Kammerspiele Werkraum Ophelia nach William Shakespearee


 

 

Zurück blieb das Lächeln der Marie Jung

Hamlet und Ophelia. Das erste Mal werden die beiden in einem Gespräch zwischen Gertrude, Königin von Dänemark und Mutter Hamlets, und Polonius, Oberkämmerer und Vater Ophelias, ins Verhältnis gebracht. Polonius gibt der Königin Kenntnis von einem Brief Hamlets an seine Tochter, worin es heißt: „Zweifle an der Sonne Klarheit, / Zweifle an der Sterne Licht, / Zweifle, ob lügen kann die Wahrheit, / Nur an meiner Liebe nicht.“ (2. Akt, 2. Szene) Zuvor hatten Ophelias Vater Polonius und auch ihr Bruder Laertes dem jungen Mädchen dringend angeraten, den Schwüren des Prinzen keinen Glauben zu schenken, und, um es einmal ganz lax zu formulieren, die Beine zusammen zu halten. Im 3. Akt, 1. Szene, Hamlet hat gerade seinen Monolog (Sein oder Nichtsein…) gehalten, trifft der Prinz auf Ophelia, die ihm einige „Angedenken“ zurück geben möchte und Hamlet bekennt plötzlich und unverhofft: „(…) Ich liebte Euch dereinst.“ Ophelia ist erstaunt: „In der Tat, mein Prinz, Ihr machtet michs glauben.“ Was folgt, ist niederschmetternd für das junge Mädchen, dessen Liebe noch gänzlich rein ist und frei von Falschheit.

In Shakespeares Drama bleibt Ophelia stets außen vor, ist Spielball in den Intrigen und in den sich überstürzenden Ereignisse, Objekt von Verleumdung und auch übler Nachrede. Sie ist eine berückend schöne, aber tragische Gestalt. Schließlich, nachdem Hamlet ihren Vater getötet hat, zerbricht sie unter der emotionalen Last und geht ins Wasser. Laertes, der nach Frankreich gereist war, kehrt zurück, um den Vater und die Schwester zu beerdigen und um Rache an Hamlet zu nehmen. Am Ende gibt es unter den Protagonisten nur einen Überlebenden. Es ist Hamlets römischer Freund Horatio, der die Geschichte im Auftrag Hamlets in die Welt hinaustragen soll. Der Rest ist Schweigen.

Christof Van Boven schickte sich nun an, die Geschichte vom Mord am König von Dänemark durch dessen Bruder und den Verrat der Königin, die sich dem neuen König schnurstracks hingab, aus dem Mund Ophelias erzählen zu lassen. Dagegen ist natürlich nichts einzuwenden, abgesehen davon, dass gerade Ophelia kaum etwas von den Kabalen und dem seltsamen Gebaren des Drahtziehers Hamlet verstand. Darum ist sie auch eines der ersten Opfer des Hamletschen „Wahnsinns“. Regisseur Van Boven machte das ahnungslose Wesen dennoch zu einer Handelnden. Ophelia ließ das Publikum wissen, dass sie, versteckt in dunkler Nacht, beim Treffen Hamlets und dem Geist seines ermordeten Vaters anwesend war. Und sie gab ihr Wissen weiter. (Was die ganze Dramaturgie des Stückes von Grund auf verändern würde.) Schließlich blieb sie auch nach ihrem Hinscheiden sehende und sprechende Zeugin und vermochte die Geschichte bis zu Ende zu erzählen. Das allerdings mit nur sehr wenigen Worten, denn die Vorstellung im Werkraum der Kammerspiele dauerte ganze 50 Minuten. Es liegt auf der Hand, dass die Zuschauer, denen die durchaus komplizierte Geschichte fremd war, auf der Strecke bleiben mussten.

Dass müsste auch Christof Van Boven klar gewesen sein. Also gehen wir einmal davon aus, dass es hier nicht um Shakespeares „Hamlet“ ging, sondern um die eigenständige Geschichte des Mädchens Ophelia, die bei Shakespeare gleichsam vorkam, der er aber zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet hat. Die Vorstellung begann damit, dass zwei Bühnenarbeiter den Boden der Spielfläche im Werkraum feucht wischten. Er verwandelte sich so in das Gewässer, in dem sich Ophelia ertränkte. Ein kleiner Fleck war ausgespart und trocken geblieben und Marie Jung, die aus dem Publikum heraus die Bühne betrat, machte sich daran, diesen Fleck mit ihren Fußsohlen zu befeuchten. Dann betrachtete sie lange und eingehend das Publikum. Diese Ophelia war eine gänzlich schmucklose Erscheinung in einem einfach geschnittenen Kleid und den flachen, plumpen Schuhen. Ein knabenhafter Haarschnitt machte Frau Jungs Erscheinung deutlich maskuliner. Zusätzlich hatte Ausstatterin Sina Barbra Gentsch (Kostüm und Bühne) den natürlichen Liebreiz hinter einer großen Brille versteckt. Diese Ophelia war ein sanftes, eher androgynes Wesen, mit dem man gern befreundet ist, um deren Liebe man jedoch nicht unbedingt werben würde. Nach Minuten des konzentrierten Schauens hob Marie Jung zu einer gesungenen Introduktion an. Ihr Stimme war schrill und einschneiden. Fast schmerzhaft wurde das Publikum auf eine grausame Geschichte eingestimmt.

Ohne nennenswerte Bewegungen erzählte sie in einem lyrischen Telegrammstil. Die introvertierte Spielweise schuf eine magische Spannung, aus der es kaum Entrinnen gab. Der darstellerische Minimalismus und die daraus resultierende Konzentriertheit erinnerte zwingend an die Darstellung André Jung in John Fosses „Winter“ im Jahr 2005. Der Apfel fällt halt doch nicht weit vom Stamm. Allein, die Wirkung der verglichenen Inszenierung, war denkbar unterschiedlich. Christof Van Boven gelang es nicht, eine Frauenfigur zu schaffen, die im Gedächtnis bleiben würde. Zu dünn blieb die Geschichte, die neben Shakespeares Drama naturgemäß verblassen muss. Dafür hatte sich die Figur der Ophelia nicht weit genug entfernen können vom Stück.

Die zwei deutlich sichtbaren Regieeinfälle wirkten im Kontext der Liebesgeschichte aufgesetzt, wenn nicht sogar peinlich. Um Nacht herzustellen, bewegte Marie Jung eine auf einer Palette stehende Nasszelle soweit, bis ein darin befindliches Radio in die gefüllte Wanne plumpste und einen Kurzschluss auslöste. Viel Aufwand für wenig. Das letzte Bild wurde von einer ähnlichen Konstruktion, einer Ausstellungsloge, dominiert, das von Marie Jung erst ins Blickfeld des Betrachters gerückt wurde. Darin befand sich ein ausgestopftes, gesichtsloses Fellwesen (ein Yeti oder ein Bigfoot?). Da Marie Jung diesen ausgestopften Gesellen liebevoll umwarb, ließ sich mit einigem Mut argwöhnen, es handele sich um das seltsame, schwer zu verstehende, fremdartige Wesen Hamlet, das immerhin wert ist, im Museum gezeigt zu werden. (Der Kritiker fühlt sich mit einer Deutung überfordert.)

Sowohl die Idee, wie auch die Inszenierung waren sehr ambitioniert. Allein, die Wirkung hielt sich in Grenzen. So blieb letztlich nur das Lächeln der Ophelia von Marie Jung zurück, über das sich Heinrich Heine in seinem Essay „Shakespeares Mädchen und Frauen / Ophelia“ schwärmerisch erging: „ (…) es bleibt mir unvergeßlich, wie bettelhaft der Gesang der Nachtigallen abstach gegen die himmelhauchende Stimme Ophelias und wie armselig blöde die Blumen aussahen mit ihren bunten Gesichtern ohne Lächeln, wenn ich sie zufällig verglich mit dem holdseligen Munde Ophelias! Die schlanke Gestalt, wie wandlende Lieblichkeit schwebte sie neben mir einher.“

Wolf Banitzki

 


Ophelia

nach William Shakespeare

Marie Jung

Regie: Christof Van Boven

Werkraum Laboratorium 2 -Doktor Faustus Lichterloh von Gertrude Stein


Poetry-Slam und Rap

„Ich bin Doktor Faust der alles weiß alles kann…“ Darin unterscheidet sich der gute Mann von Goethes „Faust“, denn der gesteht, nachdem er alle seine Matrikel aufgezählt hat: „Da steh ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor.“ Doch das ist nicht der einzige Unterschied. Gertrude Stein, die den Fauststoff als Operngeschichte aufbereitete, folgte ihren eigenen Assoziationen und die waren bekanntermaßen überaus frei. So geht es nicht um das große Abstraktum dessen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, sondern um die simple Erfindung der Glühbirne. Auch gibt es bei Frau Stein eine Margarete. Allein, es könnten auch zwei sein, denn sie nennt sich Marguerite Ida und Helena Annabel. Sie wird auch nicht das Opfer der Gelüste des Dr. Faust, sondern eines Vipernbisses, von dem der gelehrte Mann sie immerhin heilen kann. Er tut es, woraufhin ein Mann aus der Fremde („Der Einzige“) um ihre Gunst wirbt. Man weiß nicht recht wer es ist. Das ist auch nicht weiter von Belang, denn es geht um Faust und der hat das Problem, nicht in die Hölle fahren zu können. Zwischendurch reflektiert er noch die Konsequenzen seines Handelns: Mit dem elektrischen Licht verblasst unweigerlich der Mond, der Hund bellt ihn nicht mehr an und er macht die Menschen nicht mehr verrückt. Gibt es Erlösung für Faust? Er soll den Hund und das Kind töten, dann wird er in die Hölle fahren. Gesagt, getan. Die Viper ist das tödliche Werkzeug. Mephisto verjüngt Faust. Schließlich begibt sich dieser zu Marguerite Ida und Helena Annabel, um sie zu überreden, gemeinsam mit ihm in die Hölle zu fahren. Sie lehnt ab, denn sie erkennt ihn nicht mehr als Faust und sinkt ohnmächtig nieder. Schluss.

So chaotisch wie diese Geschichte anmutet, so unterhaltsam ist sie, denn die Sprache Gertrude Steins folgt einer ureigenen Logik. Sie versteigt sich, umwölkt sich, lässt kristallklare Blitze hernieder sausen und gefällt sich in schrägen Absurditäten und kunstvollen Kalauern. Bei Gertrude Stein scheint die Sprache ein Eigenleben zu führen, sich ungebärdig zu tollen wie spielwütige Hunde. Auch wenn manches Mysterium bleibt, schön anzuhören ist es allemal. Die extreme Rhythmisierung ist Hinweis darauf, dass der Stoff eine Oper werden sollte. Und sie liebte die Oper, insbesondere „Faust“ von Charles Gounod. Im Deutschen trug die Oper übrigens den Titel „Marguerite“. Ein weiterer wichtiger Einfluss für Steins poetische Auffassungen war die Malerei. Maler wie Pablo Picasso, Henri Matisse, Georges Braque und Juan Gris gaben sich im Salon der Geschwister Stein in der Pariser Rue de Fleurus 27 die Klinke in die Hand. Die Steins kauften eine Vielzahl von Bildern der Avantgarde. So ist die Vermutung, Gertrude Steins Texte seinen unter anderem Wort-gewordener Kubismus, keineswegs aus der Luft gegriffen.

Caitlin van der Maas, Regieassistentin an den Münchner Kammerspielen, erhielt im Rahmen des Projektes „Laboratorium nun die Chance, diesen wunderbar verrückten Text in Szene zu setzen. Bettina Pommer richtete ihr dafür eine Bühne ein, die sehr düster war. Schwarzes Granulat bedeckte den Boden der Spielfläche und machte jeden Schritt, jede Bewegung laut hörbar. Von der Decke herab hing ein Kabelbaum, der Arbeitsplatz von Mephisto, der sich um die Erfindung der Glühbirne und die Elektrizität kümmerte. Der Bühnenboden war durch ein hölzernes Gitter parzelliert. Darin hatte Faust seine Heimstatt, ein paar Benzinkanister als Mobiliar. Das gleiche Gitter war auch in den Bühnenhimmel gehängt, worauf der Bub (Lukas von der Lühe mit geliehenen Stimmen) saß und woher die Stimmen des Hundes (Walter Hess), der Kinder und des Chores kamen. Alles war in abgegriffenem Schwarz gehalten.

Und schwarz war auch aller Anfang. In dieser Finsternis arbeitete Max Simonischek schwer atmend an der Erfindung des Beleuchtungskörpers. Als der dann schließlich fertig war, schien grelles Licht auf und blendete den Zuschauer schmerzhaft. Überhaupt war die gut einstündige Vorstellung eine Herausforderung für die Sinne, alles war ein wenig zu schrill, zu grell, zu bedrohlich. Man fühlte sich in die Werkstätten von Metropolis versetzt. Aber wo die Schöpfung wütet, da fallen auch schon mal Späne. Tatsächlich waren die szenischen Einfälle von Seiten der Regie weder großartig erhellend (im mentalen Sinn) noch verblüfften sie ob ihres Einfallsreichtums.

Getragen wurde die gesamte Inszenierung von der sprachlichen Gestaltung der Darsteller, vom betörenden Elfentanz Brigitte Hobmeiers (Marguerite Ida und Helena Annabel) einmal abgesehen. Marc Benjamins markerweichende Stimme war allemal geeignet einen Mann wie Mephisto zu widersprechen. Der hatte es naturgemäß gar nicht nötig, sich mit dem menschlichen Faust anzulegen. Mephisto is Mephisto is Mephisto…! Max Simonischek gab den Ignoranten, wenn es denn nicht wichtig genug war. Der Running Gag des Abends war die tiefdunkle Stimme von Walter Hess, der sich als Hund immer wieder bedankte: Thank you! Ein starker und sehr erfrischender Kontrast zur Düsternis des Geschehens waren die Stimmen der Kinder (Jakob Seeberger, Caspar und Annick Lesjack). Sie bewältigten ihre Texte mit bemerkenswertem Ausdruck.

Es mangelte der Inszenierung an szenischer Klarheit, die die Texte eingängiger gemacht hätte. In dem Raum, der an die finstere Höhlenschmiede des Hephaistos erinnerte, war zu viel aufgehäuft, das kaum oder wenig bespielt wurde und das den Blick auf die nicht unkomplizierten Vorgänge verstellte. Die eigentliche Qualität lag nicht im Gesehenen, sondern im Gehörten. Weniger und klarer hätte auch vor technischen Pannen geschützt. Es ist denkbar, dass diese Inszenierung als Hörfassung mehr transportiert. Da allerdings das Werk von Gertrude Stein hinlänglich transportiert wurde, man einen tiefen Eindruck von der künstlerischen Qualität ihrer Texte bekommt, gebührt der Unternehmung Lob. Den drei Darstellern gelang es, die Poesie und den zwingenden Rhythmus freizusetzten und in manchen Augenblicken wähnte man sich in einem hervorragenden Poetry-Slam oder einer guten Rap-Veranstaltung.

Wolf Banitzki

 


Laboratorium 2 -Doktor Faustus Lichterloh

von Gertrude Stein

Marc Benjamin, Brigitte Hobmeier, Max Simonischek, Lukas von der Lühe

Regie: Caitlin van der Maas

Werkraum Schnapsbudenbestien Folge 4: Nana nach Émile Zola


 

 

Aufstieg und Fall einer Kurtisane

Rückblende. Schnapsbudenbestien Folge 4 spielt innerhalb des Zeitraums, den Folge 1 abhandelte, an deren Ende die Alkoholdemenz Coupeaus stand. Zur Erinnerung, Coupeau war der Ehemann Gervaises und der Vater Nanas. Nachdem Coupeau sich dazu entschlossen hatte, dass er auch ohne anständige Arbeit auskommen würde, betrieb er gemeinsam mit seiner Frau ein Etablissement, halb Varieté, halb Bordell. Star des Unternehmens war Nana, die schöne und begehrenswerte junge Frau, die schon früh begriffen hatte, dass ihre körperlichen Reize von großem Wert waren. Auch Maheu arbeitete, nachdem er in der Fabrik infolge des gescheiterten Streiks dem Alkohol verfallen war und seine Familie verloren hatte (Folge 2), als Türsteher im Bordell.

Nana wird von den Männern umschwärmt, die allesamt bereit sind, sich für diese Unterweltgöttin zu ruinieren. Man schenkt ihr ein Landgut und eine Villa in Paris, überschüttet sie mit Schmuck und Kleidern, allen voran der reiche Bankier Steiner, der bereits eine Liaison mit der Nachtclubsängerin Rose Mignon eingegangen ist. Aber auch Graf Muffat ist bereit, der Schönen seinen Besitz zu opfern. Selbst der kleine Prokurist Georges „Bébé“ Hugon kann nicht an sich halten und greift der Angebeteten zuliebe in die Kasse der Bank, in der er arbeitet. Sie gehen samt und sonders unter, vergehen an dem „alles zersetzenden Bazillus“ der aus der „gärenden Fäulnis der niedrigsten Klasse emporstieg“ in die Sphären der Bourgeoisie und der Aristokratie.

Nana kann dieses Begehren nicht glücklich machen, denn sie ist in den heruntergekommenen Maheu verliebt. Der behandelt sie respektlos, prügelt sie und wirft sie, als er ihrer überdrüssig ist, auf die Straße. Dort wird sie von der Prostituierten Satin aufgelesen. Beide beschließen, es den Männern heimzuzahlen. Als alle ihre Opfer gänzlich ruiniert sind, verkaufen sie den verbliebenen Besitz und verschwinden. Niemand weiß, wohin sie gegangen sind, doch es ranken sich viele Legenden um die Frauen. Als sie schließlich wieder in Paris auftauchen, ist Nana an den Blattern erkrankt und stirbt im Pariser Grand-Hotel. Coupeau reist mit seinen Varietékünstler nach Berlin, um ein großes Geschäft aufzuziehen. Zurück bleiben Gervaise und Maheu, die sich wie Schiffbrüchige zusammentun, um nicht allein auf ihr Ende zusteuern zu müssen.

Mit und in der Folge 4 ließ es Matthias Günther noch einmal richtig krachen. In bunten, aufreizenden und z.T. verblüffend fantasievollen Kostümen von Mara Strikker agierten die Darsteller schrill-komödiantisch, die Dekadenz der Belle Epoque und ihre Protagonisten persiflierend. Das hatte großen Schauwert. Sina Barbra Gentschs Bühne war ebenso spartanisch wie die der ersten drei Folgen. Ein hölzernes Gerüst trennte die Spielfläche von den Zuschauerplätzen auf der Bühne (Varieté) ab. Ein paar Palmen, die aussahen, als hätte man sie von den Philippinen eingeflogen, verdeutlichten eine Salonsituation. Oliver Mallison als Türsteher Maheu warf die angreifenden notgeilen Großbürger und Aristokraten knurrend, zähnefletschend und mit donnernder Stimme immer wieder hinter die Schranken der vermeintlichen Artigkeit zurück. Çigdem Tekes Gervaise war inzwischen von der Mutter zur Kupplerin mutiert und versuchte mit schriller Stimme und aufgerissenen Augen die Pfründe zu sichern, die sich immer wieder auftaten und denen Nana mit Gleichgültigkeit begegnete. Stefan Merki ging ganz in der Rolle des Entertainers Coupeau auf und erwies sich als sehr geschmeidig, wenn neue Arrangements mehr Profit versprachen. Mit äußerster Agilität und sehr lauthals betrieb er sein schillerndes Geschäft. Skrupel beim Verkauf seiner Tochter waren ihm gänzlich fremd. Auf die Frage des Bankiers Steiner: „Ist das ihr Theater?“, antwortete er unumwunden: „Bitte, sagen Sie: mein Bordell!“

Im Zentrum aller Begehrlichkeiten stand Nana, wie ein Sphärenwesen von Marie Jung verkörpert. Der transparente, rote Bodysuit signalisierte das „gefallene Mädchen“, das überirdische Lächeln, mit dem Marie Jung von der Schöpfung ausgestattet wurde, erhob sie indes zu einem „gefallenen Engel“. Und der war sie auch, denn ihre Interessen galten nicht dem schnöden Mammon. Ihre Sehnsucht nach Liebe führte die von allen begehrte Frau in die Hölle primitiver Gewalt. So mutierte sie schließlich zum Racheengel.

Anders als in Folge 2 schlugen sich die jungen Schauspielstudenten wacker neben ihren Profikollegen. Bastian Hagens Bankier Steiner war ein schräger Nabob, dem der aufrechte Gang abhanden kam, sobald er der Angebeteten ansichtig wurde. Colin Hausbergs Graf Muffat hingegen war von einer trotteligen Unbedarftheit, jederzeit erbötig, sich von der Schönen (bildlich gesprochen) in die Weichteile treten zu lassen. Ähnlich jenseitig agierte Hassan Akkouch als Georges „Bébé“ Hugon. Er war sich seiner finanziellen Ohnmacht stets bewusst und darum umso glücklicher über die Brosamen, die vom Lager des Lasters für ihn abfielen. Er tanzte im Hochgefühl des Glücks auch schon mal artistisch gekonnt auf einer Hand. Hassan Akkouch verkörperte zwar die wandelnde Melancholie, war darum aber nicht weniger eifrig in seiner Selbstzerstörung. Die weiblichen Darstellerinnen standen ihren männlichen Studienkollegen in nichts nach. Irina Sulaver als Straßenhure Satin genoss es sichtlich, die Männer ordinär polternd und wie ein preußischer Unteroffizier in den Schmutz zu treten. Maike Schroeter überzeugt als affektierte, auf Einhaltung der Hackordnung bedachte Rose Mignon vor allem durch ihren kraftvollen Gesang. Caroline Tykas Gräfin Sabine war eine haltlose Sinnesfrau, die sich genüsslich vom grobschlächtigen und brutalen Maheu bedienen ließ.

Matthias Günther brachte seinen Mehrteiler „Schnapsbudenbestien“ bunt schillerd und unterhaltsam zu Ende. Obgleich ein bitteres und nachdenklich stimmendes Thema, war der Aufstieg und der Untergang Nanas komödiantisch leicht gestaltet und keinesfalls ohne angemessene Tiefe. Die These, Teile von Zolas umfänglichem Werk besitzen auch heute noch ihre Tauglichkeit, ist mit dieser Arbeit, soweit man es nicht vorher schon wusste, zur Gewissheit geworden.

 

Wolf Banitzki

 


Schnapsbudenbestien Folge 4: Nana

nach Émile Zola

Hassan Akkouch, Bastian Hagen, Colin Hausberg , Marie Jung, Oliver Mallison, Stefan Merki, Maike Schroeter, Irina Sulaver, Çigdem Teke, Caroline Tyka

Regie: Matthias Günther

Werkraum Die graue Stunde von Ágota Kristóf


 

 

Gelungener Start in die Laboratorium-Reihe

Irgendwo. Irgendwann. Vielleicht in einer Stadt in Ungarn, diese Vermutung legt die Biografie Ágota Kristófs nahe, die 1956, nach dem niedergeschlagenen Ungarnaufstand, gegen ihre eigenen Wünsche das Land verließ. Und vielleicht spielt die Geschichte in den 50ern oder 60ern, denn das suggerierten die Kostüme und das spartanische Bühnenbild von Davy van Gerven. Aber es könnte auch ganz anders sein und das ist auch gut so, denn die Geschichte sprengt ohnehin Zeit und Raum.

Sie ist eine Prostituierte und er, seit vielen Jahren fester Kunde, ist ein Taschendieb, ein Kleinkrimineller, der von der Hand des Gesetzes immer mal wieder aus dem Verkehr gezogen wurde. Dann begann für Sie die Zeit des Wartens und auch die Zeit des Spekulierens. Was, wenn Er nicht mehr lebte? Sie würde es nie erfahren. Sie würde warten, meint Er, Nächte durchwachen und suchen. Zum Beispiel nach „einem Gegenstand, der dich erinnert an die Bewegung, mit der ich meinen Mantel auszog. Aber ich habe nichts zurückgelassen. Wenn die Sonne aufgeht, schließt du das Fenster und legst dich hin. So immer wieder, jahrelang, Tag für Tag.“

Am Ende weiß der Zuschauer, dass es um mehr ging, als um eine sexuelle Dienstleistung. Auf dreiundzwanzig dürftig beschriebenen Textseiten erzählt Ágota Kristóf von der Tragik zweier verschenkter Leben und einer nichtgelebten Liebe. Es ist eine existenzielle Geschichte, denn es gibt in ihr auch ein Messer, das jedoch nicht zur Anwendung kommt. Allein die Aussicht, die dieses Utensil verheißt, macht das Thema zum größtmöglichen: Liebe und Tod. Weder das eine noch das andere findet statt. Für den Tod ist es zu spät und die Liebe ist erloschen. Er hat längst das Interesse an ihrem Körper verloren. Mit jedem anderen Kunden ist seine Liebe ein Stückchen gestorben. Sie ist in ihrer Sehnsucht welk geworden. Lediglich ihre Fantasie hält ihn noch. Er: „Träume von uns. Von dir und mir.“ Und bevor er am Ende in „die Morgenröte in ihrer ganzen Pracht“ nach der „grauen Stunde“ hinausgeht, stellt sie ein letztes Mal ein gemeinsames Leben in Aussicht. Vergeblich.

Die Inszenierung des 1988 geborenen Zino Wey war der Auftakt zur „Laboratorium-Reihe“. Darin kommen die Theatermacher aus der zweiten Reihe zum Zug, die Regisseure, Bühnen- und Kostümbildner, die z.Z. als Assistenten an den Münchner Kammerspielen arbeiten. Eine Innovation, für die den Kammerspielen wiederum höchstes Lob gebührt. Leider hat die Bezeichnung Laboratorium einen Beigeschmack, der den einen oder anderen Theatergänger mit geringer Neigung zu Experimenten abschrecken könnte. Das wäre wirklich schade, denn die Inszenierung von Zino Wey war nicht nur eine handwerklich gestandene Arbeit, sondern darüber hinaus Bühnenästhetik vom Feinsten. Wey entwickelte eine Spielsituation, die von jeglichem Realismus abstrahierte. Die wenigen Texte wurden ohne ausufernde Expression mit höchster Intensität dargeboten. Sylvana Krappatsch und Steven Scharf fesselten mit einem extrem reduzierten Spiel. Die knapp einstündige Vorstellung lebte von den vielen, auch langen Pausen. Der erste Satz wurde zehn Minuten nach Beginn der Vorstellung gesprochen. Die Wucht, mit der die Spannung gebrochen wurde, hatte beinahe Erlösungscharakter. Beide Darsteller agierten mit minimalistischen Haltungen und Gesten, die den Abend zu einem herausragenden artifiziellen Erlebnis machten.

Ziel der „Laboratorium-Reihe“ ist die „Befragung der Gegenwart mit unterschiedlichsten theatralen Verfahrensweisen“. Bereits mit dem ersten Versuch ist den Machern ein großer Wurf gelungen. Dabei spielte die Wahl der Vorlage eine gewichtige Rolle. Es ist ein Text, der weit über jede Realität hinausgeht, dessen Substanz aber fraglos aus der Realität (und nicht nur aus der heutigen) gespeist ist. Es ist ein Kunst-Stück, das kein Verfallsdatum hat.

Zino Wey bewies Mut mit seiner Inszenierung, denn sie verstieß gegen heutige Sehgewohnheiten, die sehr stark von Film und Werbung geprägt sind. Er bewies den Mut zur Verzögerung, zu weichen Schnitten und er gab der Sprache den Vorrang. Es gab Momente im Stück, die wegen der extremen Spannung auch für das Publikum quälend werden konnten. Das hatte Beckettsche Dimensionen. Unterlegt war das Spiel von an- und abschwellendem atmosphärischen Grollen. Man hatte das Gefühl, die Zeit atmen zu hören.

Vermutlich blieb kaum jemand im Publikum unberührt von der Geschichte und dem tiefen seelischen Leid, durch das die Protagonisten unaufdringlich und dennoch deutlich sichtbar hindurchgehen mussten. Es war eine Geschichte zweier Liebenden, die, wie die Königskinder, nicht zueinander kommen konnten. Sie war zudem angefüllt mit erstaunlicher, weil nicht gängiger Poesie, die nie auch nur ansatzweise in die Nähe von Kitsch geriet. Geschichte und Inszenierung war eine gelungene Synthese, was darauf schließen lässt, dass der junge Regisseur und seine ebenso jungen Mitstreiter klare künstlerische Vorstellungen hatten, die sie auch konsequent umzusetzen wussten. Gratulation!

 

Wolf Banitzki

 


Laboratorium 1 - Die Graue Stunde     
von Ágota Kristóf

Sylvana Krappatsch, Steven Scharf

Regie: Zino Wey

 

Werkraum Schnapsbudenbestien Folge 3: Jacques nach Émile Zola


Vom Erwachen der Bestie

„Die Bestie im Menschen“ ist der Titel des Buches von Émile Zola, dem die Geschichte der dritten Episode der „Schnapsbudenbestien“ entleht wurde. Der Titel ist zugleich die umfängliche Beschreibung dessen, was Regisseur Matthias Günther verhandelt wissen wollte. Jacques, der älteste Sohn Gervaises, trifft in Paris seinen Vater Lantier, der nach dem Streik (Folge 2) in den Vorstand der Gesellschaft berufen worden war. Auch Souvarine, der ehemalige Schnapsbudenbetreiber, hat in der Gesellschaft, in der er gemeinsam mit Lantier arbeitete, Karriere gemacht. Er hat Lantiers ehemalige Mätresse Aubry geheiratet, die nach wie vor eine Affäre mit Lantier unterhält. Der eifersüchtige und durch das Verhalten seiner Gattin gedemütigte Souvarine entschließt sich, Lantier zu töten. Um nicht allein die Last der Schuld tragen zu müssen, bindet er seine Ehefrau in den Komplott ein. An dieser Stelle kommt Jacques ins Spiel. Er beobachtet den Mord. Und da Souvarine glaubt, Jacques könne den oder die Mörder identifizieren, umgarnt er den jungen Mann. Jacques und Aubry beginnen eine Affäre und beschließen, nach Amerika zu gehen. Das einzige Hindernis ist jedoch Souvarine, der zwar keine große Begeisterung mehr für seine Ehe aufbringt, dem die beiden aber durchaus berechtigt misstrauen. Es bleibt nur ein Ausweg aus dem Dilemma: Souvarine muss getötet werden. Jetzt erwacht die Bestie in Jacques. Doch die Geschichte endet anders als geplant.

Sina Barbra Gentschs Bühne bestand aus zwei durchscheinenden Wänden, die ein Schattenspiel ermöglichten. So musste kein Blut fließen und dennoch konnten die Taten sichtbar gemacht werden. Die Darsteller konnten ebenso nach den knappen Szenen wieder von der Bildfläche verschwinden. Über allem prangte ein Spruchband mit der Aufschrift „Bazaristan“, was wohl meinte, dass in der vorliegenden Welt alles verhandelbar und käuflich geworden ist. Mara Strikker hatte die Schauspieler mit stilisierten Kostümen ausgestattet, die Aubry als luxuriöses und zugleich libidinöses Wesen definierte. Anna Drexler spielte die zwischen den Männern wandelnde, genusssüchtige Frau kapriziös und mit der standesüblichen (oder auch vermeintlichen) Sensibilität der Bourgeoisie nervös überreizt. Christian Löbers Jacques, in zeitloser Bundlederjacke und grauer Hose ohne Bügelfalte gewandet, war ein dünnhäutiger, unsicherer Mann, der enorm begeisterungsfähig war, der aber auch pathologische Züge aufwies, was erklärte, dass sein Vater Lantier auch nach dessen Tötung noch immer im Kopf des Sohnes herumspukte.

Edmund Telgenkämper im Outfit des gehobenen Bügers gab einen zurückgenommenen, eiskalten und pragmatisch denkenden und handelnden Lantier, der inzwischen in seine soziale Rolle als skrupelloser, menschenverachtender Großbürger hineigewachsen war. Ihm haftete in seinem sozialdarwinistischen Denken etwas mephistophelisches an. Walter Hess in einer aufreizend weißen Felljacke, dessen Souvarine anfangs noch treibende Kraft war, ergab sich seinerseits zunehmand einem ausschweifenden Leben, das ihn finanziell ruinierte. Er nahm mehr und mehr das Los des unausweichlichen Untergangs an.

Wieder gelang es Matthias Günther einen ganzen Roman in nur 55 Minuten zu erzählen. Wieder waren die Vorgänge deutlich und verständlich. Die Charaktere, diese Episode beschränkte sich auf nur vier, waren ausgezeichnet herausgearbeitet und darstellerisch gekonnt präsentiert. An die Tatsache, dass es sich um einen mehr als 120 Jahre alten Roman handelte, erinnerte lediglich die Sprache, die Matthias Günther auch in dieser Episode wunderbar ins Heute transformiert hatte, ohne ihren ursprünglichen Reiz zu beschädigen. Bisher war diese Episode die spannendste, denn sie hatte einen unerwarteten Plot. Günther folgte in seiner Inszenierung nicht der Dramaturgie des Romans, in dem sich Jacques Lantier, er ist Lokführer, seiner dunklen, mörderischen Neigung stets und von Anfang an bewusst ist und der sich selbst isoliert, um nicht Opfer dieser Neigung zu werden. Immerhin deutete Christian Löber in seinem stark körperbetontem Spiel an, dass etwas in ihm hauste und ihn zu verbiegen drohte.

Bleibt noch Nana, die jüngste im Geschwistertrio, deren Geschichte eigentlich die bekannteste ist, und es bleibt auch nach Folge 3 die Spannung auf Folge 4.

Wolf Banitzki

 


Schnapsbudenbestien Folge 3: Jacques

nach Émile Zola

Anna Drexler, Walter Hess, Christian Löber, Edmund Telgenkämper

Regie: Matthias Günther

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