Kammerspiele Vor Sonnenaufgang von Gerhart Hauptmann


 

 

Vor Sonnenaufgang ist nach Sonnenuntergang

Als Otto Brahm am 20. Oktober 1889 um 12 Uhr mittags das Erstlingswerk des fünfundzwanzig-jährigen Gerhart Hauptmann im Berliner Lessing-Theater zur Uraufführung brachte, gerann die ganze Geschichte zu einem handfesten Theaterskandal, dessen Anekdotenträchtigkeit noch heute die Annalen der Theatergeschichte speist. Beneidenswerte Zustände (für das Theater) herrschten damals. Die Aufführung war nur im geschlossenen Kreis eines kleinen Vereins möglich, denn die preußische Zensur wütete gnadenlos. Den anwesenden Journalisten oblag es, das Ereignis deutlich nachvollziehbar einer breiten Masse zugänglich zu machen. Das soziale Anliegen war strafrechtlich relevant, weil revolutionär, und darum um so interessanter und spannender. Welche Voraussetzungen könnten besser sein für Theatermacher, die ein soziales Anliegen haben, als derartige repressive Zustände. Das schafft Begehrlichkeiten beim nach Wahrheit und Aufklärung dürstenden Publikum. Ungeachtet dieser Verhältnisse waren die Theatermacher und auch das Publikum hinreichend kritikfähig, die Schwächen des Erstlings zu erkennen und wäre Hauptmann nicht zum Krösus der deutschen Literatur aufgestiegen, wäre das Stück wohl dem Vergessen anheim gefallen.

Der junge Hauptmann, Kind wohlsituierter Eltern, erlebte den sozialen Niedergang in einen brutalen Manchesterkapitalismus am eigenen Leib. Er hing sozialrevolutionären Ideen an und verhielt sich künstlerisch zeitgemäß, in der Ästhetik des Naturalismus. Allein, zum Klassenkämpfer wurde er nicht. "Vor Sonnenaufgang" ist ein sozialkritisches Drama über das Schicksal oberschlesischer Bauern, von denen einige durch den Kohlebergbau zu immensem Reichtum gelangt sind, der sie in hemmungslose Genussmenschen und gnadenlose Ausbeuter verwandelte. Der Reichtum war ihr Totengräber, die Gehilfen der Alkoholismus und die Gier. Unter ihnen lebt ein Fremder, der sozialistische Schriftsteller Alfred Loth. Loth ist ein ideologischer Fanatiker, ein Weltverbesserer reinsten Wassers, der die Verhältnisse studieren, offen legen und verändern will. Doch dann verliebt sich Loth in Helene Krause, die Tochter des reichen Unternehmers Krause, der sich dem Alkoholismus gänzlich ergeben hat. Und nun offenbart sich die bedeutsamste Schwäche des Stücks, denn Loth flieht vor der Liebe zu Helene, die sich vor Sonnenaufgang selbst tötet, denn er, wie auch Gerhart Hauptmann, glaubten an eine gesetzmäßige Vererbung des Alkoholismus. Er entpuppt sich als ein ebenso kleinbürgerlicher Spießer ohne Courage, der seinen Idealen des Humanismus nicht treu bleibt. Das ist der Plot der Geschichte und eine weitere Verengung der Aussage des großangelegten Dramas.
 
   
 

Michael Neuenschwander, Stephan Bissmeier

© Andreas Pohlmann

 

Thomas Ostermeier schreibt das Stück um, versucht ansatzweise die Schwächen auszubügeln und aktualisiert die Geschichte. Die Aktualisierung geschieht jedoch nicht dezent, sondern eher brachial. Er verlegt die Handlung in eine globalisierte Welt nach Asien und belegt die ausbeuterischen Vorgänge (deutscher) Kapitalisten mit Zahlen und Fakten. Ökologische Lehrsätze und statistische Daten werden in die Unterhaltung der Akteure eingeflochten. Letztlich wird das Stück nicht schlüssiger, sondern nur andersartig brüchig. Der Zuschauer erlebt ein Lehrstück a' la Brecht, jedoch ohne dessen inhaltliche Stringenz, zwingende Dialektik und Sprachgewalt.

Das Bühnenbild von Rufus Didwiszus vermittelte ein tropisches Paradies und die koloniale Behausung der Familie Krause mit Blick auf den Regenwald war harmonisierend. Videoprojektionen schufen eine Grundstimmung von natürlicher Vollendung, die gegensätzlicher zur Geschichte nicht sein konnte. Der Zuschauer erhielt Einblicke in eine exotische Hölle. Ostermeier ist kein Regisseur der Bilder am Text vorbei entwirft, was ein Vorzug der Inszenierung ist.

 

Die Geschichte lässt sich behäbig an, als Stephan Bissmeier als Alfred Loth die Bühne betritt und die Katastrophe einläutet. Er ist ein Schauspieler des Understatements. Fast möchte man meinen, er sei ein Kaltblüter. Doch wenn emotionale Kulminationspunkte der Handlung erreicht werden, offenbart sich die Kunst dieses exzellenten Darstellers und der Zuschauer stürzt in tiefe Betroffenheit. Bissmeier ist ein Magier mit den Mitteln des Weglassens. Ganz anders Michael Neuenschwander, dessen neureicher Hoffmann raumgreifend, polternd und besitzergreifend daherkam. Im Duett der beiden standen sich nicht nur zwei unterschiedliche Gestalten, sondern auch zwei Welten gegenüber, die zwingend dem Untergang geweiht sind. Julia Jentsch absolvierte ihren Part als Helene Krause anständig, wenngleich ohne wirkliche Höhepunkte. Auffällig im Ensemble war Hildegard Schmahl, deren Rolle als Frau Krause und Oberhaupt des Hauses in der Aussage zwar begrenzt war, die aber in ihrer bösartigen verachtenden Haltung zum höchstentwickelten Exempel ihrer Klasse wurde. Paul Herwigs Dr. Schimmelpfennig, ebenfalls Studienkamerad von Loth, ist eine weitere Facette im dekadenten Gessellschaftsgespinst. Er meint, es geschafft zu haben. Viele Privatpatienten sichern ihm Wohlstand. Herwig vermittelte glaubhaft, dass diese Figur nur eine weitere Made am "Volksköper" sei. Er gehört, um es mit Dante zu sagen, zu den sittlich Lauen, zu denen, die sich im entscheidenden Augenblick heraushalten.

Ostermeiers Anliegen war unübersehbar. Er verhielt sich deutlich zum Zeitgeist, wie es seinerzeit auch Hauptmann getan hat. Doch Ostermeier hätte es wohl besser gekonnt, wenn er nicht an Hauptmanns Geschichte gefesselt gewesen wäre. So blieben seine Einfügungen angesichts der kleinbürgerlichen Kritik Hauptmanns an der Gesellschaft und des Umgangs mit dem fraglichen Humanismus Loths plakativ und propagandahaft. Zudem hatte die Inszenierung gelegentlich Längen, die der zum Teil dünnblütigen Handlung entsprangen und die Ostermeier mit seiner Bildhaftigkeit nicht kaschieren konnte.

Alles in allem war diese Inszenierung ein lobenswerter Versuch um nachhaltige Aufklärung, die jedoch angesichts der künstlerischen Ungeschlossenheit keine durchschlagende Wirkung erzielen konnte. Letztlich entpuppte sich Hauptmanns Vorlage für dieses Anliegen nicht als eine genialische.

 
Wolf Banitzki

 

 


Vor Sonnenaufgang

von Gerhart Hauptmann

Peter Brombacher, Hildegard Schmahl, Julia Jentsch, Michael Neuenschwander, Murali Perumal, Stephan Bissmeier, Paul Herwig, Joel Olaño, Narudee Sriprasertkul

Regie: Thomas Ostermeier

Kammerspiele Lulu live von Feridun Zaimoglu


 

 

Ein Abend in beklemmender Leere

"Eine originalgetreue Inszenierung der Lulu von Wedekind wäre lediglich ein Kommentar. Mich interessieren vielmehr die Gründe, die eine große Empörung hervorriefen und die zunächst zum Aufführungsverbot des Stückes führten." Luk Perceval

100 Jahre ist es nun her, dass sich Preußens oberste Zensurvollstreckungsbehörde, das Königliche Landgericht zu Berlin zum Verbot durchrang. Schwer fiel es den Talarträgern nicht. Seither ist Wedekinds Stück nicht mehr wegzudenken von deutschen Bühnen, denn das Thema ist so aktuell wie vor einem Jahrhundert. Mag sein, dass Teile der Gesellschaft mit Pornografie, die ja im heutigen Verständnis gar nicht im Stück vorkommt, keine Probleme mehr hat, das Problem der Bigotterie, der Falschzüngigkeit, des verhohlenen und auch unverhohlenen Betrugs, der Prostitution ist seiner Lösung keinen Schritt näher gekommen.
 
   
 

Hildegard Schmahl, Henriette Schmidt, Annette Paulmann

© Andreas Pohlmann

 

 

Werfen wir einen Blick auf die Wedekindsche Lulu. Sie ist eine schlicht gestrickte junge Frau, die, aus desaströsen sozialen Verhältnissen herkommend, nichts hat als ihren Körper. Den verhökert sie meistbietend und gelangt so in die bürgerliche Institution Ehe. Diese zerbricht aber bald, als sie ihrem aufrichtigen und sehnsuchtsvollen Gefühl nach Liebe nachgibt. Ihr Weg ist eine schiefe Ebene und es geht gnadenlos abwärts. Am Ende ist ein Messer.

Die Menschen um sie herum sind zumeist wohlbeleumdete Mitglieder der Gesellschaft, was Wedekind die Möglichkeit gab, die Verlogenheit des gesellschaftlichen Daseins so entlarvend darzustellen. Wedekind war Realist und sein Entwurf ist ein genialischer, was nicht zuletzt die Aufführungstradition des Stückes belegt.

Um dem Perceval/Zaimoglu/Senkel - Entwurf folgen zu können, um hinter den banalen, unartifiziellen und weitestgehend belanglosen Mono- und Dialogen eine tiefgründige Geschichte zu erkennen, bedarf es der Kenntnis des Wedekindschen Textes. Diese Tatsache verleitet dann doch zu der These: Percevals "Lulu Live" ist erst einmal nichts mehr als ein zeitgenössischer Kommentar zu Wedekinds Stück. Warum also?

Luk Perceval: "Heutzutage ist die sexuelle Ausbeutung in Form von Pornografie zu einem globalen Phänomen geworden." Global ist unbestritten, aber wohl kein Phänomen. Etymologisch ist dieses Wort aus dem Griechischen von "phainómenon" abgeleitet, was soviel bedeutet wie: das Erscheinende, das Einleuchtende, die Himmelserscheinung. Es ist nichts Phänomenales an diesem Vorgang, wenn die ganze Welt global wird. Vielmehr könnten wir gerade an der sexuellen Ausbeutung alle wichtigen Mechanismen der Ausbeutung, und diese ist ein substanzieller Faktor des kapitalistische System, ablesen. Das System basiert auf Angebot und Nachfrage. Was könnte eine größere Nachfrage als der dominanteste Trieb im Menschen, der Geschlechtstrieb, erzeugen, - was einen größeren Markt schaffen?

Man muss schon die Blauäugigkeit des Erfinders des Internets bewundern, der sich voller Abscheu von seinem eigenen Werk abwandte, als er bemerkte, das die Pornografie die erste globale Unternehmung war, die im vollen Umfang von diesem Medium Besitz ergriff.

Was ist also die neue Qualität in "Lulu Live", die über Wedekind hinausging? Ich kann sie nicht entdecken. Ich sehe aber etwas anderes, was das Spektakuläre des Vorgangs ausmacht. Perceval, der zweifellos sehr ambitioniert nach neuen Formen sucht, die das Theater seiner Meinung nach braucht, schafft ein Werk, welches vorgibt, mit den Sehgewohnheiten zu brechen.

Katrin Brack schuf eine Bühne, die eigentlich keine mehr war, sondern sich auf eine Projektionswand beschränkte, gleich der eines Kinos. Vor der Wand einige Stühle, auf denen im Gegenlicht - und also nur als Kontur - Schauspieler Platz nahmen, um den Vorgängen zuzuschauen, ähnlich einer Peepshow. Die Leinwand war abwechselnd Screen für Chatdialoge des Internets, für Videoeinspielungen und Schattenspielfläche für die dahinter agierenden Schauspieler. Perceval erreicht damit ein Höchstmaß der Entfremdung, denn die Vorgänge waren zeitversetzt, zum Teil surreal anmutend und alle Dimensionen aufbrechend. Die Monologe und Dialoge waren keine Kunstsprache mehr, klangen wie aufgeschnappte Gespräche über Befindlichkeiten. Sie waren vergleichbar mit den Sprachmarathon-Vorgängen von Pollesch in "Schändet eure neoliberalen Biografien". Auch Perceval folgt hier der Castorf'schen Prämisse, "dass die Schauspieler von den künstlerischen Zwängen befreit werden müssen". Schauspieler gebt Acht, dass ihr das Wichtigste, euer künstlerisches Vermögen, nicht einbüßt. Am Ende bleibt dann nur die Prostitution!

Luk Perceval, der hier eine Welt baut, die längst in die Ecke der "schmuddeligen" Klassiker geräumt wurde, nämlich der psychedelischen LSD-Kunst (Diese Retro-Bewegung hat im Moment eine Renaissance!), versteht sich als Provokateur. Leider bleibt das Anliegen der Provokation weitestgehend verborgen. Also Provokation der Provokation wegen? Das wäre müßig, denn auf diesem Terrain der Inhaltslosigkeit schlagen sich die Medien viel wackerer. Was als visuelles Ereignis geplant war, geriet zu einem Abend in beklemmender Leere. Physisches und psychisches Unbehagen war das Ergebnis.

Es wäre schön, wenn man nach dieser Inszenierung auch etwas über die Schauspieler sagen könnte. Das erscheint aber kaum möglich, denn bis zur Verbeugung waren sie weitestgehend unsichtbar oder auf Schatten in Schwarz-Weiß oder Bunt reduziert. Ist dieses Theater noch ein kollektiver Traum oder nur die Obsession eines Regisseurs? Als eifriger Kammerspiele-Besucher konnte man die Darsteller wohl an der Stimme erkennen. Allerdings hörte man kaum mehr als die Bemühung, das Ungestalte zu gestalten.

 
Wolf Banitzki



 


Lulu live

von Feridun Zaimoglu

Julia Jentsch, Christoph Luser, Peter Brombacher, Hildegard Schmahl, Annette Paulmann, Oliver Mallison, Bernd Grawert, Stephan Bissmeier, Henriette Schmidt

Regie: Luk Perceval

Kammerspiele Elementarteilchen nach Michel Houellebecq


 

 
Geschlossene Gesellschaft oder Die neuen Menschen

Es ist der Vorzug von Bestsellern, dass sie, auf die Bühne gebracht, ihr Publikum mitbringen. Die Bühne, eine Spielfläche aus hellem Holz war zu Sinuswellen mit kleiner Amplitude geformt und wirkte wie Wellblech oder das auf und ab im nivellierten Leben. Die Darsteller balancierten, tänzelten, hüpften. Stets versuchten sie auf dem Kamm der Welle zu reiten. Der Bühnenbildner Jens Kilian zeichnete für diesen großartigen künstlerischen Einfall.

Der Regiesseur Johan Simons setzte mit seiner Inszenierung hauptsächlich auf die Wirkung von griechischem Deklamationstheater. Der Vorgang ist erprobt, seine Wirkung geradezu berechenbar. Johan Simons Konzept ging auf. Es wurde mit hervorragenden Darstellern eine dichte Umsetzung des Romans auf die Bühne gebracht. Der erzählt vom glücklosen Leben der Halbbrüder Bruno, sensibel dargestellt von André Jung, und Michel. Sie teilen sich eine lieblose egoistische Mutter, der Chris Nietvelt wie eine echte 68erin enthemmt Gestalt verlieh, und sie teilen ihre durch Einsamkeit geprägte Verstörung. Sie wirken wie Prototypen aus der modernen bindungsunfähigen Mittelschicht. Daran ändern auch ihre Beziehungsversuche nichts, die ebenfalls wie im Gleichklang durch Krebs vereitelt werden. Bruno, Lehrer von Beruf und Sohn des Matriarchats, sucht seine Bestätigung als Mann über die Sexualität. In Christiane, überzeugend von Sylvana Krapatsch in Szene gesetzt, findet er sein Pendant. Michel, unsicher und traumtänzerisch von Robert Hunger-Bühler zu Leben erweckt, empfindet die Leere um sich körperlich. Er füllt sie mit Wissen, lebensfeindlicher Wissenschaft. Einzig Yvone Jansen, als schöne und liebenswerte Annabelle, vermag es, ihm für kurze Zeit Zuneigung zu vermitteln. Als Molekularbiologe entwickelt er den Entwurf für ein geschlechtsloses unsterbliches menschliches Wesen. Auf dem Weg dahin wird erzählt von der Angst vor dem Versagen und dem Stellenwert von Tod und Alter, Schönheit und Sexualität, Leere und Sehnsucht.
 
   
 

André Jung, Sylvana Krappatsch, Chris Nietvelt, Robert Hunger-Bühler, Yvon Jansen

© Leonard Zubler

 

 

Michel Houellebecq ist ein vieldiskutierter Schriftsteller unserer Zeit. Er rechnet ab mit den 68ern, ergeht sich, nicht nur sprachlich, in der von ihnen ausgelösten sexuellen Befreiung und schildert das Leiden der ganzen westlichen Welt in verallgemeinerter Form. Sein Roman "Elementarteilchen" ist in fünfundzwanzig Sprachen erschienen. In seiner Beschreibung der Gegenwartsgesellschaft erkennt er den Urgrund der Probleme einzig im Wertesystem des westlichen Individualismus. Eine Gegenbewegung gilt es zu initiieren, wie sie in der Geschichte immer wieder, wenn ein System wert war unterzugehen, stattgefunden hat. Die Ablösung des individuellen geschlechtlichen Menschen durch ein synthetisches Wesen, dass keinen Sehnsüchten und damit keiner Triebhaftigkeit mehr unterliegt, wird dazu von ihm als Horrorvision heraufbeschworen. "Alles, was ruhig macht, ist gut." so ein Credo.

Elementarteilchen sind Teilchen, die nicht weiter zerlegbar sind. Zumeist stehen sie sich polarisiert gegenüber. Diese Inszenierung macht eines sichtbar: Es gibt diejenigen Individuen, die pragmatisch in die Schöpfung eingreifen und diese nach Gutdünken verändern, um sie lebbar zu machen, und es gibt diejenigen, die mit einem Restgefühl von Respekt vor der Schöpfung gegen diese (vielleicht unaufhaltsame) Entwicklung rebellieren. Houellebecq bietet keine Philosophie an, sondern legt nur den Finger auf vorher unbenannte Wunden in der Gesellschaft. Er ist ein marodierender Literat, der sich dafür feiern lässt, die Ausweglosigkeit halbherzig zu propagieren. Er formuliert einen bedrohlichen, - aber pragmatischen Ausweg aus dem Dilemma der geschlechtlichen Beziehungen durch Gleichschaltung in ein menschliches Wesen. Unübersehbar ist sein Werk zugleich ein emotionaler Protest gegen diese (End-)Lösung der Probleme. Houellebecq sucht einen Weg, sich selbst mit dieser unausweichlichen Entwicklung zu versöhnen. Immerhin ist ihm bewusst, dass es einen naturgegebenen inneren Widerstand dagegen gibt, denn er erwidert auf die Visionen Aldous Huxley's, die die logische Konsequenz seines literarischen Entwurfs bedeuten: "In menschlichen Gesellschaften hat ja niemand Lust, anderen gleich zu sein."

Das ist ein neues Gesellschaftsspiel, ein neuerlicher Tanz auf dem Vulkan und alle Apokalyptiker sind herzlich eingeladen. Aber: Wetten, dass … der Abend keine neuen Erkenntnisse vermittelte. Wetten, dass … fast alle im Publikum den Roman kannten. Wetten, dass … die Darstellung alle anwesenden Elementarteilchen erreichte. Wetten, dass … der Applaus Schall von einer Wellenlänge erzeugte. Tatsache …es war, Dank Regie und hervorragender Darsteller, ein gelungener und bewegender Theaterabend!


C.M.Meier

 

 


Elementarteilchen

nach Michel Houellebecq

Theaterfassung von Tom Blokdijk und Koen Tachelet

Robert Hunger-Bühler, Yvon Jansen, André Jung, Sylvana Krappatsch, Chris Nietvelt

Regie: Johan Simons

Kammerspiele Die Bakchen von Euripides


 

 

Diese Gesellschaft ist am Ende

"Dem Dionysos widerstehen heißt einen Teil der eigenen Natur unterdrücken." (E.R. Dodds: "Die Griechen und das Irrationale") Dieser Satz birgt den Schlüssel zum Verständnis des Stückes von Euripides und auch der Inszenierung an den Münchner Kammerspielen in der Regie von Jossi Wieler. Die Geschichte konnte zwar kein Aufsehen zu Lebzeiten des Dichter mehr erregen, denn er war ein Jahr vor der Uraufführung verstorben, doch in allen nachfolgenden Zeitaltern rieben sich Theatermacher daran und wenn Dodds meinte, das Stück sei "one of the greatest of all tragedies", muss ihm zugestimmt werden.

Pentheus, König von Theben, ein aufgeklärter Politiker, der auf ein befriedetes Reich schauen kann, sieht sich durch Dionysos mit einer Gefahr konfrontiert, die nicht beherrschbar scheint. Der Bakchoskult lässt alles aus den Fugen geraten. Der Versuch, den Übeltäter, einen "vermeintlichen" Gott, dingfest zu machen, zerrüttet sein Reich. Dionysos ist aber nicht nur gekommen seinen Kult einzuführen, er kam, um die Thebaner für ihre Ignoranz gegen seine göttliche Abkunft zu strafen. Die Strafe ist der Untergang Thebens. (Näheres siehe auch in der Kritik zur Premiere "Die Bakchen" im Residenz Theater auf der gleichen Website.)

Es ist immer ein spannender Vorgang, wenn zwei Theater dasselbe Stück auf die Bühne bringen, denn der Zuschauer sieht sich gleich zwei Sehweisen gegenüber und bekommt die Chance zu einem tieferen Verständnis. Es soll dennoch kein Vergleich angestellt werden, denn dieses Vergnügen sei dem Zuschauer selbst überlassen. Vorab soll aber trotzdem angemerkt werden, dass Jossi Wieler mit dieser Arbeit wieder ein Geniestreich gelungen ist, denn er erbrachte den uneingeschränkten Nachweis für die brandheiße Aktualität des 2400 Jahre alten Werkes. Es ist zugleich auch eine späte Rehabilitation Euripides, der seine Heimat als Unverstandener verließ und zu den "Barbaren" überlief.
 
   
 

Hildegard Schmahl, Peter Brombacher, Hans Kremer, Wiebke Puls, Robert Hunger-Bühler, Sylvana Krappatsch

© Arno Declair

 

 

Jens Kilian gestaltete mit seinem Bühnenbild auf den ersten Blick einen deutlichen Zeitbezug. Der Palast des Pentheus glich einer Designerwohnung im Penthausstil. Weiß, weißer ging es kaum, entlarvte der Bühnenbildner heutige Architektur, die menschenfeindlicher, steriler kaum sein kann. Pentheus selbst war Bestandteil dieser unmenschlichen Welt, weil stets darauf bedacht, diese perfekte Ordnung pedantisch aufrecht zu erhalten. Es sei daran erinnert, dass Perfektion keine Tugend ist, sondern nur die Abwesenheit von "Fehlern" bedeutet. Kilian illustrierte auf einfache und wirkungsvolle Weise die wichtigste Prämisse Wielers: Diese unsere Welt ist in einer unmenschlichen Ordnung erstarrt. Diese Gesellschaft ist am Ende. Sie hat sich, wie viele andere Gesellschaften in der Menschheitsgeschichte zuvor, selbst erfüllt durch das Ausmerzen dessen, was für das Dionysische steht, das Sinnliche, das Emotionale, meinetwegen auch das Orgiastische. Wir haben uns darauf reduziert, dem Dionysos zu widerstehen, um unsere unmenschlich gewordene Gesellschaft in ihrer erstarrten Ordnung zu erhalten. Jossi Wieler hat diese Botschaft so deutlich und argumentativ formuliert, dass ein Widerspruch närrisch wirkt. Eine Katharsis ist unumgänglich.

Der Regisseur beschränkte sich aber in seiner Argumentation nicht auf das Feststellen des Zustands, sondern belegte sehr glaubhaft, wie der Untergang dieser Gesellschaft vonstatten gehen wird. Es sind die von uns als "unterentwickelte", weil nicht in unserer Kultur verankerten, von heutigen Politikern als "Pack und Gesindel" bezeichneten Menschen, die das System früher oder später kippen werden. Anarchie, der Aufstand der Sehnsüchte - das ist die Kraft der Schwachen - wird wie ein Sturm über die gepriesene Welt hinwegfegen. Wer sich dagegen auflehnt, "unterdrückt einen Teil der eigenen Natur".

Es war nur folgerichtig, denn während der ganzen Geschichte waren zwei Bakchen, eindrucksvoll sinnlich von Sylvana Krappatsch und Wiebke Puls gestaltet, omnipräsent. Sie gaben zwei Gehilfinnen aus dem Gefolge des Dionysos, zwei aus dem Heer der Okkupanten aus der "Barabarei" herkommend, erbarmungslos und siegessicher. Das wollte meinen, die Bakchen sind bereits unter uns, stammen aus Afrika, Asien oder gar aus den Vorstädten von Paris. Schnell überführten sie Pentheus seiner gravierendsten Schwäche. Er war frigide geworden, hatte kein Herz mehr, keinen Blick für das Menschliche und war bei alledem anmaßend in seiner Herrschaft. André Jung betrat die Bühne des Geschehens als ein emotionsloser, in seinem Ordnungssinn verspießerter Herrscher, der seine Anschauungen wie leere Hülsen saft- und kraftlos abzufeuern versuchte. Die Verführung dieses Pentheus war bei Wieler ein höchst erstaunlicher, wenngleich logischer Vorgang. Dionysos (Robert Hunger-Bühler) schlug ihn nicht, wie in vielen anderen Inszenierungen geschehen, mit göttlich-mystischer Macht in einen unerklärlichen Wahn, sondern er lockte einen versteckten, weil niedrigen und pervertierten Zug in Pentheus hervor und diesen damit in die Falle. Pentheus erlag seiner eigenen degenerierten Lust am Voyerismus. Wieler verzichtete in wichtigen Situationen auf göttliches Treiben als dramaturgisches Mittel und entfesselte statt dessen Menschlichkeit in allen Facetten. Ähnlich agierten Kadmos (Peter Brombacher) und Teiresias (Hans Kremer), zwei alte Männer, die ihre Säfte noch einmal wallen lassen wollten. Es waren erbarmungswürdige Gestalten, die dem Strudel des Untergangs nicht entgingen. Den Gipfel der Verblendung erklomm schließlich Hildegard Schmahl als Agaue, deren wahnhafte Blutrünstigkeit das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Wielers Bühnensprache ist nicht schrill und bunt. Er vermittelt gemessenen Schrittes wirkungsvoll Inhalte, die über den Betrachter hereinbrechen wie Offenbarungen. Mit dieser Arbeit entwickelte er eine Vision, die längst wie ein Wetterleuchten über unserer Gesellschaft liegt. Es ist eine Mahnung, die verstanden werden will.
Beim Verlassen des Theaters wurde ich unfreiwillig Zeuge eines Gesprächs, in dem ein junges Mädchen, nicht älter als 20 Jahre, ihren Unmut kundtat, dass diese Inszenierung keine Höhepunkte hatte und dass die schauspielerische Darstellung doch sehr emotionslos war. Gute Theaterkunst zeichnet sich nicht dadurch aus, dass große Emotionen dargestellt sondern beim Publikum erzeugt werden. Aber hierin offenbart sich ein weiterer bedrohlicher Aspekt unserer heutigen Zeit, nämlich die Verkümmerung, auf sinnlichem Wege Zeichen zu erkennen und zu deuten. Dieser Vorgang scheint außerordentlich geworden zu sein. Nichts anderes meint diese herausragende Inszenierung!

 
Wolf Banitzki

 

 


Die Bakchen

von Euripides

Robert Hunger-Bühler, Sylvana Krappatsch, Wiebke Puls, André Jung, Jochen Noch, Peter Brombacher, Hans Kremer, Hildegard Schmahl

Regie: Jossi Wieler

Kammerspiele Iphigenie auf Tauris von J.W. v. Goethe


 

 

Ist Humanismus nur eine Chimäre?

Tauris ist die heutige Krim und war Barbarenland zu Zeiten des Trojanischen Krieges. Ausgerechnet bei den "Barbaren" fand Iphigenie freundliche Aufnahme, als Göttin Diana sie dorthin verbrachte, um sie der Kriegslüsternheit ihres Vaters Agamemnon zu entreißen. Der nämlich hatte sie opfern wollen, um guten Wind für die Reise zum Kriegschauplatz zu erbitten. Wie, fragt man sich angesichts der Geschichte, unterscheiden sich Barbaren von Griechen? Thoas, König von Taurien, hat anfangs so gar nichts barbarisches. Er erlaubt seiner neuen Priesterin, einen Brauch abzuschaffen, der den Tod jedes Neuankömmlings auf der Insel forderte. Doch sein Sinn wandelt sich, als Iphigenie seinem Werben eine Abfuhr erteilt. Immerhin bleibt er fair und verspricht, ihr nicht im Wege zu stehen, wenn sie die Insel heimwärts verlassen möchte. Doch um die Götter zu befrieden wird der barbarische Brauch wieder eingeführt. Fatalerweise ist der erste Neuankömmling auf der Insel Orest, Bruder Iphigenies. Gemeinsam mit Pylades war der von Wahnsinn geplagte Bruder, immerhin hatte er die eigene Mutter ins Jenseits befördert, aufgebrochen, um die Schwester heimzuholen. So hatte es Apollon gewünscht. Orest allerdings glaubte, er solle das Bildnis der Diana stehlen, der Schwester Apollons. Man merkt bereits den Hintersinn und sieht, von göttlicher Weissagung unterlegt, das Happy End.

Vorlage für Goethes Werk war die "Iphigenie auf Tauris" von Euripides. Der alte Tragöde verhalf der Geschichte zu einem gänzlich anderen Schluss als sein späterer Kollege. Er hintertrieb die barbarischen Gesetze mit griechischer List (die auch nicht tugendhaft war) und ließ schließlich Athene auftreten, die Thoas in seine menschlichen Grenzen wies. Bei Goethe obsiegt die moralische Kraft und die humanistische Haltung Iphigenies über das Barbarentum.

 

   
 

Sebastian Weber, Christoph Luser, Fabian Hinrichs, Annette Paulmann, Wolfgang Pregler

© Andreas Pohlmann

 

Selbst wenn man die blutrünstige Geschichte der Atriden einmal außer Acht lässt, erscheint die Geschichte höchst sonderbar, was das Verständnis von Humanismus und Barbarei anbelangt. Sämtliche Griechen, die sich den Barbaren so überlegen fühlen, baden im Blut der eigenen Angehörigen. Keine noch so üble Intrige ist ihnen fremd. Die Barbaren hingegen sind nicht selten Opfer dieser Griechen.

So verwundert es nicht, dass das Goethesche Werk einer Dauerdepression gleicht. Iphigenie, die bereits als Kind nach Taurien kam, leidet unter der unsäglichen Geschichte ihrer Vorfahren, die sie nicht gekannt hat. Sie sehnt sich nach dem Vater, der sie für guten Wind geopfert hat und beklagt den Bruder, der zum Mord an Mutter und Stiefvater "gezwungen" war. Übrigens tötete Klytämnestra, Iphigenies Mutter, ihren Ehemann, nachdem sie erfuhr, dass der die eigene Tochter auf den Opferstein geschickt hatte. Diese Tat scheint zumindest logisch, wenn auch verdammenswert. Alle diese sonderbaren Verstrickungen, deren moralische Logik doch höchst fragwürdig ist, dienten Goethe für einen Triumph des Humanismus. Es sei erlaubt, auch Goethes Stück für fragwürdig zu halten. Wenn es heute noch immer den Weg auf die Bühnen findet, dann wohl, weil es von Goethe stammt. Tatsächlich ist es sprachlich keineswegs der große Wurf, für den es Goethe hielt. Er schrieb 1787, dass er die "schlotternde Prosa" der ersten Fassung von 1779 überwunden habe und zu einem "gemeßnern Schritt" gelangt sei. Mitnichten! Zwar benutzte Goethe für die Versfassung von 1786 den Blankvers, der doch immerhin der Dramensprache seit Shakespeare und in Deutschland seit Lessing eine neue Klarheit verlieh, doch experimentierte er, um zu einer das "Griechische anwehende" Sprache zu gelangen. Heraus kamen Manierismen und schwer erträgliche Lyrismen, - alles in allem eine ziemlich verblasene Sprache, die wenig mit der Dichtung der Antiken gemein hat. Vielleicht hätte er Hölderlins Übersetzungen nicht als blödsinnig abtun und von ihnen lernen sollen.

Wie wichtig die Uraufführung eines Stückes für das Überleben des Werkes ist, weiß inzwischen schon jeder normale Theatergänger. Die UA von "Iphigenie" besorgte Schiller, der wirkliche Dramatiker von beiden. Er straffte das Stück, strich und beseelte das eher fade Seelendrama mit eigenem Feuer. Regisseur Anton Genast berichtete, dass Schiller "uns alle durch sein Feuer und seine Phantasie zur Begeisterung" hingerissen habe. Schwer vorstellbar, angesichts des Goetheschen Textes.

Warum diese schier endlosen Auslassungen über Geschichte und Inszenierungstradition, werden sie fragen? Um glaubhaft vermitteln zu können, dass die Inszenierung dieses als mittelmäßig eingestuften Stückes an den Kammerspielen unter der Regie von Laurent Chétouane eine künstlerische Großtat war. Es steht außer Frage, dass viele Zuschauer widersprechen werden. Mit Recht, denn ihre Seh- und Hörgewohnheiten werden nicht bedient, ihre Geduld wird in den drei Stunden auf die Probe gestellt und zugempfindlichen Menschen und Allergikern sei gleich ganz abgeraten. Dennoch sei diese Inszenierung empfohlen. Die karge Ästhetik von Laurent Chétouane schafft einen großen Raum in dessen Weite Menschen und Götter agieren, ohne sich sonderlich zu bewegen. Zwei große Windmaschinen sind alles, was das Bühnenbild von Katrin Brack zu bieten hat. Wozu auch mehr, denn der Wind spielt eine große Rolle, ist er doch der Atem der Götter. Zudem ist man auf einer Insel und dort ist es windig.

Der Regisseur hatte den Text kräftig gegen den Strich gebürstet, ließ Iphigenie von Fabian Hinrichs spielen und die Texte gegen alle Regeln der (Goetheschen) Kunst sprechen. Das erzeugte Faszination, denn plötzlich hörte man Textpassagen, deren Sinn sich scheinbar gegen sich selbst verkehrte. Die Ästhetik, die darauf zielte, das menschliche Individuum als einsames, durch das Schicksal in die Welt geworfenes Wesen darzustellen wurde übermächtig. Und nur so wurde die "Gretchenfrage" glaubhaft, die hier lautete: Gibt es einen Humanismus oder ist dieser Gedanke nur eine Chimäre. Nein, das war nicht Goethes Anliegen. Der glaubte an die Macht das Humanismus und Laurent Chétouane zeigt unmissverständlich auf, dass es sich immer nur um einen Glauben handelt. Er stellte uns, den Zuschauern diese Gretchenfrage und jeder musste diese für sich beantworten. Das war provokant, angesichts der Realität aber unvermeidbar.

Laurent Chétouane verlangte seinem Publikum sehr viel ab. Doch er gab auch. Er zeigte, welche Macht eine Pause haben kann; er zeigte, welche Dimension einzelne Wörter entwickeln können, wenn sie in neuer Lesart präsentiert werden. Die Inszenierung ist eine Hommage an die Langsamkeit und sie ist der Beweis für die Schwächen des Goetheschen Textes. Den Schauspielern gebührt durchgängig großer Respekt, denn sie tragen ein echtes theatralisches Experiment mit. Das Risiko ist hoch und sie werden sicherlich manche Schmähung dafür einstecken müssen. Aber es lohnt sich!

Wolf Banitzki

 

 


Iphigenie auf Tauris

von J.W. v. Goethe

Fabian Hinrichs, Annette Paulmann, Wolfgang Pregler, Sebastian Weber, Christoph Luser

Regie: Laurent Chétouane
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