Kammerspiele Schatten von Jon Fosse


 

 

Mehr als nur ein Stück

Auf die Frage an Jon Fosse, ob das Stück ein Versuch über das Jenseits sei, antwortete dieser: "Nicht wirklich. Es ist nur ein Stück." Was der Autor "nur ein Stück" nennt, ist ein fein gesponnener Text aus gehauchten Reflexen, aus einfachstem Wort- und Satzmaterial, aus unendlichen, schwer auszuhaltenden Wiederholungen. Die Figuren sind keine menschlichen Wesen, dingfest zu machen über Charaktere und Spielgestus. Es sind Wesen aus einer vergangenen Welt, die doch zeitgleich weltlich und präsent sind. Würde man alle Jas und Neins im Text streichen und alle Wiederholungen weglassen, blieben wohl kaum mehr als eine Hand voll Seiten übrig, die zu spielen sinnlos wären.

Wie ist es dann zu verstehen, dass eine so grandiose Inszenierung herauskam, die an Becketts "Warten auf Godot" erinnert? Fosse ist, wie er selbst bekennt, ein intuitiver Schreiber. Diese Methode der Dichtung ist seit James Joyce unbestritten. Das Ganze funktioniert wie folgt: Ein Dichter hat einen Grundeinfall, weiß jedoch nicht, wie er zum Ziel gelangen soll und überlässt das Schreiben vornehmlich seinem Unterbewusstsein, das mindestens ebenso leistungsfähig ist wie das Bewusstsein. Am Ende steht allerdings ein Werk, das selbst für den Autor Mysterien birgt, die vom Dichter selbst, von dem Leser oder, wie hier geschehen, vom Regisseur entschlüsselt werden müssen. Das gelingt in der Regel nicht mit der ersten Inszenierung schlüssig. (Siehe auch die Inszenierungstradition von "Godot".) So ist es ein riskantes Unterfangen, denn sehr schnell kann ein wertvolles Stück ins Abseits und ins Vergessen geraten.
 
   
 

Hildegard Schmahl, Hans Kremer, Brigitte Hobmeier, Edmund Telgenkämper, Lena Lauzemis, Christoph Luser

© Andreas Pohlmann

 

Regisseur Laurent Chétouane leistete seinerseits außerordentliches, wenngleich die Inszenierung beim Publikum nicht unumstritten ist und sein wird. Er näherte sich dem Text, der weder über einen Erzählstrang, noch über deutliche Charaktere im Sinne von tradierten Rollen verfügt, auf ganz besondere Weise. Der Schauspieler, Darsteller von Haltungen und Eigenschaften, wird zum "Ort des Aussagens". Der Effekt ist verstörend, denn gestisches oder mimisches Spiel findet, wenn überhaupt, nur in kaum wahrnehmbaren Ansätzen statt. Eine Bewertung der schauspielerischen Leistung wäre also nicht nur fehl am Platz, sie ist schlichtweg unmöglich.


Was passiert auf der kargen Bühne, gestaltet von Marie Holzer und Laurent Chétouane, die eine Straße vorstellt, eingebunden in Leitplanken und geteilt durch erhöhte Mittelstreifen? Diese Straße ist kein wirklicher Ort, denn sie sprengt das Theater völlig, beginnt mit der Eingangstür in den Zuschauerraum und verliert sich im Dunkel des Bühnenhintergrundes. Sie ist die denkbar größte Metapher, das Leben an sich und darüber hinaus ebenso der Tod, der die ungehinderte Fortsetzung bildet.

Auf dieser Straße begegnen sich Menschen, die allesamt miteinander verbunden sind oder es zumindest waren. Der Vater (Hans Kremer), begegnet der Mutter (Hildegard Schmahl), also seiner Frau. Der Mann (Edmund Telgenkämper), ihr gemeinsamer Sohn, trifft das Mädchen (Lena Lauzemis), seine einstige Ehefrau und beide gemeinsam treffen seine Eltern. Der Freund des Mannes (Christoph Luser) taucht auf und eine weitere Frau (Brigitte Hobmeier) gesellt sich ihnen zu. Alle sind voller Verwunderung über den Ort, den sie zu kennen scheinen, sich aber nicht wirklich erinnern können. Ihr wieder erkennen gelangt über knappe Aussagen, dass man sich freue, etc. kaum hinaus. Es ist kein geselliger Ort und eigentlich möchten alle ihn wieder verlassen. Der Aufbruch geschieht jedoch nicht, es bleibt immer und immer nur bei der Ankündigung. Zwei Stunden tonloser Wiederholungen einfachster Aussagen, die nicht selten auf ein Ja oder Nein beschränkt sind, entfesseln keinerlei Aktion.

Schmerzlich ist es anzuschauen, ohne Frage, doch wer glaubt, hier werde ein Publikum gequält, fehlt weit. Fosse erzählt eine ganze Familiensaga, ohne darüber zu sprechen. Er spricht von Liebe und Verrat, von Weggang und Wiederkehr, von Leben in Sehnsüchten und dem Sterben der Sehnsüchte und ihrer Träger. Die Beziehungen der Figuren werden ganz langsam sichtbar, gestalten sich im Auge des Betrachters. Es ist ein verblüffender Vorgang, denn er kommt ohne Schauspiel und fast ohne Sprache aus. Dabei charakterisiert der Autor unterschiedlichste Menschenbilder unserer heutigen Gesellschaft ohne zu richten, ohne sich über sie zu erheben. Diese Wesen haben keine Namen, sind somit Archetypen der Moderne und in einem erschütternden Maße haltlos. Fosse bekennt, hier gibt es nicht einmal mehr einen Godot!

Diese hochartifizielle Inszenierung, die einem Ballett nicht unähnlich ist, leistet noch etwas, was man heutzutage nur selten zu sehen und vor allem zu hören bekommt. Sie spielt auf faszinierende Weise mit der Semantik der Wörter. Hier sein und da sein, verkehrt sich in der schlichten Wiederholung in hier Sein und Dasein. Die Frage nach dem Existenziellen bekommt plötzlich ein gewaltige Dimension und schwappt, wenn der Zuschauer es denn zulässt, auf ihn über.

Das außergewöhnliche Werk ist nicht nur ein erstaunlicher theatralischer Beitrag sondern auch ein sinnvoller philosophischer Exkurs mit gänzlich neuen Mitteln und vor allem neuen Argumenten. Fosse erhebt wieder einmal die Sprachlosigkeit zur ausdrucksstarken Sprache und entbanalisiert dabei verschlissenes Material. Hier bedarf es der Rückkehr zur Sensibilität für den einfachen Ton und seine Vieldeutigkeit, der im Geschrei der Welt versunken ist.

Das Publikum der Premiere war zutiefst gespalten. Wer unterhaltsames Theater erwartet, wird enttäuscht. Wer nicht bereit ist, seinen Teil zu leisten, damit das Stück im Auge des Betrachters wachsen kann, wird sich vielleicht sogar verhöhnt fühlen. Wer jedoch diese Strapazen auf sich nimmt, wird diesen Abend nicht vergessen.

Und wenn alle Beteuerungen über die Qualität des Abends nicht greifen, bleibt nur zu hoffen, dass es dem Stück und der Inszenierung so ergeht wie "Warten auf Godot". Roger Blin hatte das Drama am 5. Januar 1952 im Théâtre de Babylone zur Uraufführung gebracht. Das empörte Publikum empfahl allen Bekannten und Freunden, sich diese "Schweinerei" doch einmal anzuschauen. Fortan waren die Vorstellungen über Jahre ausverkauft.

 
Wolf Banitzki

 

 


Schatten

von Jon Fosse

Hans Kremer, Hildegard Schmahl, Edmund Telgenkämper, Christoph Luser, Lena Lauzemis, Brigitte Hobmeier

Regie: Laurent Chétouane

Kammerspiele Drei Schwestern von Anton Tschechow


 

 

Mogelpackung

Es sind die Träume, die Sehnsüchte, die Wünsche, die die Menschen am Leben erhalten, sie von Minute zu Minute, Stunde zu Stunde, Tag zu Tag tragen. Träume, Sehnsüchte, Wünsche wirken auch dann noch, wenn das Dasein nicht mehr Leben genannt werden kann, weil es nur noch ein vegetieren ist. Sie wirken auch dann noch, wenn der Mensch längst gescheitert ist, weil er zwangsläufig scheitern muss, immer scheitern wird.

Diese unabwendbare Tatsache begegnet uns in den Zeiten des Zerfalls augenscheinlicher, als zur Zeit scheinbaren Fortschritts. Anton Tschechow war sie gegenwärtig, erlebte er doch den beginnenden Zerfall des zaristischen Russland, seiner bürgerlichen Gesellschaft, welche sich nur noch am Gespinst der dünnen Fäden intellektuellen Gedankenguts festhielt. Mit dem analytischen Blick eines Arztes, der die Tiefen der Seele auslotet und die Feinheit ihrer Machart kannte, beschrieb er in seinen Dramen bereits Vegetierende, denen das Leben zwischen den Gedanken hindurch ins Schweigen, ins Nichts lief.

Drei Schwestern hängen in einer kleinen Garnisonsstadt fest. Sie sind vor Jahren ihrem Vater, einem Brigadegeneral, gefolgt. Doch der Vater verstarb und sie finden allein den Weg zurück nach Moskau nicht. Moskau, die gelobte Stadt, mit der sie die Erinnerungen an eine glanzvolle Jugend verbinden, nährt die Flamme der Sehnsucht. So machen sie ihre Hoffnungen am Bruder Andrej fest, der sie, nachdem er als Wissenschaftler anerkannt wurde, wieder an das "Herz des Lebens" führen soll. Doch dem Bruder fehlt das Format, er schafft es nur in den Kreisrat, protegiert durch den Liebhaber seiner Frau. Zudem verpfändet er das gemeinsame Erbe, das Haus, in dem sie leben, um Spielschulden zu begleichen. Seine Hoffnungen hängen nun an seiner Frau Natalja, die daraufhin die Herrschaft im Haus übernimmt. Die Sehnsucht der Schwestern nach Moskau wächst. Ein wenig Abwechslung bieten die Herren aus dem Regiment, an ihnen lässt sich auch Hoffnung festmachen.
Irina, die Jüngste der Schwestern arbeitet als Telefonistin, schließlich gibt sie dem Werben des Barons nach. Er liebt Irina, doch die Liebe ist einseitig und er zieht den Tod im Duell einer Ehe vor. Mascha, verheiratet mit einem Lehrer, liebt den Batteriechef, der zuvor ihren Bruder protegierte. Doch das Regiment wird abberufen und die Stadt in noch tiefere Bedeutungslosigkeit fallen. Olga ist Lehrerin, sie leidet, da die Kraft der Jugend sie verlässt und die Sehnsucht nicht mehr nähren kann, die Sehnsucht nach Leben, Liebe und nach Moskau. "... Die Zeit wird verrinnen, einst werden auch wir für ewig von hinnen gehen, die Menschen werden uns vergessen, sie werden sich nicht mehr an unsere Gesichter und Stimmen erinnern, nicht mehr wissen, wie viel wir waren, aber unsere Leiden werden sich für die, die nach uns kommen, in Freude verwandeln, Glück und Frieden werden auf Erden herrschen, und die Menschen werden mit guten Worten und dankbaren Gefühlen derer gedenken, die jetzt leben. Oh, meine lieben Schwestern, unser Leben ist noch nicht zu Ende. Wir werden weiterleben. Die Musik spielt so heiter, so fröhlich, und man möchte meinen, nur noch ein kleines Weilchen, und wir erfahren, weshalb wir leben, weshalb wir leiden .. Ach, wenn wir's doch wüßten, wenn wir es wüßten!"
 
   
 

Oliver Mallison, Tanja Schleiff, Annette Paulmann, Sylvana Krappatsch, Katharina Schubert, Paul Herwig

© Arno Declair

 

Das Gespinst der Beziehungen zwischen den einzelnen Figuren ist fein und vielschichtig. Nie lässt es sich an einem Punkt festmachen, und doch brechen die Hoffnungen bei allen an den selben Stellen hervor, werden vom Gegenüber erwidert oder verschwenden sich. Tschechows Blick auf diese Wirklichkeit ist nüchtern, nicht wertend und läge damit ganz im Geist des Heute.


Wenn man das Originalwerk kennt, ist diese Inszenierung insofern von Interesse, als an ihr die Entfernung des Menschen von sich selbst erkennbar wird. Jeder Versuch, die Realität zu ändern, scheitert. Die Darstellung dieser Vorgänge lag jedoch kaum in der Absicht des Regisseurs. Er brach das Drama nicht künstlerisch, um zu neuer Qualität oder Betrachtung zu gelangen, sondern er setzte auf plakative Elemente wie Wunschzettel oder Luftballons und betrieb damit eindeutige Gesellschaftsreflektion. Wem es gefällt, wenn Zeitgeistplattitüden, hohle Hysterie und banales Befindlichkeitspathos die Bühne beherrschen, der wird Gefallen finden an dieser drei und einviertel Stunden dauernden Aufführung.

 
C.M.Meier

 

 


Drei Schwestern

von Anton Tschechow

Oliver Mallison, Tanja Schleiff, Annette Paulmann, Sylvana Krappatsch, Katharina Schubert, Paul Herwig, Bernd Grawert, Renè Dumont, Bernd Moss, Jean-Pierre Cornu, Stefan Merki, Walter Hess

Regie/Bühne: Andreas Kriegenburg

Kammerspiele Die Probe (Der brave Simon Korach) von Lukas Bärfuss


 

 

Wenn die Stimme des Blutes verstummt

Peter Korach, Sohn des sich im Wahlkampf befindenden Politikers Simon Korach, hat einen Vaterschaftstest machen lassen. Verführt dazu hat ihn Franzeck, Ex-Junkie, der bei den Korachs ein Zuhause gefunden hat. Er meint, "sicher könne man nie sein". Peter steht dem Ergebnis wie einem apokalyptischen Ereignis gegenüber. Simon dessen Wahlkampf in die entscheidende Phase eintritt, ist überfordert und lässt die Mutter einfliegen. Die hält sich zum "Atmen" in einem indischen Ashram auf. Die Familie ist komplett und ringt um Lösungen. Die Geschichte darf erst einmal nicht an die Öffentlichkeit gelangen, warnt Franzeck, der gerade nach dunklen Punkten in der Vergangenheit des Gegenkandidaten Gruber sucht. Und schließlich meint man, Peter solle sich doch nicht so haben. Immerhin denken und fühlen alle humanistisch und da sei es doch gar nicht so von Belang, wer der biologische Vater sei. Doch diese Überlegenheit schwindet sehr schnell, als auch bei Simon Zweifel darüber aufkommen, ob Peter tatsächlich sein Sohn ist.

Lukas Bärfuss, Jahrgang 1971 und einer der erfolgreichsten Dramenautoren unserer Zeit, verfasste das Stück "Die Probe" im Auftrag der Münchner Kammerspiele. Diese Zusammenarbeit erwies sich als äußert fruchtbar. Heraus kam ein aktueller Diskurs in gelungener dramatischer Form, die zudem noch kongenial von Regisseur Lars-Ole Walburg in Szene gesetzt wurde. Autor Bärfuss nähert sich dem Thema von zwei Seiten. Er zeigt auf, welche Konsequenzen die neuen Technologien in der Medizin für die Psyche der Menschen haben. Zwar konnte man bislang "nie wirklich sicher sein", aber herausfinden konnte man es auch nicht. Das ist anders geworden. Der zweite Aspekt ist der des Marktes. Die Tests sind Angebote, die verkauft werden sollen und wo ein Bedürfnis nicht da ist, muss es geweckt werden. Das hat natürlich fatale Folgen. Männer lassen diese Proben häufig heimlich machen und hintergehen damit vorsätzlich ihre Frauen. Die Großartigkeit des Gefühls Vertrauen hat keine Existenzberechtigung mehr, denn man kann ja schließlich wissen. Vielleicht ist es genau dieser Vorgang, der einen Paradigmenwechsel im Gefühlsuniversum des modernen Menschen eingeläutet hat. Dass es einen Wandel zur pragmatischen und leidenschaftslosen Beziehung gibt, ist unbestritten.
 
   
 

Hans Kremer, Gundi Ellert, Stefan Merki

© Arno Declair

 

Leider konnte Lukas Bärfuss die entscheidenden Antworten nicht geben, die es in der Psychologie längst gibt. In einer Welt, die auf Besitz gründet, werden auch Kinder (für den Besitzenden mehr oder weniger deutlich) als Besitz begriffen. Dieser Eigentumsanspruch gründet sich auf die Tatsache, dass "mein Kind" aus "meinem Fleisch und Blut" ist. Wenn sich nun herausstellt, dass dem nicht so ist, erlischt dieser Anspruch automatisch. Das natürliche Verhältnis der Vaterschaft gründet sich jedoch auf eine starke "Bezogenheit". Sie und kein anderer Ansatz ermöglicht echte Vaterschaft.


Vorbei an dieser grundsätzlichen Einsicht, die wohl auch aus kommerziellen Gründen keine breite Basis in der Bevölkerung hat, wurde vom Autor Bärfuss breit diskutiert. Schaut man sich das Interview mit ihm im Programmheft an, so wird deutlich, dass er intensiv über die Konsequenzen in ihrer ganzen Komplexität nachdachte. Eine wirkliche Hilfe war das den (möglicherweise auch im Publikum) Betroffenen nicht.

Der Leser sollte sich nicht schrecken lassen von all der Theorie. Auf der Bühne hat das Ganze einen sehr unterhaltsamen, spannenden und überraschenden Charakter. Lars-Ole Walburg, der sich auch in München einen Namen als (Text) Zerstörer gemacht hat, leistete in dieser Inszenierung erstaunliches und demonstrierte mit dieser Arbeit, dass er durchaus konstruktiv gestalten kann. Ohne szenische Ausschweifungen organisierte er das Spiel diszipliniert und hoch artifiziell. Auf einer kippbaren Drehbühne von Robert Schweer, die alle Wohnbereiche des Korachschen Hauses deutlich beschrieb, versanken die Protagonisten allmählich in ihren eigenen Verletzlichkeiten, Unzulänglichkeiten und Erbärmlichkeiten.

Hans Kremer gab den Simon abgeklärt und erst in der höchsten Not wurde der Politiker menschlich. In diesen Augenblicken der Wahrheit unterschied sich der moralisch ach so integere Mann nicht mehr von seinen Zeitgenossen. Oliver Mallisons Peter startete mit einem wuchtigen Prolog in höchster Verzweifelung, erkannte später die Chance der Liebe und versank nach seinem Ableben in bildhaftem Zynismus. Ehefrau und Mutter Helle Korach wurde von Gundi Ellert gespielt, die einmal mehr ihre darstellerische Brillanz durchschimmern ließ. Umwerfend komisch und erschütternd zugleich gab Stefan Merki den Franzeck, der in seiner Anlage durchaus Züge des Woyzeck trug. Seine Gestaltung zeichnete im Wesentlichen für die beklemmende Grundstimmung verantwortlich, der man sich auch oder gerade wegen der tragisch-komischen Momente nicht entziehen konnte. Er, der keine Familie hatte und vergebens um den letzte Bezug rang, wurde verstoßen und in den Alkohol zurück geschleudert. Stefan Merki ließ den Betrachter erschauern.

Es ist ein bemerkens- und empfehlenswerter Abend, thematisch und künstlerisch fesselnd. Denn, "wenn die Stimme des Blutes verstummt", zeigt sich wie vorurteilfrei und aufrichtig die Liebe war. Das sind dann die Augenblicke, in denen die Menschen echte Größe zeigen können und nicht selten in ihrer Krämerseligkeit kläglich versagen.

 
Wolf Banitzki

 

 


Die Probe (Der brave Simon Korach)

von Lukas Bärfuss

Hans Kremer, Oliver Mallison, Katharina Lorenz, Stefan Merki, Gundi Ellert

Regie: Lars-Ole Walburg

Kammerspiele Glaube Liebe Hoffnung von Ödön v. Horváth


 

 

Wenn nichts anderes übrig bleibt …

Gerhard Matzig, Leitender Feuilleton Redakteur der Süddeutschen Zeitung, schrieb in dem im Programmheft abgedruckten Artikel "Horváths Lehren": "Horváth (…) bezog sich noch auf die Weimarer Republik und furchtbare Kämpfe um wirtschaftliche Lasten und sozialen Ausgleich. Man wähnte sich am Vorabend eines grausamen Bürgerkriegs, der dann in die Nacht eines sehr viel größeren Kriegs führte. Weit, sehr weit sind wir von solchen Zuständen entfernt." Sind Sie sicher, Herr Matzig? Glauben Sie, Herr Matzig, nur weil Gewalt - reale Gewalt - als unschicklich gilt, wird sie nicht mehr stattfinden? Viele kritische Geister, die über alles reden können, vornehmlich in Talkshows, und zu allen Fragen eine Meinung haben, ignorierten zu allen Zeiten ein gesellschaftliches Element, das unabdingbar in jeder gesellschaftlichen Katastrophe ein überragende Rolle spielt: die Trägheit der Masse. Gesellschaftliche Massen geraten sehr, sehr langsam in Bewegung, doch wenn sie in Bewegung geraten sind, besitzen sie soviel potenzielle Energie, dass nichts mehr steuerbar ist. Und dann reiben sich die Politiker, eine Bezeichnung, die längst nicht mehr zutreffend ist, die Augen und verstehen nicht.
 
   
 

André Jung, Brigitte Hobmeier

© Arno Declair

 

Dabei ist es doch ganz einfach. Man gehe in die Münchner Kammerspiele, schaue sich "Glaube Liebe Hoffnung", durchaus eine geschichtliche Parabel, an und lasse das Gesehene und Gehörte auf sich wirken. Dort wird die Geschichte der fahrenden Händlerin Elisabeth erzählt, die, einmal in die Mühlen der Justiz geraten, unaufhaltsam absteigt, bis nur noch der Tod ihr ein Ausweg sein kann. Elisabeth ist intellektuell nicht unbedingt gesegnet und an Schulbildung mangelt es ebenfalls. Aber sie liebt das Leben, glaubt, ein verbrieftes Recht darauf zu haben und lässt darum den Kopf nicht hängen. Nichts an der Geschichte ist unglaubwürdig, weder die menschliche Kälte derer, die die Gesellschaft ausmachen, noch die Unberührbarkeit des Staates, der, angeblich zum Wohle des Menschen geschaffen, einzelne Individuen zermalmt, und die Wohlfahrt einiger weniger beschützt. Dabei ist diese Geschichte nicht einmal Fiktion, sondern sie hatte einen authentischen Hintergrund.


Eine Empfehlung und als solche kann der Leser diese Besprechung getrost nehmen, sollte gut begründet werden. Der wichtigste Grund ist, dass die Geschichte nicht in der Bild- oder einer anderen Zeitung oder im TV gezeigt wird, sondern im Theater. Die ersten beiden Medien haben keine aufklärerische Funktion mehr. Sie wollen nur noch informieren, handeln also mit der Ware Information, was ein rein kaufmännischer Vorgang ist. Das Theater hingegen berührt den Zuschauer und verändert ihn durch emotionale Vorgänge, welche Entscheidungen herausfordern. Wenn man in "Glaube Liebe Hoffnung" ein Unbehagen fühlt, dann ist dieses Gefühl realistisch, weil es genau die Ängste freisetzt, die seit längerem schon in der Gesellschaft unter der Decke brodeln. Information (Medien) und Politik setzen alles daran, diese Ängste wegzuleugnen oder durch primitiv kausale Erklärungen zu entschärfen. (Siehe Unterschichtenddebatte, die nur zwei Wochen lang anhielt.) Doch Vorsicht, man sollte die Trägheit der Masse nicht unbeachtet lassen. Sie beginnt bereits, destruktive Energien aufzunehmen und zu speichern. "In jedem von uns schlummert zum Beispiel ein Attentäter."

Aber da es sich ja um ein Theaterereignis handelt, kann die gesellschaftliche Relevanz allein kein überzeugender Grund für ein Empfehlung sein. Befragt, ob man sich dem künstlerischen Ideal - Einheit von Inhalt und Form - nähern konnte, gibt es nur eine Antwort: in höchstem Maße. Stefan Kimmig schuf eine Inszenierung, die sich auf zwei Säulen stützt, den Text und die Darstellung der Schauspieler. Das gelungene Bühnenbild von Martin Zehetgruber ist schwerlich als ein solches zu bezeichnen, bestand es doch lediglich aus einem den halben Bühnenraum verblendenden Plastikvorhang und eine mit Wasser geflutete Vorderbühne. Es gab kein einziges Requisit, außer der Dinge, die die Darsteller bei sich trugen. Kimmig erreichte damit ein völlige Zeitlosigkeit und vermied jede vordergründige Anspielung auf reale Vorgänge, was ein Höchstmaß an Bühnenrealität und ein geradezu diabolische Suggestion schuf. Die Szenenwechsel bedurften keiner Auf- oder Abgänge, Vorhänge oder ähnliches. Das Licht steuerte den Fortgang der Geschichte. An und Aus bedeuteten bei Kimmig alles, Zeit, Raum und Fortschreiten.

Wer nun glaubt, diese düstere Geschichte sei ausschließlich niederdrückend und depressiv, der kennt Horváth nicht. Regisseur Kimmig kennt ihn nicht nur, er muss ein tieferes Verhältnis zu diesem genialen Künstler haben, denn er folgte den Einflüsterungen des Meisters und verschenkte nichts. Das Publikum hatte viel, sehr viel zu lachen. Dieses Lachen wurde nicht durch Gags oder dramaturgische Einschübe erzeugt, sondern entsprang der Fantasie der Zuschauer, die die allgemeingültigen menschlichen Schwächen in aller Deutlichkeit sahen und der ironisierenden Sicht- und Denkweise der Inszenierung folgten. Dieser Vorgang war nicht nur voller Wahrheit, sondern auch voller Schönheit, der Schönheit eines kollektiven Traums, der ohne Wenn und Aber in das Publikum schwappte. Der wichtigste Grund für diesen Erfolg war zweifellos in der Darstellung zu finden. Stephan Kimmig verführte die Akteure zu einem sehr menschlichen, aber auch wohlbemessenen artifiziellen Spiel. So fand im abstrakten Umfeld der bezugslosen Bühne eine gesellschaftlicher Reigen - oder Totentanz, wie Horváth es nennt - statt, der die Fantasie des Zuschauers zügellos machte. Das Ensemble war durchweg exzellent. Hervorgehoben sein dennoch André Jung, dessen Selbstentfremdung in der Rolle des Präparators soweit führte, dass er seinen eigenen sozialen Aufstieg nicht einmal mehr wahr nahm. Gundi Ellert verkörperte als Frau Amtsgerichtsrat eine Figur, die in allen Horváth - Stücken zu finden sind. Es handelt sich um die Menschen, die auch in schier aussichtslosen Situationen um Menschlichkeit ringen. Wie komisch dieses Bemühen ausschauen kann, führte Gundi Ellert exemplarisch vor. Und wenn von komischen Rollen die Rede ist, soll Wolfgang Pregler nicht unerwähnt bleiben, der als Baron, Amtsgerichtsrat und Vizepräparator gleich in drei Rollen schlüpfte, die von Horváth als demaskierend angelegt waren. Am wichtigsten war diese Inszenierung zweifellos für Brigitte Hobmeier, die mit ihrer Leistung als Elisabeth im Ensemble der Kammerspiele angekommen ist.

Zurück zum Inhalt des Stückes. Nein, die Moral von der Geschichte soll nicht angehängt werden, vielmehr ein Denkanstoß in Bezug auf die Realitäten außerhalb des Theaters. Ödön von Horváth meinte: "Ich habe keine Angst mehr vor dem Denken, seit mir nichts anderes übrig bleibt." Was geschieht, wenn das Pisaprekariat - dieses Wort sollten Sie genießen - voranschreitet? Das Denken wird dann nicht die vornehmliche Eigenschaft der Massen sein. Dann würde es heißen: "Wir haben keine Angst mehr vor dem Handeln, seit uns nicht anderes übrig bleibt."

 
Wolf Banitzki

 

 


Glaube Liebe Hoffnung

von Ödön v. Horváth

Brigitte Hobmeier, Edmund Telgenkämper, André Jung, Stephan Bissmeier, Wolfgang Pregler, Gundi Ellert, Michaela Steiger, Lena Lauzemis, Peter Brombacher, Bernd Moss

Regie: Stephan Kimmig

Kammerspiele Prinz Friedrich von Homburg von Heinrich v. Kleist


 

 

Homburgs Errettung

Prinz Friedrich Arthur von Homburg ist ein junger Mann, begeisterungsfähig, voller Ideale und ein Träumer. Am Vorabend der Schlacht von Fehrbellin erkennt er seine Liebe zur Prinzessin Natalie. Seine Sinne vibrieren im Liebesrausch. Als der Kurfürst von Brandenburg, Friedrich Wilhelm, seine Befehle für die Schlacht ausgibt, träumt der junge Prinz vom Eheglück und als der Geschützdonner ihn aus seinen Träumen reißt, sprengt der Heißsporn in die Schlacht, um sie für seinen väterlichen Freund zu schlagen. Er ist der Held und gleichermaßen verloren, denn er missachtete die Befehle. Das Kriegsgericht kennt nur ein Urteil. Tod.

In wohl keinem Stück Kleists ist der Dichter selbst in seiner ganzen Zerrissenheit und Tragik so präsent wie im Drama "Prinz Friedrich von Homburg". Heinrich von Kleist, der einem der ältesten und erfolgreichsten Offiziersgeschlechter entstammte und mit sechzehn Jahren schon den Krieg als Soldat am eigenen Leib erfuhr, scherte aus der Familientradition aus. Dieser Schritt belastete ihn selbst schwer. Er fühlte sich lebenslang in der Pflicht, etwas Außergewöhnliches zu vollbringen, um seinen Schritt zu rechtfertigen. Den "Lorbeer wollte er Goethe vom Haupte reißen", wie er selbst gestand.
Die Philosophie sollte ihm zum Ruhm gereichen. Doch als ihm Kants Werke ("Kritik der reinen Vernunft" und "Kritik der Urteilskraft") in die Hände fielen, der meinte, die letzten Wahrheiten werden dem Menschen verschlossen bleiben, verlor er den Boden unter den Füßen.
Die Frauen, die er so heftig begehrte und verehrte, wollte er sich aus dem Herzen reißen. Einzig platonische Beziehungen erlaubte er sich, und um der "Qual" und den daraus erwachsenden Gefahren seiner Triebhaftigkeit zu entfliehen, zog er sogar eine Selbstentmannung in Erwägung. Eine vorzeitig erschöpfte Reisekasse verhinderte dies wohl. Als sich Kleist nach einem, wie er selber glaubte, erfolglosen Leben am 21.11.1811 nach einem gemeinsamen Picknick mit der krebskranken Freundin Henriette am Ufer des Kleinen Wannsees bei Berlin die Kugel gab, war er 34 Jahre alt. Wenige Wochen zuvor war dem Dichter, der nie eines seiner großartigen Stücke auf der Bühne sehen konnte, die Wiedereinstellung als Offizier in Aussicht gestellt worden.
Heinrich von Kleist, ein reiner und von höchsten Idealen erfüllter Mensch, musste immer wieder die Ironie des wahren Lebens erfahren, zuletzt noch bei seinem Freitod, denn er starb nicht durch die Kugel, sondern er erstickte an den Pulverdämpfen der in den Mund abgefeuerten Pistole.
 
   
 

Christoph Luser, Sandra Hüller, Paul Herwig

© Arno Declair

 

Wer kann angesichts der Lebensumstände Kleists die Ironie des Schicksals des Prinzen von Homburg als tiefe Selbsterfahrung des Dichters übersehen? Nun, viele Inszenierungen taten dies in der Vergangenheit und so war die "deutsche Sicht" auf den Konflikt nicht selten eine politische. Kleists Homburg rührt uns nicht an, weil eine vordergründig deutsche - oder schlimmer noch - preußische Geschichte erzählt wird, sondern weil von einem idealistisch beseelten liebenden Menschen die Rede ist, der in jedem Fall, wie auch Kleist selbst, an der Realität scheitern muss.


Regisseur Johan Simons verstand es, genau diese Sicht auf der Bühne der Kammerspiele zu erzeugen. Jan Versweyveld hatte ihm dafür den Raum geschaffen. Der Prinz verharrte in einem Spiegelkabinett, gefangen in Selbstreflexionen und in idealistischen Gaukeleien, die mit der Realität wenig gemein hatten. Einzig eine Kloschüssel erinnerte daran, dass im idealen Wesen auch ein animalisches Wesen steckt. Johan Simons ließ langsam spielen, Wort für Wort. Die Schönheit der Kleistschen Sprache, von kaum einem deutschen Dramendichter übertroffen, blühte in voller Pracht. Geschickte Brüche, von allen Darstellern fabelhaft gesetzt, verhinderten dabei jegliche Romantik und überbordendes Pathos. Simons Inszenierung erbrachte einmal mehr den Beweis, dass sowohl die Figuren wie auch der Konflikt heutig ist und es wohl auch immer bleiben wird.

Die dramaturgischen Eingriffe waren dabei erheblich. Von den dutzenden Rollen ließ man ganze sechs übrig, ohne dass es dem Erlebnis Abbruch tat. Paul Herwig gab einen sensiblen, gelegentlich somnambulen Homburg, der innere Kämpfe mit vergleichsweise wenigen Mitteln deutlich machen konnte. Ihm zur Seite Christoph Luser, der als Graf Hohenzollern einen glaubhaft mitfühlenden jugendlichen Freund gab. Seine Gestaltung war von äußerster Klarheit und Prägnanz bestimmt. Sandra Hüller, sie war als Natalie von Kostümbildnerin Nadine Grellinger eher androgyn gezeichnet worden, entfaltete in entscheidenden Augenblicken die vom Zuschauer ersehnte weibliche Sinnlichkeit. Anré Jung durchbrach als Kurfürst von Brandenburg immer wieder die staatsmännische Pose und erzeugt über dezente Momente der Komik echte Menschlichkeit. Das Ensemblespiel war perfekt und fesselnd. Und das war auch notwendig, denn es gab keine deutlich sichtbaren Szenenwechsel. Alles spielte sich in einem verspiegelten Quadrat ab. Einzig Auf- und Abgänge waren Hinweise dafür, dass sich Raum und Zeit änderten. Dennoch blieb alles überschaubar und verständlich.

Johan Simons Inszenierung hatte viele Qualitäten. Die bedeutendste war unbestritten ihre Unambitioniertheit in Bezug auf die Aussage. Ohne vordergründige oder gar aufgesetzte Botschaft entließ sie die Zuschauer mit der klaren und wohl auch unbestechlichen Sicht auf den Konflikt. Die Schlüsse kann zwar jeder für sich ziehen und doch wird die Übereinstimmung beim Finden der Antworten groß sein. Selbst die starken militaristischen Momente, die leider im Stück nicht zu umgehen sind, verloren ihre unbestreitbar propagandistische Potenz.

Johan Simons intelligente und wegweisende Inszenierung könnte die Kopf- und Visionslosigkeit heutigen "modernen Theaters" überwinden helfen. Leider ist der semantische Unterschied zwischen Theater der Moderne und modisches Theater weitestgehend unbekannt. Daher wird mir der begeistert artikulierte Satz eines Zuschauers beim Verlassen des Theater lange im Bewusstsein bleiben. Markiert er doch einen wesentlichen Aspekt heutigen Theaters. "Man kann Kleist also auch modisch machen." Ja, die Sprache ist verräterisch …

 
Wolf Banitzki

 

 


Prinz Friedrich von Homburg

von Heinrich v. Kleist

André Jung, Annette Paulmann, Sandra Hüller, Paul Herwig, Stephan Bissmeier, Christoph Luser

Regie: Johan Simons
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