Kammerspiele Die Bakchen von Euripides
Diese Gesellschaft ist am Ende
"Dem Dionysos widerstehen heißt einen Teil der eigenen Natur unterdrücken." (E.R. Dodds: "Die Griechen und das Irrationale") Dieser Satz birgt den Schlüssel zum Verständnis des Stückes von Euripides und auch der Inszenierung an den Münchner Kammerspielen in der Regie von Jossi Wieler. Die Geschichte konnte zwar kein Aufsehen zu Lebzeiten des Dichter mehr erregen, denn er war ein Jahr vor der Uraufführung verstorben, doch in allen nachfolgenden Zeitaltern rieben sich Theatermacher daran und wenn Dodds meinte, das Stück sei "one of the greatest of all tragedies", muss ihm zugestimmt werden.
Pentheus, König von Theben, ein aufgeklärter Politiker, der auf ein befriedetes Reich schauen kann, sieht sich durch Dionysos mit einer Gefahr konfrontiert, die nicht beherrschbar scheint. Der Bakchoskult lässt alles aus den Fugen geraten. Der Versuch, den Übeltäter, einen "vermeintlichen" Gott, dingfest zu machen, zerrüttet sein Reich. Dionysos ist aber nicht nur gekommen seinen Kult einzuführen, er kam, um die Thebaner für ihre Ignoranz gegen seine göttliche Abkunft zu strafen. Die Strafe ist der Untergang Thebens. (Näheres siehe auch in der Kritik zur Premiere "Die Bakchen" im Residenz Theater auf der gleichen Website.)
Es ist immer ein spannender Vorgang, wenn zwei Theater dasselbe Stück auf die Bühne bringen, denn der Zuschauer sieht sich gleich zwei Sehweisen gegenüber und bekommt die Chance zu einem tieferen Verständnis. Es soll dennoch kein Vergleich angestellt werden, denn dieses Vergnügen sei dem Zuschauer selbst überlassen. Vorab soll aber trotzdem angemerkt werden, dass Jossi Wieler mit dieser Arbeit wieder ein Geniestreich gelungen ist, denn er erbrachte den uneingeschränkten Nachweis für die brandheiße Aktualität des 2400 Jahre alten Werkes. Es ist zugleich auch eine späte Rehabilitation Euripides, der seine Heimat als Unverstandener verließ und zu den "Barbaren" überlief.
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Hildegard Schmahl, Peter Brombacher, Hans Kremer, Wiebke Puls, Robert Hunger-Bühler, Sylvana Krappatsch
© Arno Declair
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Jens Kilian gestaltete mit seinem Bühnenbild auf den ersten Blick einen deutlichen Zeitbezug. Der Palast des Pentheus glich einer Designerwohnung im Penthausstil. Weiß, weißer ging es kaum, entlarvte der Bühnenbildner heutige Architektur, die menschenfeindlicher, steriler kaum sein kann. Pentheus selbst war Bestandteil dieser unmenschlichen Welt, weil stets darauf bedacht, diese perfekte Ordnung pedantisch aufrecht zu erhalten. Es sei daran erinnert, dass Perfektion keine Tugend ist, sondern nur die Abwesenheit von "Fehlern" bedeutet. Kilian illustrierte auf einfache und wirkungsvolle Weise die wichtigste Prämisse Wielers: Diese unsere Welt ist in einer unmenschlichen Ordnung erstarrt. Diese Gesellschaft ist am Ende. Sie hat sich, wie viele andere Gesellschaften in der Menschheitsgeschichte zuvor, selbst erfüllt durch das Ausmerzen dessen, was für das Dionysische steht, das Sinnliche, das Emotionale, meinetwegen auch das Orgiastische. Wir haben uns darauf reduziert, dem Dionysos zu widerstehen, um unsere unmenschlich gewordene Gesellschaft in ihrer erstarrten Ordnung zu erhalten. Jossi Wieler hat diese Botschaft so deutlich und argumentativ formuliert, dass ein Widerspruch närrisch wirkt. Eine Katharsis ist unumgänglich.
Der Regisseur beschränkte sich aber in seiner Argumentation nicht auf das Feststellen des Zustands, sondern belegte sehr glaubhaft, wie der Untergang dieser Gesellschaft vonstatten gehen wird. Es sind die von uns als "unterentwickelte", weil nicht in unserer Kultur verankerten, von heutigen Politikern als "Pack und Gesindel" bezeichneten Menschen, die das System früher oder später kippen werden. Anarchie, der Aufstand der Sehnsüchte - das ist die Kraft der Schwachen - wird wie ein Sturm über die gepriesene Welt hinwegfegen. Wer sich dagegen auflehnt, "unterdrückt einen Teil der eigenen Natur".
Es war nur folgerichtig, denn während der ganzen Geschichte waren zwei Bakchen, eindrucksvoll sinnlich von Sylvana Krappatsch und Wiebke Puls gestaltet, omnipräsent. Sie gaben zwei Gehilfinnen aus dem Gefolge des Dionysos, zwei aus dem Heer der Okkupanten aus der "Barabarei" herkommend, erbarmungslos und siegessicher. Das wollte meinen, die Bakchen sind bereits unter uns, stammen aus Afrika, Asien oder gar aus den Vorstädten von Paris. Schnell überführten sie Pentheus seiner gravierendsten Schwäche. Er war frigide geworden, hatte kein Herz mehr, keinen Blick für das Menschliche und war bei alledem anmaßend in seiner Herrschaft. André Jung betrat die Bühne des Geschehens als ein emotionsloser, in seinem Ordnungssinn verspießerter Herrscher, der seine Anschauungen wie leere Hülsen saft- und kraftlos abzufeuern versuchte. Die Verführung dieses Pentheus war bei Wieler ein höchst erstaunlicher, wenngleich logischer Vorgang. Dionysos (Robert Hunger-Bühler) schlug ihn nicht, wie in vielen anderen Inszenierungen geschehen, mit göttlich-mystischer Macht in einen unerklärlichen Wahn, sondern er lockte einen versteckten, weil niedrigen und pervertierten Zug in Pentheus hervor und diesen damit in die Falle. Pentheus erlag seiner eigenen degenerierten Lust am Voyerismus. Wieler verzichtete in wichtigen Situationen auf göttliches Treiben als dramaturgisches Mittel und entfesselte statt dessen Menschlichkeit in allen Facetten. Ähnlich agierten Kadmos (Peter Brombacher) und Teiresias (Hans Kremer), zwei alte Männer, die ihre Säfte noch einmal wallen lassen wollten. Es waren erbarmungswürdige Gestalten, die dem Strudel des Untergangs nicht entgingen. Den Gipfel der Verblendung erklomm schließlich Hildegard Schmahl als Agaue, deren wahnhafte Blutrünstigkeit das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Wielers Bühnensprache ist nicht schrill und bunt. Er vermittelt gemessenen Schrittes wirkungsvoll Inhalte, die über den Betrachter hereinbrechen wie Offenbarungen. Mit dieser Arbeit entwickelte er eine Vision, die längst wie ein Wetterleuchten über unserer Gesellschaft liegt. Es ist eine Mahnung, die verstanden werden will.
Beim Verlassen des Theaters wurde ich unfreiwillig Zeuge eines Gesprächs, in dem ein junges Mädchen, nicht älter als 20 Jahre, ihren Unmut kundtat, dass diese Inszenierung keine Höhepunkte hatte und dass die schauspielerische Darstellung doch sehr emotionslos war. Gute Theaterkunst zeichnet sich nicht dadurch aus, dass große Emotionen dargestellt sondern beim Publikum erzeugt werden. Aber hierin offenbart sich ein weiterer bedrohlicher Aspekt unserer heutigen Zeit, nämlich die Verkümmerung, auf sinnlichem Wege Zeichen zu erkennen und zu deuten. Dieser Vorgang scheint außerordentlich geworden zu sein. Nichts anderes meint diese herausragende Inszenierung!
Wolf Banitzki
Die Bakchen
von Euripides
Robert Hunger-Bühler, Sylvana Krappatsch, Wiebke Puls, André Jung, Jochen Noch, Peter Brombacher, Hans Kremer, Hildegard Schmahl
Regie: Jossi Wieler |
Kammerspiele Iphigenie auf Tauris von J.W. v. Goethe
Ist Humanismus nur eine Chimäre?
Tauris ist die heutige Krim und war Barbarenland zu Zeiten des Trojanischen Krieges. Ausgerechnet bei den "Barbaren" fand Iphigenie freundliche Aufnahme, als Göttin Diana sie dorthin verbrachte, um sie der Kriegslüsternheit ihres Vaters Agamemnon zu entreißen. Der nämlich hatte sie opfern wollen, um guten Wind für die Reise zum Kriegschauplatz zu erbitten. Wie, fragt man sich angesichts der Geschichte, unterscheiden sich Barbaren von Griechen? Thoas, König von Taurien, hat anfangs so gar nichts barbarisches. Er erlaubt seiner neuen Priesterin, einen Brauch abzuschaffen, der den Tod jedes Neuankömmlings auf der Insel forderte. Doch sein Sinn wandelt sich, als Iphigenie seinem Werben eine Abfuhr erteilt. Immerhin bleibt er fair und verspricht, ihr nicht im Wege zu stehen, wenn sie die Insel heimwärts verlassen möchte. Doch um die Götter zu befrieden wird der barbarische Brauch wieder eingeführt. Fatalerweise ist der erste Neuankömmling auf der Insel Orest, Bruder Iphigenies. Gemeinsam mit Pylades war der von Wahnsinn geplagte Bruder, immerhin hatte er die eigene Mutter ins Jenseits befördert, aufgebrochen, um die Schwester heimzuholen. So hatte es Apollon gewünscht. Orest allerdings glaubte, er solle das Bildnis der Diana stehlen, der Schwester Apollons. Man merkt bereits den Hintersinn und sieht, von göttlicher Weissagung unterlegt, das Happy End.
Vorlage für Goethes Werk war die "Iphigenie auf Tauris" von Euripides. Der alte Tragöde verhalf der Geschichte zu einem gänzlich anderen Schluss als sein späterer Kollege. Er hintertrieb die barbarischen Gesetze mit griechischer List (die auch nicht tugendhaft war) und ließ schließlich Athene auftreten, die Thoas in seine menschlichen Grenzen wies. Bei Goethe obsiegt die moralische Kraft und die humanistische Haltung Iphigenies über das Barbarentum.
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Sebastian Weber, Christoph Luser, Fabian Hinrichs, Annette Paulmann, Wolfgang Pregler
© Andreas Pohlmann
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Selbst wenn man die blutrünstige Geschichte der Atriden einmal außer Acht lässt, erscheint die Geschichte höchst sonderbar, was das Verständnis von Humanismus und Barbarei anbelangt. Sämtliche Griechen, die sich den Barbaren so überlegen fühlen, baden im Blut der eigenen Angehörigen. Keine noch so üble Intrige ist ihnen fremd. Die Barbaren hingegen sind nicht selten Opfer dieser Griechen.
So verwundert es nicht, dass das Goethesche Werk einer Dauerdepression gleicht. Iphigenie, die bereits als Kind nach Taurien kam, leidet unter der unsäglichen Geschichte ihrer Vorfahren, die sie nicht gekannt hat. Sie sehnt sich nach dem Vater, der sie für guten Wind geopfert hat und beklagt den Bruder, der zum Mord an Mutter und Stiefvater "gezwungen" war. Übrigens tötete Klytämnestra, Iphigenies Mutter, ihren Ehemann, nachdem sie erfuhr, dass der die eigene Tochter auf den Opferstein geschickt hatte. Diese Tat scheint zumindest logisch, wenn auch verdammenswert. Alle diese sonderbaren Verstrickungen, deren moralische Logik doch höchst fragwürdig ist, dienten Goethe für einen Triumph des Humanismus. Es sei erlaubt, auch Goethes Stück für fragwürdig zu halten. Wenn es heute noch immer den Weg auf die Bühnen findet, dann wohl, weil es von Goethe stammt. Tatsächlich ist es sprachlich keineswegs der große Wurf, für den es Goethe hielt. Er schrieb 1787, dass er die "schlotternde Prosa" der ersten Fassung von 1779 überwunden habe und zu einem "gemeßnern Schritt" gelangt sei. Mitnichten! Zwar benutzte Goethe für die Versfassung von 1786 den Blankvers, der doch immerhin der Dramensprache seit Shakespeare und in Deutschland seit Lessing eine neue Klarheit verlieh, doch experimentierte er, um zu einer das "Griechische anwehende" Sprache zu gelangen. Heraus kamen Manierismen und schwer erträgliche Lyrismen, - alles in allem eine ziemlich verblasene Sprache, die wenig mit der Dichtung der Antiken gemein hat. Vielleicht hätte er Hölderlins Übersetzungen nicht als blödsinnig abtun und von ihnen lernen sollen.
Wie wichtig die Uraufführung eines Stückes für das Überleben des Werkes ist, weiß inzwischen schon jeder normale Theatergänger. Die UA von "Iphigenie" besorgte Schiller, der wirkliche Dramatiker von beiden. Er straffte das Stück, strich und beseelte das eher fade Seelendrama mit eigenem Feuer. Regisseur Anton Genast berichtete, dass Schiller "uns alle durch sein Feuer und seine Phantasie zur Begeisterung" hingerissen habe. Schwer vorstellbar, angesichts des Goetheschen Textes.
Warum diese schier endlosen Auslassungen über Geschichte und Inszenierungstradition, werden sie fragen? Um glaubhaft vermitteln zu können, dass die Inszenierung dieses als mittelmäßig eingestuften Stückes an den Kammerspielen unter der Regie von Laurent Chétouane eine künstlerische Großtat war. Es steht außer Frage, dass viele Zuschauer widersprechen werden. Mit Recht, denn ihre Seh- und Hörgewohnheiten werden nicht bedient, ihre Geduld wird in den drei Stunden auf die Probe gestellt und zugempfindlichen Menschen und Allergikern sei gleich ganz abgeraten. Dennoch sei diese Inszenierung empfohlen. Die karge Ästhetik von Laurent Chétouane schafft einen großen Raum in dessen Weite Menschen und Götter agieren, ohne sich sonderlich zu bewegen. Zwei große Windmaschinen sind alles, was das Bühnenbild von Katrin Brack zu bieten hat. Wozu auch mehr, denn der Wind spielt eine große Rolle, ist er doch der Atem der Götter. Zudem ist man auf einer Insel und dort ist es windig.
Der Regisseur hatte den Text kräftig gegen den Strich gebürstet, ließ Iphigenie von Fabian Hinrichs spielen und die Texte gegen alle Regeln der (Goetheschen) Kunst sprechen. Das erzeugte Faszination, denn plötzlich hörte man Textpassagen, deren Sinn sich scheinbar gegen sich selbst verkehrte. Die Ästhetik, die darauf zielte, das menschliche Individuum als einsames, durch das Schicksal in die Welt geworfenes Wesen darzustellen wurde übermächtig. Und nur so wurde die "Gretchenfrage" glaubhaft, die hier lautete: Gibt es einen Humanismus oder ist dieser Gedanke nur eine Chimäre. Nein, das war nicht Goethes Anliegen. Der glaubte an die Macht das Humanismus und Laurent Chétouane zeigt unmissverständlich auf, dass es sich immer nur um einen Glauben handelt. Er stellte uns, den Zuschauern diese Gretchenfrage und jeder musste diese für sich beantworten. Das war provokant, angesichts der Realität aber unvermeidbar.
Laurent Chétouane verlangte seinem Publikum sehr viel ab. Doch er gab auch. Er zeigte, welche Macht eine Pause haben kann; er zeigte, welche Dimension einzelne Wörter entwickeln können, wenn sie in neuer Lesart präsentiert werden. Die Inszenierung ist eine Hommage an die Langsamkeit und sie ist der Beweis für die Schwächen des Goetheschen Textes. Den Schauspielern gebührt durchgängig großer Respekt, denn sie tragen ein echtes theatralisches Experiment mit. Das Risiko ist hoch und sie werden sicherlich manche Schmähung dafür einstecken müssen. Aber es lohnt sich!
Wolf Banitzki
Iphigenie auf Tauris
von J.W. v. Goethe
Fabian Hinrichs, Annette Paulmann, Wolfgang Pregler, Sebastian Weber, Christoph Luser
Regie: Laurent Chétouane |