Kammerspiele Ulrike Maria Stuart von Elfriede Jelinek


 

 

RAF - oder wie man Geschichte nicht bewältigt

"Elfriede Jelinek hat bei allen historischen Bezügen nicht im mindesten ein dokumentarisches Stück geschrieben. Abseits billiger RAF-Aufarbeitungs-Mode sucht sie einen anderen Sprach-Weg in deren Unheilsgeschichte", so Tilmann Raabke im Programmheft zur Inszenierung an den Kammerspielen. Wohl dem, der auf diesem Weg fündig wurde. Wer nicht, sollte sich darum nicht grämen, denn auch Frau Jelinek fehlt eigentlich der Durchblick. "Ich weiß ja nur, dass diese [auch für mich] völlige Undurchschaubarkeit der Handlungen meiner Figuren, die eben nur: herbeigeschrieben sind, aus keiner Existenz heraus, die ich je hätte verstehen können, gerade weil so viel über sie geschrieben worden ist, als ein leeres Handeln, ein leerer Lärm, irgendwie bezogen auf Andere, aber trotzdem orientierungs- und beziehungslos herumtaumelnd [da ich sie ja nicht verstehe], in diesem fundamentalen Nichtverstehen gegründet ist, denn ein Verstehen meiner handelnden Personen würde ja bedeuten, dass man auch die Welt zumindest irgendwie versteht?" (Elfriede Jelinek, 06.03.07)

Nun, einer muss es ja verstanden haben, sonst würde er sich darauf nicht eingelassen haben: Jossi Wieler. Er meint: "Elfriede Jelinek legt, wie eine Gesellschafts-Analytikerin oder wie eine Archäologin, verdrängte Schichten des bundesdeutschen Unterbewusstseins frei. Sie erweckt Geister der Vergangenheit zu einem fiktiven Leben und lässt sie als Untote in unsere Gegenwart treten."
 
 

 
 

Brigitte Hobmeier, Bettina Stucky

© Andreas Pohlmann

 

Zusammengefasst könnte man sagen: Frau Jelinek weiß eigentlich nicht Bescheid über das, worüber sie schreibt und tut es dennoch. Jossi Wieler entdeckt darin einstmals real agierende Menschen als Untote wieder und Tilmann Raabke würdigt das als eine ungewöhnliche Methode zur … (ja, was?) … Wahrheitsfindung? Nein, das griffe nun doch zu weit. Regisseur Wieler bringt das Anliegen vielleicht auf den Punkt, wenn er seinen Glauben darüber offenbart: "Bemerkenswert ist vor allem die Tatsache, dass hier ein Abschnitt deutscher Geschichte wie nicht ganz verarbeitet ist, dass es da immer noch eine nicht verheilte Wunde gibt, die im deutschen Bewusstsein wohl immer noch mehr schmerzt als viele Geschichten, die 30 bis 40 Jahre zurückliegen." Hört! Hört!


Dass die Geschichte um die RAF nie wirklich auf breiter Ebene, also auch für die deutsche Bevölkerung (so diese überhaupt ein Interesse daran hatte) aufgearbeitet wurde, ist so unbestritten wie die Nichtbewältigung des Nationalsozialismus oder die stalinistische Vergangenheit in den ostdeutschen Regionen. Immerhin gab es in der Geschichte der deutschen Nachkriegsdramatik einen exemplarischen Vorgang der leider nicht konsequent Schule gemacht hat. Erinnert sei an Hochhuths "Der Stellvertreter". Frau Jellinek hat mit ihrem Drama alles mögliche geleistet, nur keine Aufklärung. Vielmehr ist diese Arbeit kontraproduktiv, weil nicht auf Objektivierung gerichtet, und trägt zu dem inhumane Züge. Ihre "herbeigeschriebenen" Figuren, dass gesteht die Autorin selbst, können ja auch keine menschlichen Züge haben, weil sie lediglich das geistige Konglomerat aus den Intuitionen und Variationen zum Thema von Frau Jelinek sind - nur Sprache! "Mein Blick entspricht also tatsächlich klischeehaft insofern dem weiblich Blick, als ich mich in der Welt nicht aufhalten kann [aus persönlichen, man kann sagen: pathologischen Gründen], was für mich als Frau aber ohnehin nicht vorgesehen wäre, dass ich also nie DA sein kann und daher aus der Welt heraus (…) keine Erkenntnisse gewinnen kann." (E.J.) Es fällt schwer, alles das zu glauben. Dennoch ist es so.

Ein "großer Text", wie in Verlautbarungen bereits gepriesen, ist es nicht, eher ein langer, von Zerrissenheit, pathologischer Zerrissenheit geprägter Text. Das Problem ist nur, dass Frau Jelinek Nobelpreisträgerin ist und damit scheinbar unantastbar. Wenn sie ein Thema besetzt, glaubt man ihr. Es sei daran erinnert, dass dieser Preis kein Gottesbeweis ist. Mehr als einmal irrte man hier. Erinnert sei beispielsweise daran, dass die Schwester Friedrich Nietzsches, eine im Geiste schlichte Person mit bösartigem Geltungsdrang, deren Tun man heute verzweifelt aus dem Werk des Philosophen zu tilgen sucht, drei Mal nominiert war. Also, begegnen wir dem Werk auf Augenhöhe und schauen genau hin.

Elfriede Jelinek zeichnet ein Bild von drei Generationen. Die Generation der Alten, gegen die die RAF opponierte, erscheint über die Maßen kleinbürgerlich, ängstlich und nicht selten in ihrer Argumentation schwachsinnig. Die Enkelgeneration stellt permanent die falschen Fragen, offenbart sich als konsumsüchtig und ebenfalls nicht selten schwachsinnig. Die Generation der RAF - oder wie in diesem Fall die Protagonisten der Guerillabewegung - stellt, so scheint es nicht selten, persönliche Eitelkeiten über die Kampfziele, die als Worthülsen eingestreut werden. (Man verzeihe mir die Vergröberung.)

Zentrales Thema des Stückes ist die Auseinandersetzung zwischen Ulrike (Maria) Meinhof und Gudrun (Elisabeth) Ensslin um die "königliche" Vorherrschaft. Hier bemühte Elfriede Jelinek aus eher undurchschaubaren Gründen die Parallele zu Maria Stuart und Elisabeth I. Eine schlüssige Erklärung bietet auch der Brief der Autorin im Programmheft nicht.
Die beiden Frauen, Ulrike (Bettina Stucky) und Gudrun (Brigitte Hobmeier), trafen auf dem Zellengang des Gefängnistraktes, nüchtern und eindrucksvoll vom Bühnenbildner Jens Kilian umgesetzt, aufeinander und rechneten ab. Tiefere, für die realen Vorgänge verwertbare Einsichten blieben aus. Vielmehr war es kaum vorstellbar, dass beide einstmals wirkliche Kampfgenossinnen waren. Beendet wurde die Fiktion schließlich durch den Abgang von Andreas Bader (Sebastian Rudolph), der unter Häme und Negation aller Inhalte in den Himmel entfleuchte. Seine (kaum verwunderlichen) Probleme mit dem Text in der Premiere waren unüberhörbar. Alles in allem begegnete dem Betrachter keine einzige Figur, die auch nur ansatzweise menschliche oder gar liebenswerte Eigenschaften hatte. Es lässt sich nicht verschweigen, dass Frau Jelinek einmal mehr ihre psychische Zerrissenheit zu einem Weltentwurf stilisierte, die wegen ihrer Abgekehrtheit und ihres menschlichen Defätismus erschreckte und frustrierte. Dabei weiß man doch, worum es eigentlich geht, wie der wärmstens empfohlene Artikel von Willi Winkler "Es geht etwas um in Deutschland" im Heft 10/07 der Kammerspiele beweist.

Das Bedauerlichste an dieser ganzen Arbeit war wohl die inszenatorische Leistung durch Jossi Wieler. Er bewies wieder einmal die Fähigkeit, Texte in spannende Szenen umzusetzen und Schauspieler zu Höchstleistungen zu animieren. Die darstellerische Leistung aller Beteiligter war exzellent. Allein, der Sinn der ganzen Unternehmung bleibt fragwürdig. Das konnte auch Regisseur Wieler zwar nicht abwenden, aber doch hinreichend kaschieren. Dem Ruhm von Frau Jelinek wird es nicht abträglich sein, wie die Geschichte ihrer literarischen Tätigkeit hinlänglich beweist.

Wolf Banitzki

 

 

 


Ulrike Maria Stuart

von Elfriede Jelinek

Bettina Stucky, Hildegard Schmahl, Werner Rehm, Katharina Schubert, Sebastian Rudolph, Brigitte Hobmeier

Regie: Jossi Wieler

Kammerspiele Familie Schroffenstein von Heinrich v. Kleist


 

 

Wahn mit tödlichem Ausgang

Der Beginn der Arbeit an "Familie Schroffenstein" fiel in das Jahr 1800. Kleist war 23 Jahre alt und titelte seinen Erstling vorerst mit "Familie Ghonorez". Der Dichter, er hatte zuvor seine soldatische Laufbahn beendet und gerade sein Studium der Rechte geschmissen, stand ganz unter dem Einfluss von Jean-Jacques Rousseaus pädagogischem Roman "Emile oder über die Erziehung" sowie Schillers "Don Carlos, Infant von Spanien" und "Wallenstein". Er war ein Suchender, der humanistische Grundwerte mit den gesellschaftlichen Abläufen in Beziehung zu setzen versuchte und zu keinem guten Schluss kam. In seiner Ohnmacht entwarf er einen Dramenstoff, der Shakespearesche Ausmaße annahm und wie dieser in ähnlichen Stücken über das Tragödische nicht hinaus gelangte. Selbst eine Romeo und Julia Geschichte fand ihren Platz in einem Weltentwurf, der keine Hoffnung zulässt.

Am Anfang dieser Geschichte steht ein Erbvertrag der Familie Schroffenstein. Im geteilten Reich soll dem das gesamte Erbe zufallen, der den anderen überlebt. Als Ruperts Sohn Peter im Wald tot aufgefunden wird, beginnt das wahnhafte Treiben. Jeder unterstellt dem anderen das Streben nach alleinigem Besitz und alleiniger Herrschaft. Rachegelüste verhindern jegliche Kommunikation und im Strudel der Ereignisse, die scheinbar ihre Ursachen in wahnhaften Unterstellungen, Fehlinterpretation und eine durch Vorurteile verstellte Sicht haben, rotten die Geschlechter einander aus. Die sich liebenden Kinder werden schließlich durch die eigenen Väter gemeuchelt. Am Ende reichen sich diese zwar die Hände, doch leider in dem Bewusstsein, einander ausgelöscht zu haben. Die Geschlechter werden mit ihnen aufhören zu existieren. Es ist eine große Geschichte, die vielleicht die letzte Geschichte der Menschheit sein könnte. Es liegt wahrscheinlich in der Jugendlichkeit des Dichters, sich diesem kaum zu überbietenden Thema gestellt zu haben. Hierin ist möglicherweise auch begründet, dass die Geschichte für einen kurzen Zeitraum Anlass zur Hoffnung gibt, nämlich in der Liebe der Nachkommen.
 
 

 
 

Sebastian Weber, Oliver Mallison

© Andreas Pohlmann

 

So wenig wie Kleist einen anderen Ausweg aus dem ewig menschlichen Dilemma anbieten kann, so wenig bleibt ihm letztlich nur die Katharsis beim Betrachter. Aber wir leben in einer Zeit, in der Katharsis allein wegen ihrer emotionalen und auch intellektuellen Anstrengungen eher unerwünscht ist. Unterhaltsam soll es sein und kurzweilig. Wie übersteht man drei Stunden emotionale Folter dergestalt, dass einem danach noch das Glas Wein schmeckt? In dem man durch eine ästhetische Verklausulierung auf Abstand geht. Die ist Regisseur Roger Vontobel gelungen. In der Premiere hatten doch einige Zuschauer eine Menge zu lachen. Dabei war der konzeptionelle Ansatz durchaus geschickt und das Durchhalten dieses Konzeptes bis zum Schlussvorhang beweist die Intelligenz des Regisseurs und seine Fähigkeit, den Überblick nicht zu verlieren. Tatsächlich gelang ihm eine deutliche Steigerung bis zum Verlöschen allen Lebens.


Der Ansatz beruhte auf die Betonung des kindlichen Elements als Hoffnungsträger. Die unverstellte Sicht der Kinder, ihre vorbehaltlose Suche nach der Wahrheit ist im Stück enthalten und nahm auf der Bühne auch deutliche Gestalt an. Doch zu welchem Ende eigentlich, wo doch schon nach kürzester Zeit feststand, dass alles dem Untergang geweiht war. Sichtbarstes Zeichen der Bemühungen des Regisseurs, die Geschichte unterhaltsam zu erzählen, war die Konzentration auf die Sprache, der, so im Programmheft nachzulesen, ein ungeheurer Witz innewohnt. Nun, es ist wohl weniger ein Witz, wenn ein Dichter wie kaum ein anderer in der deutschen Literatur, die Semantik beherrscht und diese in der Vielgestaltigkeit zur Wahrheitsfindung und Entlarvung nutzt. Vielleicht ist es ketzerisch, doch an dieser Stelle soll behauptet werden, dass bei einer derartigen Betrachtungsweise der Dichter Kleist nicht der junge Weise ist, sondern der "Coole". Die "Coolness" seiner Sprachgestaltung benutzte Vontobel, um seine Inszenierung aufzupeppen und das Publikum dankte ihm dafür. Aber Klarheit schafft das nicht und schon gar nicht neue Einsichten, die vermittels des dramatischen Entwurfes über diesen selbst hinausgehen. Hier versagte man.

Ästhetisch war die Inszenierung überzeugend. In einem groß angelegten Bühnenbild von Petra Winterer hatten beide Geschlechter Raum. Zwei riesige verschiebbare Wandschränke, durch deren Türen die Schauspieler auf- und abgehen konnten, verschlossen die Bühne und öffneten sie nach Bedarf. In Schlüsselszenen war das jeweils andere Geschlecht spiegelbildartig im Hintergrund präsent und psychologische Vorgänge drangen in die Tiefe des Raums auf die andere Seite des Denkens und Empfindens. Zwischendurch, wenn die Jugend ihr Weltbild entwarf, wurde das gleiche Bühnenbild als Puppenstube platziert und Spielfiguren traten an die Stelle der Menschen. Diese Vorgänge, per Video auf das eigentliche Bühnenbild projiziert, hatten einen starken visuellen Effekt, kamen aber nicht selten recht infantil daher. Die kindliche (und gelegentlich kindische) Sicht konnte nicht heilbringend wirken, aber sie rührte doch an und erheiterte auch.

Die darstellerischen Leistungen war unbestritten. Jochen Noch spielte einen vor Hass erblindetet Rupert. Sein Racheschwur war unerschütterlich, selbst in Momenten, in denen Jeronimus, sehr eloquent gestaltet von Paul Herwig, berechtigte Zweifel an der Schuld des Grafen Sylvester, vorbringen konnte. Wolfgang Pregler gestaltete seinerseits den Bruder des rachsüchtigen Schroffenstein vielschichtiger. Er schwankte zwischen Wahrheit und Wahn, hatte lichte Momente, und fiel dem Wahnsinn dann doch ebenso hingebungsvoll zum Opfer. Belebend, weil physisch agil und ungeheuer präsent, wirkte das Spiel der Darsteller der Kindergeneration. Sebastian Weber fiel dabei der wichtigste Part zu. Eingangs den Racheschwur leistend, wandelt er sich durch die Liebe zu Agnes (Tochter Sylvesters) zum Träger von Vernunft. Er vermittelte die Rolle als die eines in sich erstarkenden jungen Mannes, der Verantwortung entwickelt. Lena Lauzemis brachte ihre jugendliche Anmut so ungekünstelt ein, dass sich jedem Betrachter die Rolle der "Julia" aufdrängte. Die effektvollste Gestaltung im jugendlichen Reigen gelang Oliver Mallison. In der Rolle des Johann, Sohn Ruperts, formulierte er einen schlicht gestrickten Burschen, dessen Liebe zu Agnes ihn immer wieder sehr glaubhaft an den Rand des Skurrilen brachte.

Die Inszenierung ist unterhaltsam und sehenswert. Allein, dieses Herumpaddeln in den Untiefen der menschlichen Seele ist nur eine weitere opportunistische Variante in der doch recht kargen Inszenierunggeschichte dieses Stücks. Angesichts der Seltenheit der Aufführung von "Familie Schroffenstein" ist es auch eine verschenkte Chance, visionslos und systemimmanent. Dabei wäre es doch ganz einfach gewesen, denn: Am Anfang stand der Erbvertrag. Der Wahn ist nicht die Ursache des Übels. Er ist nur die Folge aus dem Erbvertrag. Hier hätte sich ein Ansatz finden lassen, mit welchem man dem Zuschauer eine Geschichte von Kleist hätte erzählen können und sie gleichsam zu unser aller Wohl hätte überwinden können, ohne sie zu verbiegen.


 
Wolf Banitzki

 

 


Familie Schroffenstein

von Heinrich v. Kleist

Jochen Noch, Annette Paulmann, Sebastian Weber, Oliver Mallison, Jochen Striebeck, Wolfgang Pregler, Carioline Ebner, Lena Lauzemis, Paul Herwig

Regie: Roger Vontobel

Kammerspiele Oedipus auf Kolonos von Sophokles


 

 

Warum Sophokles heute?

Sophokles, 465 v. Chr. in Kolonos geboren, war in tiefer Heimatliebe Athen verbunden. Er war Schatzmeister des Attischen Seebundes und Stratege neben Perikles während Athens Blütezeit (dem Namen nach eine Demokratie), führte die traditionellen religiösen Kulte weiter und gestaltete in seinen Theaterstücken Stoffe der Mythologie. "Ein Staatskünstler!", hätte Thomas Bernhard gesagt. "Ein Staatskünstler!" Einer, der die Moral und die Ideen des Staates in Kunst befördert und vom Staat dafür zum Klassiker befördert wird. (So sinngemäß Thomas Bernhard.) Seine Figuren fügen sich stets in ihr Schicksal, begehren nie gegen die Götter auf und die Rebellion gegen die Staatsmacht beschränkt sich auf Akte der Humanität (Antigone beerdigt Polyneikes, ihren Bruder, wider Kreons Gebot). Handeln dagegen ist oberstes Prinzip. Seine Figuren handeln stets mit den Göttern, Schuld und Sühne werden wie Ware und Geld verschoben. Das heißt: Die sogenannte göttliche Wahrheit fordert gleich einer übergeordneten Instanz Tribut. Es ist, als zahle man Steuer, Ablass ... Sophokles Werke tragen diese Botschaft über Jahrtausende, haben so nichts an gewünschter Aktualität verloren.

Sophokles ist neunzig Jahre alt, als er Oedipus, den mit reichlich Schicksal geschlagenen König Thebens, seine letzte Ruhestätte suchen lässt. Alt und blind kommt der an den Hain der Eumeniden-Göttinnen auf Kolonos, um Einlass zu erbitten. Und während Oedipus sein Anliegen formuliert, steht die Vergangenheit noch einmal auf. Sein Sohn Eteokles schickt Kreon, um die segenbringende Gestalt des Vaters nach Theben zurück zu führen. Auch Polyneikes buhlt um die Gunst des Vaters. Vergebens. Oedipus steht durch den "Willen der Götter" noch einmal im Mittelpunkt. Das Orakel von Delphi hatte seinem Körper besondere Kräfte zugesprochen. Doch Oedipus hat sich entschieden. Er bittet Theseus in Athen um Schutz für sich und seine Töchter. Theseus (ein Schlagetod in der Geschichte) demonstriert Ehrfurcht vor den Göttern und Hilfsbereitschaft für die Leidgeprüften (Eine moralische Botschaft an die vom Pelop. Krieg gebeutelten Bürger Athens). Auch die Götter, deren Winken Oedipus stets folgte, sind ihm nun wohlgesonnen, hat er doch die Verfehlungen durch maßloses Leid gesühnt. Der Erhebung des Oedipus zum Heros steht nichts mehr im Weg. Er geht einem sanften lauen Tod entgegen.
 
   
 

Stephan Bissmeier, Sylvana Krappatsch

© Andreas Pohlmann

 

Jossi Wielers Inszenierung des "Oedipus auf Kolonos" spielte auf schräger Ebene. Die Bühne, gestaltet von Barbara Ehnes, zeigte die Stadttore Athens, einen Fels und einen schmaler Bach, alles getaucht in gedämpftes Licht. Zeitgenössische einfach klare Ästhetik bietet sich dem Auge des Zuschauers, nichts das ablenkt vom Deklamations-Spiel. Auf dieser Bühne ließ Jossi Wieler den "Staatskünstler" Sophokles das Wort führen - gekürzt, doch ungebrochen. Ja, er bediente als Regisseur geradezu den Text, obwohl er offensichtlich wenig damit anzufangen weiß, wie die fehlende Akzentuierung nur zu deutlich machte. Ah ja, das Thema "Migration" an den Kammerspielen ... Warum hat er dann Sophokles und die verblasene Moral auf die Bühne gebracht? Hat er nicht daran gedacht zu hinterfragen, zu entlarven?

Einzig, sein Oedipus starb nicht verklärt, von Schuld befreit, sondern verließ die Bühne durch den Zuschauerraum, wankte ins Dunkel. "Wir alle sind Oedipus", wie das Programmheft dazu meint. Und tappen wie Blinde im Dunkeln nach dieser Inszenierung?

Stephan Bissmeier gab diesen Oedipus, einen uneinsichtigen alten Mann, der über eine Stunde lang um seinen Frieden rang. Mehr in Selbstreflektion, denn in weiser Selbsterkenntnis schwelgte, selbstgerecht und starrsinnig dabei, deklamierte er mehr in sich hinein, denn ins Publikum. Er verschluckte sich geradezu am Text, ein Blinder, der auch in sich blind ist. Wie ein Stummer, der nur in sich die Worte hat. Wie einer, der ohnehin nur seine Sicht gelten lässt. Das ist zwar, im Hinblick auf die vielen alten Männer, Zeitgeist pur, der hier auf die Bühne kam, doch zu welchem Schluss? Der Textvortrag litt unter dieser Darstellung, doch Leiden hervor kehren hat, wie gefügig Unschuld beteuern, modernen Stellenwert. Was kümmern die Inhalte, wenn das eigene Äußere gut rüberkommt.

Die Töchter Antigone (mütterlich besorgt Annette Paulmann) und Ismene (genial hilflos Caroline Ebner) wirkten wie Schatten um ihn und auch Kreon (verschlagen Hans Kremer) und Polyneikes (ansatzweise aufbegehrend Edmund Telgenkämper) stellten mehr Gespenster, denn selbstbestimmte erkennbare Gestalten dar.

Ausgerechnet Theseus kommt bei Sophokles die Rolle des idealen humanen Führers zu. Eine Frau (sehr zurückhaltend Silvana Krappatsch) trägt in dieser Inszenierung den Namen. Die Geschlechterrollen wenden sich scheinbar und damit die Vorzeichen, doch die alten Texte werden weiter deklamiert und kultiviert.

Mythen sind das Grundgerüst der menschlichen Entwicklung und werden nicht selten dazu benutzt reale Vorgänge zu erklären und zu veranschaulichen. Sophokles Botschaft ist die eines alten Mannes der Gnade vor den Augen der Götter und der Geschichte sucht und noch eine letzte Botschaft des Humanen an die Zuschauer bringen will. Wenn alte Menschen in Bigotterie verfallen, so hat dies einen natürlichen Grund, die Angst vor dem Tod, doch auch immer etwas Peinliches. Und, was nützt die Botschaft, wenn Oedipus in dem Hain der Eumeniden (den von den Athenern verehrten und beschönigt bezeichneten Erinyen- Rachegöttinnen) Zuflucht sucht und damit klare Handlung setzt, vom schwertkräftigen Theseus begleitet "grablos hinging anders als jeder andere"?

Es sollte nicht angehen, dass ein Stück nach 2400 Jahren unreflektiert und ungebrochen auf die Bühne gelangt und dass fehlende Weltanschauung durch ästhetischen Manierismus ersetzt wird.


C.M.Meier

 

 


Oedipus auf Kolonos

von Sophokles

Stephan Bissmeier, Annette Paulmann, Caroline Ebner, Hans Kremer, Edmund Telgenkämper, Sylvana Krappatsch, Anna Böger, Rena Dumont, Angelika Fink, Lena Lauzemis, Musik: Charlotte Hug

Regie: Jossi Wieler

Kammerspiele Die Ehe der Maria Braun von Rainer Werner Fassbinder


 

 

Fassbinder mutiert zur Ikone

Beinahe 30 Jahre ist es her, dass Rainer Werner Fassbinder "Die Ehe der Maria Braun" , seinen 38. Film, der zugleich der Startschuss für seine BRD-Trilogie war, drehte. Dieses Werk ist nicht nur in künstlerischer Hinsicht eine Meisterleistung, es ist zugleich ein aufschlussreiches Zeitdokument, das in seiner gesellschaftlichen Komplexität aussagekräftiger ist als jedes Geschichtsbuch. Fassbinder wusste um den zwingenden Zusammenhang zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Leider war seine Zukunft sehr beschränkt und in Hinblick auf das Remake an den Münchner Kammerspielen ist dies vielleicht von Vorteil. Da das kulturell gebildete deutsche Publikum ohne Zweifel den Film kennt, kann auf eine detaillierte Handlungsangabe verzichtet werden.

In "Die Ehe der Maria Braun" handelte der Filmemacher, um es grob zu umreißen, die folgenreichste Periode deutscher Geschichte ab. Ausgehend vom Dritten Reich und deren katastrophalen Ergebnisse schilderte er die Verkümmerung des menschlichen Daseins hin zu einem alles beherrschenden Pragmatismus. Der wirtschaftliche Neuaufbau des Landes ging einher mit dem zunehmenden Verlust ideeller Werte, an deren Gipfelpunkt die deutsche Gesellschaft heute angekommen ist. Der Störfaktor "68er Bewegung" ist weitestgehend getilgt, die Inhalte vergessen und ihre Protagonisten zunehmend angepasst. Der Preis: Deutschland war noch nie so reich an materiellen und noch nie so arm an geistigen Werten. Dies spiegelte die Inszenierung als Tatsache an sich ungewollt wider.
 
 

 
 

Hans Kremer, Jean-Pierre Cornu, Brigitte Hobmeier, Bernd Moss

© Arno Declair

 

Befragt man das Theaterstück und seinen inszenatorischen Ansatz nach dem Anliegen, so bleibt kaum mehr als eine Retrospektive übrig. Eine mentale oder auch ästhetische Fortsetzung erfährt weder der Film noch der dramatische Text. Das ist zweifellos Zeitgeist. Fassbinder wurde damit durch den Regisseur Thomas Ostermeier zu einer populären Ikone gemacht und zugleich jeglicher Wirkung beraubt. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sein Konterfei auf Designer-Shirts auftaucht, getragen von Menschen, die über Fassbinder kaum mehr wissen, als dass er drogensüchtig und schwul war. Die Vermarktungsmaschinerie hat ihn eingeholt.


Wäre Thomas Ostermeier dem Geist Fassbinders gefolgt, dann hätte am Ende mit aller Eindringlichkeit stehen müssen, dass auch wir heute noch immer die geschädigten Nachkriegskinder, ausgeliefert und zunehmend wehrlos, sind. Doch nichts von alledem fand statt, so nahmen Schauspieler und Inszenatoren artig den frenetischen Applaus am Premierenabend hin und fühlten sich bestätigt. Wenn die Kammerspiele glauben, sie seien mit der Verpflichtung eines so hoch gehandelten Regisseurs auf der sicheren Seite, muss widersprochen werden.

Ohne Zweifel ist Ostermeier ein theatralisches Vollblut, der sein Metier beherrscht und zudem noch einen eigenen Weg geht. Im vorliegenden Fall war dieser Weg jedoch eine Sackgasse. Nina Wetzel hatte ein Bühnenbild entworfen, in dem der stickige Mief der drei Nachkriegsjahrzehnte atmete. Vornehmlich aus Sitzgruppen bestehend, musste der Raum Nachkriegswohnung, Bahnhof, Zugabteil, Firmenbüro, Villa, etc. vorstellen können. Thomas Ostermeier fand für alle Orte und für die Wege in diese wunderbare und zum Teil erstaunliche Lösungen, die faszinierend anzuschauen waren. Videoprojektionen leisteten sowohl Orts- wie auch Gesinnungszustände. Er inszenierte treffsicher mit jugendlicher Laxheit. Die Schauspieler schlüpften für das Publikum sichtbar in immer neue Rollen. Die Momente des Spiels standen einer Vielzahl von Umzügen und Wandlungen gegenüber. Daran war nichts Störendes. So bewegten sich die Schauspieler mit fast privater Lässigkeit am Rande des eigentlichen Geschehens. Dieser Ansatz ist durchaus legitim, kann aber bei mangelnder Disziplin fatale Folgen haben. Hans Kremer, dessen künstlerische Seriosität bislang unbestritten war, tappte dann auch in diese Falle. Er verkörperte insgesamt 12 Rollen, darunter die der Mutter Maria Brauns. Dabei chargierte er nicht selten hemmungslos, stieg wie es schien kurzzeitig aus der Rolle aus und hielt, kaum zu glauben, dass dies so vorgesehen war, ohne jede dramaturgische Sinnfälligkeit sein Geschlechtsteil in die Kamera. Lacher brachte es allemal. Ebenso eine Hintergrundszene mit Bernd Moss, der unter anderem den Liebhaber der Mutter verkörperte. Snacks aus den Hinterbacken zu speisen ist wahrlich keine ästhetische Leistung, eher Schmierentheater.

Diese fatalen Einlagen waren kaum dazu angetan, die Hauptdarstellerin Brigitte Hobmeier zu unterstützen, die sich wacker schlug. Es wurde sehr schnell deutlich, dass sie sich intensiv mit der Darstellung von Hanna Schygulla im Film auseinandergesetzt hatte. Die Ähnlichkeiten in Bewegung und Sprechduktus waren unüberseh- und hörbar. In den ansehnlichen Roben von Kostümbildnerin Ulrike Gutbrod stand sie der Filmmaria nicht nach. Steven Scharf hielt dem Vergleich zu Klaus Löwitsch nicht stand. Wenn er, sehr jungenhaft wirkend, von Kanada und Australien sprach, glaubte man ihm nicht wirklich. Jean-Pierre Cornus Darstellung von sechs Rollen war untadelig, wenngleich sein letzter Auftritt als Notarin gehörig zum Spaßfaktor der Inszenierung beitrug.

Wer glaubt, er hätte mit diesem Stück eine kongeniale Arbeit zu Fassbinders Film gesehen, dem sei dringend angeraten, sich das Fassbindersche Werk noch einmal anzuschauen. Verglichen mit dem Film wird eine große Dürftigkeit sichtbar. Und angesichts dieses Ergebnisses drängt sich zudem die Frage auf, warum dieser Film überhaupt auf die Bühne musste?


Wolf Banitzki

 

 

 


Die Ehe der Maria Braun

von Rainer Werner Fassbinder

Drehbuch: Peter Märthesheimer, Pea Fröhlich

Brigitte Hobmeier, Jean-Pierre Cornu, Hans Kremer, Steven Scharf , Bernd Moss

Regie: Thomas Ostermeier

Kammerspiele Land ohne Worte / Berliner Geschichte von Dea Loher


 

 

Im Zeichen der Zeit

Zwei Werke, zwei Inszenierungen und doch ein Abend. Gemeinsam ist den beiden Werken die Form des Monologs, die Länge von fünfundvierzig Minuten, und die distanzierte Abhandlung des jeweiligen Themas. Gemeinsam ist den beiden Inszenierungen die Form der Bühne, die Farbe und die expressionistische Umsetzung des Textes durch eine Darstellerin.

Die Autorin Dea Loher ist nach eigener Aussage eine Reisende zwischen Berlin und der Welt. "Aber ich glaube, es kommt nicht so sehr auf das "Reisen" an als auf das "Fremdsein". Fremdsein empfinde ich als große Erleichterung. Erst mal nichts verstehen müssen. Super. Und sich dann ins Unbekannte hineinforschen zu dürfen, das ist wie Sauerstoffzufuhr." So geht sie wohl auch an die Eroberung ihrer Stoffe heran. "Land ohne Worte" ist ihr jüngstes Werk und erzählt von einer Malerin und deren Versuchen die Eindrücke des Lebens in einem Krisengebiet künstlerisch zu verarbeiten. So sucht sie Kunst zu atmen. Dazu verfügt sie über eine höchst artifizielle Sprache, mit der sie dem Text Kraft und den Bildern Gestalt gibt, und über klare Struktur mit der sie den Bogen spannt. Im Fremdsein liegt der Ursprung zum Monolog und betrachtende Distanz, formal wiederzufinden in der teilweise theoretisierenden Betrachtung über Malerei (Land ohne Worte) und in der Verwendung der 3. Person im Monolog des Berliners.
 
   
 

Wiebke Puls

© Andrea Huber

 

Der Regisseur und Bühnenbildner Andreas Kriegenburg setzte auf Guckkasten, die Focusierung. Er tat dies in zwei verschiedenen Formen. In "Land ohne Worte" war es der Glaskasten für die moderne Schnecke, die ihre Fühler ausstreckt und doch ihr Haus nicht verlässt. In "Berliner Geschichten" war es eine frei schwebende Kiste, die Erdgeschosswohnung, in der Mann dahin fristet. Und Kriegenburg setzte auf Schwarz/Weiß, die Vermeidung von Farbe wodurch deutlich wurde: Sowohl in Schwarz als auch in Weiß sind alle Farben enthalten, genau wie in dem zu Papier gebrachten Text die vielfarbigen Betrachtungen eingefangen sind. Schwarz und Weiß sind die Filme des Expressionismus, in dessen unverkennbarem Stil die Stücke ihre Umsetzung auf der Bühne fanden.


Die Darstellerin Wiebke Puls verkörperte einmal die suchende, um künstlerischen Ausdruck ringende Malerin und anschließend den "wirklich kafkaesken" Berliner. Im langen grauen Kleid, war ihre Bewegung elegisch angehaucht, fließend weich und ins Gesicht stand Verzweiflung geschrieben. In schwarzen Anzug und weißes Hemd gewandet, bleichgesichtig, fielen ihr die Schultern vorn über, Richtung Bauchansatz, und in Mimik und Gestik stand sie mindestens ebenbürtig in der Reihe der Slapstik-Größen. Wiebke Puls stellte wieder einmal ihre Ausdruckstärke und Wandlungsfähigkeit unter Beweis und brillierte mit jedem der Monologe, überzeugte mit jeder Geste, keine Sekunde verschenkend.

Zwei Schauplätze, zwei Künstler und eine Schauspielerin. Gemeinsam schufen sie einen eindrucksvollen Kosmos, eine sehenswerte Theatervorstellung, die zu besuchen ein lohnendes Erlebnis ist.


Land ohne Worte
Salvador Dali stürzte sich, bevor er an die Staffelei ging, einige Male die Treppe hinab, um über den Schmerz zu Bildern zu gelangen. Dea Lohers Malerin bewegt sich im Leben der von Krieg Zerstörung und dem vergeblichem Versuch eines Aufbaus gebeutelten Stadt. Doch wohin mit dem Schmerz, wenn keine Bilder entstehen. Sie sucht nach Bildern, sucht die Eindrücke in Bilder zu fassen, erkennt Grenzen und fragt nach den Möglichkeiten der Kunst. Die Farben beleben können wie der Maler R., die Linien befreien wie der Maler M., da beginnt für sie Kunst. Der Text spricht von Farbe, doch das entstehende Bild bleibt schwarz. Wer im Glashaus sitzt, schöpft keine Bilder.

Berliner Geschichte
Typisch. Er hört harte Rhythmen, dass die Ohren wegfliegen und doch ist der Mann hilflos dem Lärm der Baustellen ausgeliefert. Sein Revier ist abgesteckt. Hier fühlt er sich einigermaßen sicher. Doch zugleich steht er ohnmächtig seiner Vermieterin und den Nachbarn gegenüber. Es bleiben nur Selbstbefriedigung, Rückzug und messianische Worte. Worte. Inszenierung und Darstellung verleihen diesen Flügel.


C.M.Meier

 

 


Land ohne Worte / Berliner Geschichte

von Dea Loher

Wiebke Puls

Regie/Bühne: Andreas Kriegenburg