexy zu wirken und zeigte auch schon mal ihre wohlgeformten Brüste vor, den Voyeurismus Rockys und des Publikums bedienend. Schmauser „feuerte“ lustlos an, die Tänzer und auch das Publikum.
Hunderte von Stunden hatten sowohl Tänzer als auch Publikum ermüdetet. Heroismus und Patriotismus, ein probates Mittel zur Mobilisierung, wurden ausgestellt. Schmauser/Rocky erinnerte an die Heldentaten des Sailors, Walter Hess, der bereits im großen (1. Welt-) Krieg dabei war. Er trug noch immer mehre Dutzend Grantsplitter in seinem Körper und war dennoch hart wie Stahl geblieben. Helden sind im amerikanischen und inzwischen auch im europäischen Showbiz unabdingbar. Wenn es schon keine Ideale mehr gibt, mit denen man sich identifizieren kann, müssen Idole her. So steppte sich Walter Hess in seiner Solonummer die Seele aus dem Leib.
Nico Holonics gab eine stets lächelnde, mit dem Publikum kokettierende Schwangere, die sich als Preisträgerin aus anderen Marathons von ihrer Schwangerschaft nicht abhalten ließ. Robert wurde von Lasse Myhr gespielt, den Kostümbildnerin Lotte Goos mit Boxhandschuhen, Boxershorts und Muscle Shirt ausgestattet hatte und der agil, provokant und aggressiv tänzelte, als trete er für den Endkampf um die Meisterschaft in den Ring.
Çigdem Teke’s Gloria war eine ausgezehrte, verbissene und zynische Frau, von der permanent destruktive Signale ausgingen, und die während des zehnminütigen Rennens um die Tanzfläche vor Handgreiflichkeiten nicht zurückschreckte. Als ihr von Rocky eine Soloeinlage in Aussicht gestellt wurde, bediente sie diesen nebenbei auch schon mal oral.
Das Konzept von Regisseurin/Autorin Susanne Kennedy setzte auf das Unausgesprochene, auf Haltungen und auf das, was sich emotional beim Zuschauer herstellte. Es war ein durchaus interessanter Ansatz, der letztlich allerdings wegen der mangelnden Komplexität aller Geschichten nicht in erwünschtem Maße aufging. Es fehlte die stringent erzählte Geschichte, so dass der Zuschauer den Situationen hinterherdenken und -empfinden musste. Das führte zu Irritationen in Bezug auf Personen und Handlungen. Der ästhetische Ansatz war bemerkenswert. Slow Motion, gepaart mit scheinbarer Apathie und Resignation oder atemlose, die Schauspieler an ihre physischen Grenzen bringende Rasanz im Gegenzug erzeugten Verstörung. Der Mensch in seinen traurigsten Ausprägungen wurde sicht- und fühlbar.
Es war ein großer Stoff, der, obwohl ästhetisch konsequent durchgearbeitet, nur – oder wenn überhaupt - Befindlichkeiten provozierte. Der Schluss, dass wir in unserer modernen Mediengesellschaft diese Formen dekadenten altrömischen „panem et circenses“ (vom Kritiker Juvenal entlarvend gemeint) kultiviert und perfektioniert haben, drängt sich nicht zwingend auf oder bleibt vermutlich aus. Darauf hätte es aber bei aller Überzeichnung ankommen müssen, so es denn in den Intentionen der Macher lag. Ungeachtet dessen ist es eine sehenswerte Inszenierung, in der der Zuschauer nicht unbeteiligt bleibt, stellt er doch gleichsam das Publikum beim Tanzmarathon.
Wolf Banitzki
They shoot horses, don’t they?
nach Horace McCoy
In einer Fassung von Susanne Kennedy und Jeroen Versteele
Walter Hess, Nico Holonics, Lasse Myhr, Thomas Schmauser, Anna Maria Sturm, Çigdem Teke
Regie: Susanne Kennedy |
Werkraum Sold Out von Gianina Cãrbunariu
Schwarze Männer gehen um
Wer hätte gedacht, wie stark das Bedürfnis nach Aufarbeitung dieses Kapitels europäischer Geschichte jetzt, mehr als 20 Jahre nach dem Fall des eisernen Vorhangs ist. „Ich schätze, 90% der Besucher sind Siebenbürger Sachsen oder Banater Schwaben“, so mein Nachbar im Werkraum der Münchner Kammerspiele, der seinen Akzent nicht verhehlen konnte.
Gianina Cãrbunariu, die 2007 mit „Kebab“ (ebenfalls im Werkraum) vom Elend osteuropäischer Mitbürger auf eindrucksvolle Weise berichtete, hatte mit „Sold Out“ ein Thema aufgegriffen, dass die westdeutschen Bürger einbezog in diese notwendige Bewältigungsarbeit, wobei der Focus allerdings weitestgehend auf ihren Landsleuten verblieb. Thema war der Verkauf von ausreisewilligen Rumänen deutscher Abstammung (auch erfundener) durch das Ceausescu-Regime. Dieser Ausverkauf hatte Methode. Wäre man böswillig, könnte man von Menschenhandel sprechen. Als böswillig würde vermutlich gelten, wer den Handelspartner erwähnt. Auf Seiten der Bundesrepublik verwahrt man sich dagegen, denn, wie Exaußenminister Hans-Dietrich Genscher betonte, es handelte sich um einen humanitären Akt. So erstaunlich verschieden können die Interpretationen sein, wenn die Wörter Menschenhandel und Humanität in einem Satz Platz finden. Und dennoch stimmte es.
Als 1961 die Berliner Mauer errichtet wurde, fand dieser Akt bei vielen Intellektuellen und Künstlern im Land Zustimmung. Offizielle Verlautbarung war: Wir müssen den Exodus der hochqualifizierten DDR-Bürger in den Westen stoppen. Das Land blutet aus! Das war für viele DDR-Bürger, die sich mit ihrem Land identifizierten, durchaus einleuchtend. Inzwischen weiß man, dass der BND und die Headhunter großer Unternehmen gezielt Abwerbung betrieben hatten. Ihre Aktivitäten dienten durchaus anderen Interessen, als der reinen Humanität. Es waren strategische Zielsetzungen in einem Krieg, im „Kalten Krieg“. Als Ulbricht schließlich sinngemäß verkündete: ‚Und jetzt werden wir an dieser Mauer jeden zerquetschen, der gegen uns ist’, war auch dem DDR-Bürger klar, dass der „antifaschistische Schutzwall“ nicht zu seinem Schutz errichtet worden war.
Das Rumänien Ceausescus war im Vergleich zur DDR beinahe so etwas wie eine Persiflage auf den real existierenden Sozialismus. Witze über die Herrscher dieses Landes waren an der Tagesordnung. Die politische Führung war von so ausgesuchter Dümmlichkeit und Durchschaubarkeit, dass man, wenn es nicht eine so traurige Wahrheit gewesen wäre, schallend hätte lachen können. Zum Beispiel über die Ehefrau Ceausescus, die sich selbst zur „Mutter der Wissenschaften“ ernannt hatte, die über die gesamte Wissenschaft Rumäniens regierte, selbst nur über einen Sechsklassen-Grundschulabschluss und eine dürftige Ausbildung zur Schneiderin verfügte, und die es unter normalen Umständen auf Grund ihrer Bösartigkeit und ihres Intrigantentums vielleicht bis zur Supermarktleiterin geschafft hätte.
Diese Menschen haben das Land Rumänien, das durchaus auf eine stolze Geschichte zurückblicken kann, in den Zustand schlimmster emotionaler und moralischer Verwahrlosung geführt. Gianina Carbunariu, stets darauf bedacht, ihre Thesen dokumentarisch zu belegen, beginnt in „Sold Out“ mit Deutschland. Der Sohn einer deutschstämmigen Familie in Rumänien verliest in der Uniform der Waffen-SS die Leitlinien zur nationalen und völkischen Identität aus Hitlers „Mein Kampf“. Er ist von Stolz erfüllt. Der Glaube an die deutsche Herrenrasse, er zählt sich dieser aufgrund seiner Abstammung zu, ist unerschütterlich. Er hat eine Puppe mitgebracht, eine deutsche, was man an der Qualität sofort erkennen kann. Diese Puppe wird zur historischen Klammer für die ganze Geschichte vom 2. Weltkrieg über die sowjetische Besatzung bis hin zu Ceausescus Schreckensherrschaft. Am Ende kehrt sie mit ihrer Familie „heim nach Deutschland“. Dieser dramaturgische Ansatz war ein überaus geschickter, denn durch die Puppe reflektiert die Autorin die Vorgänge unvoreingenommen, ideologiefrei, und deckt so die Absurditäten auf, die Betroffene zwar wahrnehmen, aber nicht benennen können, weil sie selbst darin verstrickt sind. Am Ende steht wiederum die Anbetung alles Deutschen. Das, wofür am Anfang „Mein Kampf“ stand, wurde am Ende durch das „FC-Bayern-Shirt“ ersetzt. So erlangten materielle und geistige Sehnsüchte Symbolcharakter. Dabei waren es nur Fetische.
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Lasse Myhr, Sylvana Krappatsch, Lenja Schultze, Edmund Telgenkämper
© Andrea Huber
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Gianina Cãrbunariu enthält sich eines letzten Urteils über beide Welten, enthüllt aber viele glaubhafte Details, die den Betrachter in tiefe Verunsicherung stürzten. Deutschland war an diesem Menschenhandel beteiligt, der per se verdammungswürdig ist. Mehr noch, dieser Handel ging in deutschen Auffanglagern für Auswanderer weiter, wo sich „schwarze Männer“ (Ceausescus Geheimdienstschergen oder einfache Kriminelle) gegen die Zahlung erheblicher Summen erboten, weitere Familienmitglieder aus Rumänien herauszuholen. Familien zerbrachen daran. Gutgläubige Menschen wurden betrogen und bestohlen. Als sicher kann wohl genommen werden, dass sich selbst im tiefsten emotionalen Elend noch ein Mensch findet, der daraus auf perfideste Weise Kapital schlägt. In dieser Einsicht liegt wohl die größte Leistung des Stückes begründet, denn die Beweislage darüber ist lückenlos.
Die theatralische Umsetzung dieses Stoffes war eher unspektakulär, was wohl auch dem dokumentarischen Charakter der mosaikartigen Szenen geschuldet war. Dorothee Curio hatte einen idyllischen Schaukasten auf die Bühne gestellt, der als vierte Wand eine Folie aufwies. Die Behausung, in der sich eine kitschige Landschaft präsentierte, verriet kleinbürgerliche Enge und heimatliche Verbundenheit zugleich. Auch das war ein deutlicher Beweis für den Realitätssinn der Autorin, die gleichsam Regie führte. Dorothee Curios Kostüme leisteten ein Übriges, um die Tristesse des real existierenden Sozialismus zu definieren.
Die Szenenfolge ließ gelegentlich Zielstrebigkeit vermissen. Die Schauspieler wechselten über die beschriebenen Zeiten hinweg die Rollen und hatten es somit nicht leicht, eindeutige Charaktere zu entwickeln. Heraus stach naturgemäß Hildegard Schmahl, die durchgängig als folkloristisch ausstaffierte Puppe agierte. Ihr Sprachduktus und ihre Körperlichkeit, die von Unabänderlichkeit geprägt waren, kontrastierte die (notwendiger Weise) chamäleonartigen Charaktere der anderen Darsteller. Edmund Telgenkämper als Familienoberhaupt und Lenja Schultze als Tochter hatten noch die besten Chancen zu eindeutiger Rollengestaltung. Sie zeichneten sich durch Gradlinigkeit in ihrem Lebensanspruch und relative Aufrichtigkeit ihrer Argumentation aus. Lasse Myhr, ihm waren einige Nebenrollen beschieden, brillierte als Spitzel und Kommilitone. Seine Argumente, dass sich letztlich jeder verkaufe, um an sein Ziel zu gelangen, offenbarten den psychologischen Hintergrund des Dilemmas. Sylvana Krappatsch, ihr fiel der weiblich-mütterliche Part zu, verlieh ihren Rollen gelegentlich einen Hauch von Verzweifelung, die dem instinktiven Drang zum Überleben entsprang. Michael Tregor gelang insbesondere als einer der Dunkelmänner eine Figur, die bei aller Gefährlichkeit durch die ihm verliehene Macht zuallererst Erbärmlichkeit erkennen ließ. In einer totalitären Diktatur kämpft schließlich jeder ums Überleben, selbst der Diktator, und dabei sind alle Mittel und Methoden gängig. Opportunismus ist erfahrungsgemäß noch immer das sicherste Überlebensmittel.
Der Abend war gewiss kein theatralisches Highlight im artifiziellen Sinn. Und doch war es eine sehr sinnvolle Veranstaltung, die auf aufklärende Weise ein Thema behandelte, das vermutlich nie so recht im Focus bundesdeutscher Betrachtung stand, obwohl es doch ein ureigenes ist.
Aus den gesellschaftlichen Erfahrungen lernen, erzeugt Hoffnung. Dieses Fünkchen Hoffnung fehlte mir in „Sold Out“. Dabei hätte ich es mir sehr gewünscht.
Wolf Banitzki
Sold Out
von Gianina Cãrbunariu
Sylvana Krappatsch, Lasse Myhr, Hildegard Schmahl, Lenja Schultze, Edmund Telgenkämper, Michael Tregor, Pollyester
Regie: Gianina Cãrbunariu
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