Kammerspiele Platonow von Anton Tschechow


 

 

Wiedererkennung: mangelhaft

In den 40er und 50er Jahren des 19. Jahrhunderts entstand in Russland ein Werk, das heutzutage nur noch wenigen Lesern bekannt ist. Es ist der Roman „Oblomow“ von Ivan Gončarov. Dieser Text ist ein Schlüsselwerk des russischen Realismus und wurde zum Namensgeber einer epochalen Lebenshaltung – „Oblomowtum oder Oblomowerei“. Im Zentrum steht der russische Adlige Ilja Oblomow, der infolge falscher Erziehung und mangelnder Selbstdisziplin lebensuntüchtig wird. Seine idealistischen Träume, die zunächst an Bildung und Tätigkeit orientiert waren, verkümmern zur lethargischen Trägheit. Anstelle der Tat tritt die Rede über die Tat und die Rede über die eigene Unfähigkeit zur Tat. Ein Resultat aus dieser Haltung ist Liebesunfähigkeit.

Schaut man sich nun Tschechows frühes dramatisches Fragment „Platonow“ an, liegt der Schluss nahe, dass es unter dem Eindruck des „Oblomow“ entstand. Wenn nicht, so zeigt es doch, dass der 18jährige bereits die ausgeprägte gesellschaftliche Sensorik eines gestandenen Schriftstellers hatte. Wie auch in allen späteren Werken ist ein wichtiger Aspekt die dekadente Haltung des untergehenden Adels und des dazugehörigen Trabantentums. Nicht die Tat ist Gegenstand, sondern das Lamento über die Unfähigkeit zur Tat, die aus einer tiefgehenden Visionslosigkeit trotz aller Bildung und aller Ideale resultiert. Tätig ist nur das Geld und deren Lemuren. So wechseln die Güter am Ende immer in die Hände des weitestgehend idealefreien und ungebildeten (im Sinne von Herzensbildung) neureichen Bürgertums. In diesem Sinne könnte man beinahe sagen: Ein zeitgenössisches Stück!

„Platonow“ erscheint dem Betrachter auf den ersten Blick wie eine Vorarbeit zum „Kirschgarten“. Das Fragment ist breit, zu breit angelegt, nicht selten geschwätzig - aber doch immer wieder verblüffend im Detail. Die Lakonik der dramatischen Wendungen und des Wortes zeigen eine gereifte Begabung des späteren Weltdramatikers. Allein, vom Format des „Kirschgartens“ ist „Platonow“ weit entfernt.

Den Inhalt des Dramas umreißen zu wollen, wäre an dieser Stelle verfehlt, da, wie bereits erwähnt, die Geschichte in ihrer Personage sehr breit angelegt ist. Nur soviel: Platonow ist ein Dorfschullehrer, ein früh gescheiterter Idealist, Faulpelz und einer, der den Verlockungen der Weiblichkeit nicht widerstehen kann. Obgleich „noch immer, ein wenig, vielleicht verheiratet“, schlägt er kein Angebot zur sexuellen Inbesitznahme aus. Seine Ehefrau Alexandra Iwanowna, genannt Sascha, zerbricht daran. Anna Petrowna Wojnizewa, Genaralswitwe und hochverschuldete Eigentümerin des Gutes, das gleichsam Spielort ist, liebt Platonow vorbehaltlos. Am Ende tötet sie ihn. (So geschehen in der Vorlage von Tschechow.)
 
   
 

Thomas Schmauser

© Andreas Pohlmann

 

 

Regisseur Stefan Pucher las das Stück unter dem Aspekt menschlicher Verhaltensweisen, wie sie in ihrer Zeitlosigkeit auch auf uns überkommen. Das bedeutet, er suchte die Parallelen zum heutigen Menschen, um, wie es die Werbung der Kammerspiele beschreibt: „ (...) den Zuschauern den Spiegel vorzuhalten.“ Das impliziert zumindest erst einmal, dass ihm die gesellschaftlichen Verhältnisse einigermaßen egal sind, denn die unterscheiden sich in ihrem Wesen deutlich von den heutigen. Tschechow beschreibt den Untergang einer ganzen gesellschaftlichen Schicht, die heute unter dem Aspekt ernsthafter Betrachtung nur noch clowneskes Gazettenfutter ist. Außer der Symptomatik der siechen Gesellschaft ähnelt sich kaum etwas. Aber gerade darin besteht die Modernität des Stückes. Allerdings könnte man das auch von einem Euripides-Stück sagen.

Was Stefan Pucher schließlich auf die Bühne brachte, beschrieb die Werbung mit zwei Sätzen sehr treffend: „Es häuft sich etwas an in dieser überhitzten Atmosphäre der Geselligkeit, bis irgendwann der Gipfel der Beleidigungen erreicht ist. Alles bis zum Gehtnichtmehr.“ (Website der Münchner Kammerspiele) Wie im antiken Drama bedeutet „bis zum Gehtnichtmehr“ den Tod und die damit einsetzende Katharsis. Die bleibt in jedem Fall aus in den Münchner Kammerspielen. Der Grund ist ein einfacher. Stefan Pucher macht das Publikum zum Gegenstand seines Spiels: „Diese aufgetakelten Lachnummern sind wir, nur dass wir das nur schwerlich wahrhaben wollen.“ (Website der Münchner Kammerspiele) Da der normale Zuschauer einigermaßen unbedarft und offen ins Theater geht, würde er darauf gar nicht kommen. Auch fordert die Inszenierung dies nicht zwingend ein. Also sei es ihm, dem Zuschauer, hiermit explizit noch einmal gesagt.

Nina Wetzels Bühne glich dem Areal um einen Swimming Pool einer noblen Villa, weißer Kies, der Pool und einige weiße Plastikmöbel. Im Hintergrund der Bühne zwei Ausschnitte, die für Videoprojektionen dienten. Jede Ankunft einer Person ging mit dem Vorbeifahren einer S-Bahn vonstatten. Der visuelle Effekt wurde vom Publikum hörbar honoriert. Die Landschaft dahinter war trist, indifferent und öde. Über die Kiesfläche, die den gesamten Bühnenraum bedeckte, schlurften nun die kraftlosen, der Langeweile ergebenen Personen. Die Gangart war schleppend, scheinbar immer am Rand der vollständigen Erstarrung. Es wurde getrunken, geraucht, gebadet und zähflüssig Konversation betrieben. Einzig ein Geschlechtsakt rührte am Rhythmus der Agonie. Man teilte Bösartigkeiten aus, bezichtigte sich selbst und gegenseitig und verfolgte dabei kein Ziel.

Stefan Pucher hatte den Platonow mit Thomas Schmauser besetzt, einem Schauspieler, der auf besondere Weise kapriziös und manieriert spielte. Das machte ihn für eine gewisse Zeit interessant, bald aber kannte man die gespreizten Hände, das leidvolle Zusammenfallen in einen fast embryonalen Zustand, das schnelle in sich Gekehrtsein und hoffte darauf, den Text bald wieder akustisch verstehen zu können, um den Faden nicht zu verlieren. (Mich begann sehr früh die Vorstellung zu verfolgen, und dafür bitte ich um Entschuldigung, ich sehe einen sturzbetrunkenen Jens Harzer.)

Wichtigste Mit- oder Gegenspielerin war Sylvana Krappatsch als Generalswitwe Anna Petrowna Wojnizewa. Auch sie ist in ihrer Physis eine Darstellerin, die zur Expression neigt, doch weit weniger hingebungsvoll auf den äußeren Effekt bedacht. Ihr Grundgestus war wie zäh tropfender Honig, begehrenswert und doch von abschreckender Klebrigkeit. In ihrer harten Stimme schwang selbst dann, wenn sie von Liebe sprach, Resignation und Zynismus mit. Über die anderen Darsteller gibt es wenig zu sagen. Sie gestalteten allesamt auf hohem Niveau. Doch ihre Rollen ließen kaum ein Profil zu, dass mehr hinterließ als die Spuren im weißen Kies. Das ist vermutlich die bedeutendste Schwäche der dramatischen Vorlage.

Die eigentliche Schwäche der Inszenierung lag in dem Versuch, eine Gesellschaft als Spiegelbild zu inszenieren. Wohl die wenigsten Zuschauer waren sich klar darüber, dass sie sich selbst sehen sollten. Schon bald wurde deutlich, dass dieses Drama kein wirkliches Ziel hatte. Der Tod des Protagonisten, so abscheulich oder bedauernswert dieser auch sein mag, kann nur eine Etappe sein. Es fehlte der Ansatz zur Identifikation, die es dem Zuschauer ermöglichte, über die Geschichte hinaus zu gehen. So blieb der Betrachter, der sich eigentlich als Gegenstand der Geschichte sehen sollte, außen vor. Er erlebte eine wohltemperierte und langatmige seelische Apokalypse.

Wolf Banitzki

 

 


Platonow

von Anton Tschechow

Sylvana Krappatsch, Oliver Mallison, Katharina Marie Schubert, Peter Brombacher, Lasse Myhr, Tabea Bettin, Walter Hess, Wolfgang Pregler, René Dumont, Thomas Schmauser, Lena Lauzemis, Stefan Merki

Regie: Stefan Pucher

Kammerspiele The new Electric Ballroom von Enda Walsh


 

 

Endstation Hoffnungslosigkeit

Breda (Hildegard Schmahl) und Clara (Barbara Nüsse) sind längst angekommen. Eigentlich dauerte ihre Lebensreise nur 10 Meilen, zum New Electric Ballroom. Es war jenes Etablissement, in dem Roller Royle und seine Showband auftraten. Für die beiden Schwestern war Roller nicht nur die Verkörperung einer anderen und besseren Welt, fern von diesem Fischerkaff und der Fischkonservenfabrik. In ihm sah jede für sich gleichsam auch den Prinzen, der sie in die wahre Liebe hineinküssen könnte. Beide werden von Roller "dran genommen" und beide bleiben "ungeküsst". Das Gleiche hätten sie auch im "Sunshine Ballroom" haben können, wohin die Frauen der Konservenfabrik samstags gingen. Doch gerade dieser Welt wollten sie entfliehen. Ihre vermeintliche Hybris, die nichts anderem als einer Sehnsucht auf ein menschliches Leben entsprang, brachte sie um alles.

Wenn sich der eiserne Vorhang vor dem Gefängnis für 1 Stunde und 45 Minuten hebt, erlebt der Betrachter zwei alte Frauen, die vielleicht seit einem halben Jahrhundert dasselbe Ritual vollziehen. Immer wieder durchleben sie den Augenblick, in dem sie sich von der Liebe verabschiedeten. Eine Außenwelt gibt es für Breda und Clara nicht mehr, wie das düstere, grabähnliche Bühnenbild von Claudia Rohner verdeutlicht. Zerborstene Treppen lassen eine Flucht unmöglich erscheinen. Wer in diese Gruft gelangen will, muss waghalsig klettern. Und wer will schon zu den beiden kommen außer Ada (Annette Paulmann), die das Schicksal der beiden Alten zu teilen scheint. Und noch einer hofft, Zugang zu finden. Es ist der Fischhändler Patsy (Hans Kremer), der nichts sehnlicher wünscht, als einmal ein richtiger Besucher sein zu dürfen. Die dramaturgische Konstellation ließe ein Happy End zu, doch nicht der Autor und schon gar nicht Regisseur Stephan Kimmig, der konsequent den Intentionen Enda Walsh's folgt.

Was am Anfang noch befremdlich wirkt, die harte und direkte Sprache, wächst sich mit dem Fortgang der Geschichte immer mehr zu einem tiefen Unbehagen aus. Der 1967 in Dublin geborene Autor Walsh bekennt sich zu seiner irischen Literaturtradition und diese sollte man vielleicht ein wenig kennen, um sich ohne größere Irritationen in die Geschichte begeben zu können. Menschlichkeit wird hier scheinbar anders definiert. Die Erinnerung an einen literarischen Helden Becketts drängt sich auf, der jeden Tag ans Grab einer Verstorbenen geht und daraufpinkelt, um ihrer zu gedenken.
 
   
 

Annette Paulmann, Barbara Nüsse, Hildegard Schmahl

© Andreas Pohlmann

 

 

Walsh geht weit, sehr weit in seiner Darstellung eines Menschenbildes, in dem Hoffnung keinen Platz mehr zu haben scheint. Und wenn es tatsächlich so ist, dass die Hoffnung immer zuletzt stirbt, kann dieses Dasein nur eine Sackgasse sein.

Regisseur Stephan Kimmig weiß die Klippen dieses Stückes, den unerträglichen Realismus, geschickt zu umschiffen. So bekommen Breda und Clara über weite Strecken starke clowneske Züge, womit Kimmig deutlich Beckettsches Land betritt, auch wenn das Programmheft gerade diesen Unterschied zwischen beiden Autoren glaubhaft machen möchte. Zudem gibt er der Komik, ob vom Darsteller oder vom Autor gewollt, viel Raum. Dabei kann er auf Interpreten zurückgreifen, die ihren Part souverän gestalten. Hans Kremer als Patsy bleibt nicht nur wegen seiner glaubhaften Darstellung eines Verlierers in einer Welt, die an sich nur aus Verlierern besteht, im Gedächtnis. Ihm wurde als Patsy die Gnade zuteil, an seinem Schicksal, das ebenso unerträglich ist, nicht mitgestrickt zu haben.

Eine gelungene Inszenierung allemal, doch am Ende bleibt beim Betrachter ein Restzweifel darüber zurück, ob er diese Hoffnungslosigkeit teilen möchte.

 
Wolf Banitzki

 

 


The new Electric Ballroom

von Enda Walsh

Annette Paulmann, Barbara Nüsse, Hildegard Schmahl, Hans Kremer

Regie: Stephan Kimmig

Kammerspiele Winter von Jon Fosse


 

 
Die Poesie der Wortlosigkeit

Kaum merklich aber unaufhaltsam macht sich ein Name in den Spielplänen der europäischen Theater breit, Jon Fosse. Ist er ein neuer "Shootingstar" in der Szene? Gewiss nicht, denn seine sprachliche Ästhetik ist alles andere als abonnementfördernd in Zeiten von "Splash" und "Comedy". Die Annahme ist verwegen und soll dennoch gewagt werden. Fosse könnte ein Ausweg sein aus dem hemmungslosen Amüsiertheater, das schamlos auch nach allen Klassikern greift.
 
"Winter" heißt das Stück, das am 29. Januar 2005 an den Münchner Kammerspielen Premiere hatte. Und wieder einmal hat dieses Theater Zeichen gesetzt. Es bedarf schon eines großen Einfühlungsvermögens, um den riesigen emotionalen Reichtum in den kargen, von Wortlosigkeit geprägten Stücken Fosses zu entdecken. Regisseur Jossi Wieler hat diese Fähigkeit einmal mehr bewiesen.
 
An einem Ort ohne Namen verharrt ein Mann (André Jung) schweigend in der Abenddämmerung auf einer Bank, als er von einer Frau (Sylvana Krappatsch) mit einem eindeutigen Angebot überfallen wird. Es ist, als wären sie die einzigen Menschen auf diesem Planeten und so finden sie, scheinbar völlig überfordert mit der Situation, trotz aller Sprachlosigkeit für eine Nacht zueinander. Am Ende entpuppt sich diese Begegnung für beide als schicksalhaft, denn beider Leben ist in der Sackgasse.
 
 

 
 

André Jung, Sylvana Krappatsch

© Leonard Zubler

 

 

Die Sprachlosigkeit, ein reales gesellschaftliches Symptom, ist für Fosse das wichtigste poetische Mittel geworden. Seine Figuren agieren durchaus bewusst, ohne sich jedoch artikulieren zu können und aus den knappen Texten, angereichert mit zahllosen Wiederholungen, und den schauspielerischen Gesten entsteht ein Spannungsfeld, in dem die Geschichte sichtbar wird. Der Zuschauer erschafft die Geschichte stellvertretend und erlebt sie somit hautnah. Damit gelang dieser Inszenierung etwas, was eigentlich selbstverständlich sein müsste, es aber nicht mehr unbedingt ist. Das Kunstwerk erwacht und lebt im Betrachter. Alles Plakative, Erzählende ist verschwunden und alles ist eine einzige Suggestion.

Bühnenbildnerin Anja Rabes gab dem Spiel einen perfekten Rahmen, der, wie der Text auch, sich nur in Andeutungen erging. Der Spielhintergrund bestand aus einer Jalousie, die Abend und Tag beschrieb. Davor stand eine Bank, die sich in der Nacht in ein Bett verwandelte. Die Jalousie öffnete sich und in einem überdimensionalem Fenster tanzten Lichtreflexe wie Botschaften aus einer fremden Welt. Das Verlorensein von "Er" und "Sie" wurde durch Wolfgang Siudas Musik wirkungsvoll überhöht. Die Reduktion auf das Wesentliche verhinderte dabei jede Form von Psychologie.

Dass dieser Text eine echte Herausforderung für jeden Darsteller ist, liegt auf der Hand und Sylvana Krappatsch bewältigte sie ebenso bravourös wie André Jung. Jungs Part war dabei der schwierigere, denn "Er" hatte eine tiefe inner Wandlung zu durchleben, ohne dass ihm dafür erklärender Text gegeben war. Seine Gesten und Haltungen, von verstört bis schmerzvoll, erzeugten eine Spannung, der der Zuschauer nicht entkam. Sylvana Krappatschs "Sie" war provokant und verstörend. Erst als sie sich am Ende in ihrer sozialen Determination zu erkennen gab, verstand der Betrachter die Rolle.

Regisseur Jossi Wieler erreichte mit dieser Inszenierung ein Höchstmaß an Poesie und künstlerischer Geschlossenheit. Sein Vertrauen in die Zeitlosigkeit des Stückes verhalf dem Publikum zu einem beeindruckenden Theaterabend, der ohne Zweifel eine Langzeitwirkung haben wird. Und noch etwas muss hervorgehoben werden. Das Stück und auch die Inszenierung lassen Hoffnung zu, Hoffnung, dass das menschliche Wesen nicht verloren ist. Man möchte angesichts des "Mainstreams" an deutschen Theatern meinen, dazu bedarf es inzwischen Mut. Wieler und seine Protagonisten bewiesen Mut.

 
Wolf Banitzki

 

 


Winter

von Jon Fosse

André Jung, Sylvana Krappatsch

Regie: Jossi Wieler

Kammerspiele Die Nibelungen von Friedrich Hebbel


 

 

Nibelungen - nie gelungen - und kein Ende

Eines haben wohl alle "Nibelungen" - Inszenierungen gemeinsam: Sie werfen die grundsätzliche Frage über den Sinn der Unternehmung auf. Und noch etwas haben sie gemeinsam: Keine vermag eine Antwort zu geben. So geschehen auch in der Inszenierung von Andreas Kriegenburg an den Münchner Kammerspielen. Hebbels Mythenmonstrum wurde zum Theaterfluch, der viele Geister beschäftigt und Zuschauer verwirrt. Wir können diesen Fluch nicht abschütteln, denn diese mittelalterlichen Mythen sind die einzigen, die wir haben. Dabei ist ein anständiger Mythos notwendig für die Identitätsfindung. Sichtbar wird diese fatale Situation immer wieder in der durchschimmernden Frage: Sind wir das, die Deutschen? Die Diskussion um den Stoff spiegelt zumindest eine deutsche Eigenart wider, nämlich den Hang, jede Geschichte aufzublasen bis zur Unüberwindbarkeit, um damit einem zutiefst verwurzelten Masochismus zu frönen. Dabei handelt es sich nur um eine Familiensaga, deren wichtigstes Merkmal darin besteht, dass niemand sie überlebt, und die also denkbar ungeeignet als Nationalepos ist.
 
   
 

Wiebke Puls, Hans Kremer, Christoph Luser, Bernd Grawert, René Dumont, Stefan Merki, Sebastian Weber

© Andreas Pohlmann

 

 

Regisseur Kriegenburg stellt sich die fundamentale Frage nach der deutschen Identität erst gar nicht. Er setzt diese Tatsache voraus und erklärt die Ordnungsliebe der Deutschen, gestört durch Siegfried (Olliver Mallison) und Kriemhild (Wiebke Puls), zum Mittelpunkt seiner theatralischen Analyse. Als Bühnenbildner schuf er dafür einen großen Raum aus Mauern, die das Mittelalter zitieren. Die Bühnendecke ist grandios effektvoll absenkbar und schafft eine zweite Spielebene, womit sich jeder Umbau erübrigt. Zugleich versinnbildlicht sie, aus der Waage geratend, die Schiefe Ebene, die der Katastrophengeschichte innewohnt.
 
In sechs Stunden Spielzeit erlebt der Zuschauer das dreiteilige Drama "Der gehörnte Siegfried", "Siegfrieds Tod" und "Kriemhilds Rache". Es ist keine homogene Inszenierung, sondern durchsetzt von mehr oder weniger sinnvollen Brüchen. Brüche sind Kriegenburgs Spezialität, doch leider sind sie nicht immer auf gleichem intellektuellem Niveau angesiedelt. So ähneln die ersten beiden Teile nicht selten einer Comedyshow. Die Schauspieler treten unvermittelt aus dem Hebbelsche Text heraus und leihen dem Regisseur ihre Stimme, der verkündet: "Männer, ihr müsst die Arschbacken zusammenkneifen." Die Einfügungen sollen vermutlich einen Zeitbezug herstellen und da geschieht es schon mal, dass Gunther die unverblümte Bitte äußert, Siegfried möge Brunhild "sein Rohr zeigen und sie mal richtig drüberziehen" oder sie "richtig durchzuficken". Der Effekt sind Lacher, die Kriegenburg eigentlich nicht nötig hat, verfügt der Bühnenmagier doch über genügend bildnerische Kraft, das Publikum in den Bann zu schlagen. Dem Regisseur sei zugestanden, dass er gegen den Hebbelschen Text rebelliert. Doch ob diese Einfügungen tauglich sind, bleibt fraglich, sind sie doch kaum mehr als ein Kniefall vor der Spaßgesellschaft und somit Opportunismus. In mindestens zwei Szenen wird deutlich, welche Kraft dem Hebbelschen Text innewohnt. Eine herausragende Szene konnte das Publikum erleben, als Hagen Tronje (Hans Kremer) Kriemhild das Geheimnis der Verwundbarkeit abrang. Mit sehr leisen und intensiven emotionalen Tönen erlebte der Zuschauer eine Wendung im Stück, die schaudern machte, denn sie läutete die Tötung Siegfrieds ein. Als Kriemhild, sieben Jahre nach dem Tod ihres Gatten von der Werbung Etzels (Stefan Merki) erfuhr, leuchtete Hebbels Sprachkraft dank der exzessiven Gestaltung durch Wiebke Puls noch einmal auf. Doch kam es auch hier leider zur Interruption in bereits beschriebener Manier. Gunther (Bernd Grawert) sprach: "So, nu komm mal wieder runter".
 
Als grandios kann nur bezeichnet werden, was sich im ersten Auftritt von Brunhild (Julia Jentsch) und Frigga (Annette Paulmann) auf Isenland abspielte. Andreas Kriegenburg ließ beide den Text in onomatopoetischem Sprachgemisch vortragen und es klang wie zauberhaftes Vogelzwitschern. Allerdings muss ebenso angemerkt werden, dass sich seine theatralischen Mittel in vielen Inszenierungen wiederholen. Er multipliziert z.B. gern Figuren. So trat Siegfried im ersten Teil im Dutzend auf und im Publikum machten sich sofort Bedenken wegen des Textverständnisses breit. Die Furcht war unbegründet, denn der Auftritt blieb einmalig. Ein weiteres beliebtes Mittel des Regisseurs ist die Formierung des Ensembles zu Perkussionsgruppen. In dieser Inszenierung waren sie gleich zwei Mal zu erleben. Und, wer andere Inszenierungen von der Hand Kriegenburgs kennt, wartet geradezu darauf, dass einer oder mehrere Darsteller plötzlich an den Wänden entlang rennen und sie anspringen. Mila Dargies als Gudrun, Tochter Rüdegers (Walter Hess), erlöste Wartende. Die inzwischen obligatorische Travestie, Siegfried in Frauenkleidern, durfte ebenso wenig fehlen. Musikalisch sparte der Regisseur kaum etwas aus, eingespielt wurde der Soundtrack von DJ Volker (Paul Herwig). Von Kitsch bis Kult war alles dabei, wobei für letzteres Rammstein steht, eine Mecklenburgischen Band, auf die selbst Kultregisseur David Lynch bereits zurückgriff. Unterm Strich hätte man sagen können, eine unterhaltsame, bunte, gelegentlich zappelige Inszenierung mit einigen derben Witzen, wenn da nicht der dritte Teil (Kriemhilds Rache) gewesen wäre, der die Inszenierung doch noch zu einem Ereignis wachsen ließ. Auf der nackten Bühne verblieb nur noch die Zwischendecke, gleichsam der Festsaal, in dem die Nibelungen ihr blutiges Ende erleiden. Ohne Beiwerk erlebte der Zuschauer in rasantem Tempo den Niedergang eines ganzen Geschlechts. Die Figuren agierten direkt, reduziert auf das Wort, das plötzlich bleierne Schwere bekam. Die Charaktere entblößten sich auf ihre Gefühls- und Gedankenwelt und dem Zuschauer wurde endlich zugestanden, ohne Ablenkung die Katastrophe vor dem eigenen imaginären Auge zu sehen. Die wenigen Mittel waren einfach und deutlich. Die Ritter erschienen, in kaltes Licht getaucht, in Wehrmachtsmänteln. So schlug, was vorher heiter blödelnd denunziert wurde, als ein Bild aus der Vergangenheit, das die Geschichte den Deutschen eingebrannt hat, zurück. Endlich machte die Saga Sinn.
Wenn es einen tauglichen Spielansatz für dieses zu Recht verkannte Nationaldrama gibt, dann den, dass wir uns darauf besinnen, welche unselige Rolle es in den Ideologien vergangener Zeiten spielte. Wenn es als Vehikel dienten konnte, Teile deutscher Geschichte auf blutige Weise zu gestalten, dann sollte es geeignet sein, deutsche Geschichte zu erklären.
 
Um die Leistung des großartigen Ensembles zu würdigen, sollen drei Darsteller stellvertretend genannt werden. Wiebke Puls hatte als Kriemhild wohl die größte Aufgabe zu bewältigen. Sie entwickelte die Gestalt Kriemhilds überaus glaubhaft vom unbedarften Mädchen hin zur fanatischen Massenmörderin. Ihr Spektrum schien dabei unerschöpflich zu sein. Hans Kremers Hagen lebte hingegen weniger von der emotionalen Vielschichtigkeit eines Charakters, als vielmehr von der Überzeugungskraft seiner "realpolitischen" Argumente im Zusammenspiel. Obgleich stets aus der zweiten Reihe agierend, vermochte es Kremer, den Zuschauer deutlich von der Omnipräsenz Hagens zu überzeugen. Und last but not least soll Walter Hess genannt werden, der seinen großen Auftritt in "Kriemhilds Rache" hatte. Er führte den Zuschauern das Martyrium eines Vaters markerschütternd vor Augen, der seine Tochter und seinen Schwiegersohn in den Tod schicken muss.
Abschließend soll noch auf den Dichter verwiesen werden, der das Werk aus einer Haltung heraus schuf, die durchaus kleinbürgerliche Züge trug. Hebbel konnte sich vom grausamen Elend seiner ersten dreißig Lebensjahre nie wirklich befreien. So ist die Einschätzung Alfred Kerrs nicht von der Hand zu weisen, der meinte: " Hebbel empfindet ein verborgenes Glück über das Unglück auf Erden. Eine tragische Schadenfreude. Eine Wonne über Das, was er als Frevel missbilligt ... Hebbels Dichtungen sind unsterblich; seine Lehren unmöglich."

 
Wolf Banitzki

 

 


Die Nibelungen

von Friedrich Hebbel

Wiebke Puls, Hans Kremer, Christoph Luser, Bernd Grawert, René Dumont, Paul Herwig, Stefan Merki, Sebastian Weber, Oliver Mallison, Hildegard Schmahl, Julia Jentsch, Annette Paulmann, Walter Hess, u.a.

Regie/Bühnenbild: Andreas Kriegenburg

Kammerspiele Hamlet von W. Shakespeare


 
 
Hamlet als sinnstiftende Nebenrolle

"Elsinore ist überall" behauptet die Inszenierung des "Hamlet" an den Münchner Kammerspielen und so ist der Name des Potentaten und Politmörders Claudius nur ein Pseudonym hinter dem sich George W. Bush verbirgt. Damit hat Regisseur Lars-Ole Walburg eine Prämisse gesetzt, die durchaus annehmbar ist, das Publikum aber per se spaltet, wie einige (wenige) Abgänge während der Pause bewiesen. Doch das Stück heißt "Hamlet" und nicht "Claudius". Dies ignorierend, verschob die Inszenierung die Prioritäten zugunsten der Politik, weg vom Schicksal des gedankenschweren und handlungsarmen Prinzen, der vornehmlich eine katalysatorische Funktion übernahm. Auch das macht mehr Sinn als der Versuch, den zahllosen Hamletdeutungen eine weitere hinzuzufügen. Schrieb doch schon T.S. Eliot, den gordischen Knoten dieses Problems zerschlagend: "Wir müssten etwas verstehen, was Shakespeare selber nicht verstand." Eliot bezeichnete den Hamlet als künstlerischen Fehlschlag, was durchaus darin begründet liegen mag, dass der Dichter einen aktuellen politischen Vorgang, nämlich die Hinrichtung des Grafen von Essex 1601 wegen Verschwörung, und die Ethik Montaignes, in dessen Bann sich der Dramaturg des Globe-Theaters befand, verschmelzen wollte.

Dass Shakespeares Stücke sich für derartige Experimente eignen, ist mit dieser Inszenierung einmal mehr bewiesen und hätte wohl seine Zustimmung gefunden. Brecht, der in seiner ausgeprägten Eitelkeit immerhin Shakespeares Größe anerkannte, bemerkte einmal sinngemäß, dass man mit Politikern einfach reden müsse, damit sie einen verstehen. Walburgs dokumentarische Aufklärungsarbeit und das hinlänglich bekannte Treiben von Herrn Bush unterstreicht zumindest die Einsicht, das Politik, hier hemmungsloses Machtstreben, ein primitiver und blutiger Vorgang ist, der schaudern macht. So versucht der Regisseur erst gar nicht, Hamlet endgültig zu erklären und richtet seinen Focus auf das investigative Beziehungsgeflecht zwischen Machern, Opportunisten und Opfern. Hamlet wird zur sinnstiftenden Nebenrolle. Aus dem Stück wird ein Geheimdienstthriller.
 
   
 

Wolfgang Pregler, Christoph Luser

© Andreas Pohlmann

 

 

Um der ganzen Geschichte unter diesem Aspekt eine starke Stringenz zu verleihen, verzichtete Regisseur Walburg auf gut 50 Prozent der von Shakespeare vorgegebenen Rollen. Das Intrigante der Geschichte trat so in den Vordergrund und die Katastrophe nahm beinahe ungehemmt ihren Lauf. Der dänische Prinz treibt durch seinen vermeintlichen Wahnsinn, der sich für alle Beteiligten schnell zur Bedrohung auswächst, zum Handeln. Es gilt, den Brudermord und den illegitimen Machtwechsel zu verschleiern. Doch die Lawine rollt und die Ultima Ratio, der Tod Hamlets, wird zwingend. Am Ende bleibt nur Hamlets Freund Horatio mit dem Auftrag zurück, die Wahrheit zu verbreiten. Dieser hat nicht nur das letzte, sondern auch das erste Wort und so führt Sebastian Weber als Horatio in einem Prolog, sehr eindringlich als Understatement eines Nachdenkenden, in die heutige politische (Welt-) Situation ein.
Die Geschichte gewinnt Dank der Darstellung Christoph Lusers als Hamlet schnell an Fahrt. Luser gibt einen jungen kraftvollen Mann, der in seiner körperlichen Präsenz und seinem Sprachgestus auf erstaunliche Weise die innere Zerrissenheit des Charakters Hamlets überwindet und eine ganzheitliche glaubhafte Figur schafft. Unter den Realpolitikern stach besonders Polonius hervor, der von Jean-Pierre Cornu in hohem Maße korrekt und verbeamtet daher kam. Seine spießige, in der Intelligenz der Dummheit so gefährliche, weil von hypertrophen Selbstbewusstsein getragene Weltsicht war bedrückend und gleichsam komisch.
In der Übersetzung von Wolfgang Swaczynna oder in der Strichfassung von Dramaturgin Marion Hirte blieb eine Rolle deutlich auf der Strecke, nämlich die der Königin Gertrud. Ulrike Krumbiegel hatte nur wenig Gelegenheit, ihre Schauspielkunst bemerkenswert einzubringen. Wolfgang Preglers Claudius war so authentisch, dass er als "Mann ohne Eigenschaften" dem Bild des heutigen Politikers in erheblichem Maße entsprach.

Die Regie von Walburg war für Überraschungen gut. So bewältigte er die 5. Szene im ersten Akt (Auftritt des Geistes), die heutigentags nicht selten zur Peinlichkeit gerinnt, mit Bravour. Hamlet und Horatio lümmelten vor dem Fernseher und lauschten der (Synchron-) Stimme Robert de Niros in "Taxidriver", der gerade darüber theoretisierte, wie man den Augiasstall ausmisten könnte, als sich Hamlets Vater unvermittelt mit derselben Stimme via TV an ihn wendete. Überraschend war auch die Szene zwischen Polonius und seiner Tochter Ophelia, berückend als kindlich Verliebte und berührend als verlassene Wahnsinnige von Katharina Schubert verkörpert. Der Vater nagelte seine Tochter mit einem Tacker an die Wand, kreuzigte sie, um ihre Unschuld zu bewahren. Alles dies geschah in einem (ästhetisch) gewöhnungsbedürftigen Bühnenbild von Barbara Ehnes. Ihr Palast in Elsinore war eine konzeptionell sinnvolle Mischung aus einem Sechs-Sterne-Hotel in Dubai, dem schlechten Geschmack eines Texaners englischer Abkunft und der Karl-May-Villa "Old Shatterhand". Die Möglichkeiten, durch Drehung von Wänden zusätzliche Räume zu schaffen und Umbauten unnötig zu machen, waren mehr als gelungen.

Diese Inszenierung wird Freunde und Feinde finden. Ihre Politiklastigkeit wird die Shakespeareliebhaber auf den Plan rufen, die die hehre Kunst anbeten und nach dem altbekannten Text von Schlegel und Tieck verlangen. Sie haben nicht ganz Unrecht, denn immerhin hat diese Arbeit ihre Schönheitsfehler. Die Brüche, die entstanden, wenn Walburg seinen Schauspielern Raum gab, mit eigenen (Alltags-) Worten Kommentare zur Geschichte zu erzählen, die dann auch schon mal in Blödelei umschlagen, dienen der Sache nicht. Hier handelt es sich um ein Indiz für das Unvermögen zur Kunstsprache, die das Theater von der Realität abhebt. Und es erinnert an Frank Castorf (Volksbühne Berlin), der auf diese Weise seine Akteure aus den Zwängen der Schauspielkunst befreien möchte, letztlich aber nur die Schauspielkunst ohne wirklichen Ersatz abschafft.

Befragen wir Shakespeare noch einmal. Der plädierte vehement für einen Zeitbezug und leistete nicht selten das, was heute die Zeitungen leisten müssten und nicht zur Genüge tun. Vielleicht verhalf diese Inszenierung Herrn Markwort (Focus), der ebenfalls die Premiere besuchte, zu ähnlichen Einsichten. Denn Fakten, Fakten, Fakten sind nur Fakten, Fakten, Fakten. Walburg erreicht doch immerhin die emotionale Intelligenz der Zuschauer, denn bei ihm ging es um Menschen, Menschen, Menschen.
Und noch etwas leistet diese Inszenierung. Sie hat, was uns die Bundesregierung in dieser Deutlichkeit schuldig geblieben ist, formuliert, dass der Irakkrieg ein völkerrechtswidriger ist und ihre Veranstalter gefährliche Demagogen und Terroristen sind.

 
 
Wolf Banitzki

 

 

 

Hamlet

von W. Shakespeare

Wolfgang Pregler, Ulrike Krumbiegel, Christoph Luser, Sebastian Weber, Jean-Pierre Cornu, Oliver Mallison, Katharina Schubert, Stefan Merki, René Dumont
Sprecher: Christian Brückner, Caroline Ebner, Jochen Striebeck

Regie: Lars-Ole Walburg
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