Residenztheater Der Revisor von Nikolai Gogol


 

 

Auf dem zweiten Blick: Bedrohlichkeit

Dass „Der Revisor“, bereits 1835 von Nikolai Gogol nach einer Idee von Puschkin verfasst, ein außerordentliches Stück nicht nur im Kontext seiner Zeit, sondern auch im Kontext der russischen Literatur ist, beweist die Inszenierungstradition. Was allerdings ebenfalls sehr erstaunlich ist, verrät ein Blick in die russische Theatergeschichte, deren erste große Schöpferin und Erneuerin die Zarin Katharina die II. war. Kaum zu glauben, aber wahr: Sie überwand, das dem ersten ernstzunehmenden Bühnenautor Russlands, Alexander Sumarókow (1718-1777) und der „russischen Seele schlechthin“ eigene „bürgerliche Trauerspiel mit seinem relativen Realismus“. Katharina griff dabei auf die Vorlagen des französischen Theaters zurück und gestaltete ihre Komödien witziger, lebendiger und zeitbezogener. Wie schon der eigentliche Begründer des russischen Theaters, Zar Peter I. (1689-1725), erkannte Katharina die didaktischen Möglichkeiten der Dramatik. Sie war darum, das sei unbedingt angemerkt, keine Philanthropin und vom unsäglichen Leid des Volkes gänzlich unberührt. In ihren drei, von Kotzebue ins Deutsche übersetzten Komödien, „Der sibirische Schamane“, „Der Betrüger“ und „Der Verführte“, zog sie gegen Aberglaube, Klatsch und die Furcht vor Bildung und Freidenkertum zu Felde. Die Geschichte des russischen Theaters unter Katharina birgt allemal guten Stoff für eine große Komödie. Im Jahr ihres Machtantritts 1762 durchbrach die russische Aristokratie den zaristischen Absolutismus. Fortan durfte (Hört! Hört!) kein Adliger mehr mittels Prügel in den Staatsdienst gezwungen werden. Die Blaublütigen zogen sich auf ihre Güter zurück und huldigten einer von Frankreich importierten, virulent grassierenden Leidenschaft, dem Theater. Die gegründeten Ensembles bestanden durchweg aus Leibeigenen. Das muss man sich einmal vor Augen führen, der freieste Beruf der Welt wurde von Sklaven ausgeübt und Fehler auf der Bühne wurde mit Prügel bestraft. Mehr als einhundert Leibeigenentheatern existierten zu Beginn des 19. Jahrhunderts, gut fünfzig allein in Moskau, also zu jener Zeit, als Gogol seinen Revisor verfasste.

Nun fragt man sich, was das wohl mit der Inszenierung im Residenztheater zu tun hat? Auf den ersten Blick gar nichts, doch es ist interessant zu wissen, dass hinter so einer vermeintlichen Komödie mehr steht, als bloße Belustigung. Und das war die Inszenierung von Herbert Fritsch, der sowohl für die Regie, als auch für die Bühne verantwortlich zeichnete, auf den ersten Blick allemal. Fritsch ist für seine aufregenden ästhetischen Lösungen berühmt und berüchtigt (Siehe auch „Die (s)panische Fliege“, Schwank von Franz Arnold und Ernst Bach an der Berliner Volksbühne.) Fritsch ist in erster Linie Schauspieler, und zwar ein sehr agiler, der die Mechanik der Komödie meisterlich beherrscht. So glich die Inszenierung denn auch einem komödiantischen Rennen um die Trophäe für den dümmsten, hässlichsten und eitelsten Bürger. Gogol stellte der Komödie das russische Sprichwort voran: „Den Spiegel soll nicht schelten, wer eine Fratze hat!“

Es geht um die Bevölkerung einer Kleinstadt, die einander in Verlogenheit, Faulheit, Geilheit und Gier zu überbieten sucht. Die städtischen Angelegenheiten sind der völligen Verwahrlosung anheim gefallen. In diese Situation hinein schleicht sich das Gerücht, ein Revisor sei auf dem Weg in die Stadt, um die Zustände zu prüfen. Panik kommt auf. Zur selben Zeit logiert ein junger Taugenichts nebst Diener im Gasthaus. Schnell setzt sich die Meinung durch, es handele sich unzweifelhaft um den Revisor, der wacker sein Inkognito zu wahren weiß. Sofort überbietet man sich in Gunstbezeugungen und Chlestakow, so der Name des verschwenderischen Mannes, erkennt sehr schnell den Irrtum und beginnt ihn für sich auszubeuten. Die Bürgerschaft hingegen ist sehr glücklich, dass sie auf einen ebenso korrupten Revisor gestoßen sind, wie sie selbst. Und Chlestakow nimmt, was sich ihm darbietet, neben Geld auch die Frau und die Tochter des Bürgermeisters.

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Stefan Konarske, Robert Niemann, Sebastian Blomberg, Aurel Manthei, Johannes Zirner, Studierende der Otto-Falckenberg-Schule

© Thomas Aurin

 

Der Betrug fliegt auf, nachdem der falsche Revisor abgereist ist. Erneut wurde unrechtmäßig ein Brief geöffnet. Dabei handelt es sich um eine detaillierte Beschreibung der Bürger durch Chlestakow, verfasst für einen Freund und Zeitungsschreiber. Als wäre die Niederlage nicht schon demütigend genug, liest man sich die beschämenden Charakteristiken auch noch gegenseitig vor. Ausgelöst wurde die existenzielle Panik eingangs in der Bürgerschaft durch den Satz: „Ein Revisor kommt zu uns.“ Am Ende heißt es: „Der auf Allerhöchsten Befehl aus Petersburg eingetroffene Beamte beordert Sie alle unverzüglich zu sich. Er ist im Gasthof abgestiegen.“ Die Geschichte hat kein Ende und so zieht sich, das kann Jedermann erkennen, diese Geschichte durch die ganze Historie.

Zurück zum ersten Blick auf die Inszenierung. Bühnenbildner Fritsch schuf sich eine Bühne, die aus hintereinander aufgehängten Haussilhouetten aus Plastikfolie bestanden. Die zwischen diesen „Häusern“ wandelnden Figuren wurden trotz der unscheinbaren Farben ihrer Kostüme immer wieder wahrnehmbar, wenn sie durch die Straßen streiften. Die Kostüme von Victoria Behr waren aufwendig stilisierte Überzeichnungen russischen Biedermeiers und wundervoll anzuschauen. Außer Chlestakow (Sebastian Blomberg), der in einem pinkfarbenen, geckenhaften Anzug steckte und sein Diener Ossip (Stefan Konarske) in einem kurzhosigen Bubenanzug in dunklem Orange, brachten nur noch Barbara Melzl als Frau des Bürgermeister in Rosa und deren Tochter, gespielt von Britta Hammelstein in Gelb, Farbe auf die Bühne. Die Bürger agierten mit wächsernen Gesichtern, weißen oder blonden Haaren in blassen Kostümen. Es war ein Haufen von buckelndem Gewürm, dass sich unter den eigenen Lügen wand wie auf einer heißen Herdplatte. Uniform kamen sie daher, gemeinschaftlich in Geist und Moral.

Aurel Mantheis Bürgermeister hatte großen Wiedererkennungswert. Über diese sehr heutige Figur hinaus, wurde mancher überdrehter Manierismus zum Markenzeichen. Michele Cuciuffo, der den Kreisarzt Dr. Hübner spielte, war derart neben der Geschichte, dass er nie zur rechten Zeit auch nur ein Wort fand. So hinkte er jeder Situation in blödsinnig-erstaunter Gebärde hinterher. Sierk Radzei konnte in der Rolle als Polizeichef Korruptkin seine propere Körperfülle, nicht unbedingt Synonym für Agilität und Tatendrang, ins Feld führen, und Jörg Lichtesteins Pagenfrisur hebelte die normalerweise respektable Figur des Schulmeisters auf lächerlichste Weise gänzlich aus. Paul Wolff- Plottegg spielte einen Postmeister, dessen Kaldaunen von all der Lügerei zu bersten drohten. Robert Niemann und Johannes Zirner gaben wie eineiige Zwillinge die Gutsbesitzer Bobtschinskij und Dobtschinski, denen eine Großteil der Schuld am Irrtum zugeschrieben wurde. Sie mussten sich redlich verteidigen gegen das sündige Bürgervolk. Nicht der ist der Böse, der die Wahrheit verkündet, sondern der, der die Entdeckung möglich macht, was den Stellenwert der Lüge definiert. Sie ist der Kitt, der die ganze Gesellschaft zusammenhält. Sebastian Blomberg führte diese Gesellschaft am Nasenring ihrer eigenen Verstrickungen selbstverliebt, gespreizt und in jedem Fall grandios durch die Manege.

Der Regisseur Fritsch inszenierte ein aufgedrehtes Panoptikum, marktschreierisch und um keinen Kalauer verlegen, mochte er sich auch noch so tief in Gogols Gedankenwelt verbergen. Schrill ging es zu, für manchen Geschmack zu schrill, und so muss man einwenden, dass hier und da die Komik in Albernheit kippte und peinlich oder gar penetrant wurde. Verblüffend waren die szenischen Lösungen und auch das Spiel der Darsteller allemal.

Und nun zum zweiten Blick auf die Geschichte. Bei diesem erspähte man zehn Figuren (gespielt von Studenten der Otto-Falckenberg-Schule), deren hässliche Masken und grobe Kaufmannskostüme daran erinnerten, dass die Geschichte in einer Stadt spielte, in der Menschen unter der Misswirtschaft der Altvorderen litten. Sie waren permanent anwesend, lauernd, beobachtend, die Brosamen einsammelnd. Hier nimmt Fritschs Gogolinterpretation vorweg, was Tschechow gut sechzig Jahre später ausformulierte. Die Krämer kaufen das Land auf und übernehmen mittels Geld die Macht. Ihr Anwesenheit war stets bedrohlich. Als sich gegen Ende ein Gruppenbild mit Revisor formierte, lange in der Pose verharrte und schließlich im Gleichschritt donnernd an die Rampe marschierte, war klar, dass es sich hier nicht nur um eine Komödie handelte. Für den Erhalt der Klasse war jede Lüge recht. Da war man selbst mit dem ein Herz und eine Seele, der einen gerade geschröpft hat. An diesem Punkt sprang die Geschichte über die Rampe hinaus ins Hier und Heute.

 
 
Wolf Banitzki

 

 


Der Revisor

von Nikolai Gogol

Sebastian Blomberg, Stefan Konarske, Aurel Manthei, Barbara Melzl, Britta Hammelstein, Hanna Scheibe, Gunther Eckes, Jörg Lichtenstein, Miguel Abrantes Ostrowski, Sierk Radzei, Michele Cuciuffo, Paul Wolff-Plottegg, Robert Niemann,
Johannes Zirner, Lena Eikenbusch, Jonas Grundner-Culemann, Thomas Hauser, Lukas Hupfeld, Johanna Küsters, Josef Mattes, Klara Pfeiffer, Philipp Reinhardt, Anna Sophie Schindler, Benjamin Schroeder, Jeff Wilbusch

Regie/Bühne: Herbert Fritsch

Residenztheater Pünktchen und Anton nach Erich Kästner


 

 

Grandios!

Kästners 1931 erschienene Kinderroman „Pünktchen und Anton“ hat sich als eine der modernsten und zugleich flexibelsten Geschichten in der deutschsprachigen Kinderliteratur erwiesen. Sie wurde 1953 in der Regie von Thomas Engel und 1999 in der von Caroline Link verfilmt. Isabel Kreitz machte aus dem Roman 2009 eine Comicfassung und Ivan Eröd schrieb das Libretto für Thomas Höfts Kinderoper, die am 8. Mai 2010 uraufgeführt wurde. 2011 kam die Bühnenfassung von Volker Ludwig unter dem Titel „Pünktchen trifft Anton“ auf die Bretter des Berliner Grips-Theaters. Ausgerechnet in den letzten zwei Dezennien erlebte Kästners Kinderroman, dessen reale Hintergründe in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts zu finden sind, ein wahre Renaissance. Das verwundert allerdings nicht wirklich, wenn man sich die Geschichte einmal anschaut. Darin geht es um zwei Kinder, die trotz unterschiedlichster sozialer Herkunft Freundschaft schließen. Pünktchen entstammt eine sehr reichen Unternehmerfamilie. Sie kennt keine soziale Sorgen und sie ist noch naiv genug, dem armen Anton, dessen Mutter krank ist und die er als Kind miternähren muss, auf Augenhöhe zu begegnen. Die Freundschaft der beiden fordert ihnen einige Mutproben und Loyalitätsbeweise ab, die die Kinder, anders als die meisten Erwachsenen, souverän meistern.

Kästner, stets ein sozial denkender und empfindender Mensch, der dem süßen Leben dabei wahrlich nicht abhold war, schuf eine Kinderliteratur, die über ihre Zeit hinaus wirksam blieb. Deren Modernität wird durch zwei wesentliche Säulen getragen, durch einen unerschütterlichen Humor, der den Betrachter vor Sozialkitsch und Larmoyanz bewahrt, und durch seine humanistische Grundhaltung, die unaufdringlich und eingängig moralische Werte vermittelt. Es sind die Tugenden wie Freundschaft, Mut, Ehrlichkeit, Mitgefühl u.a., die die Protagonisten zu Helden machen und die mit ihrem Handeln auch die Welt der Erwachsenen ein wenig besser machen, indem sie diese an ihren Wertekanon erinnern, der gelegentlich durch den Alltag in Vergessenheit geraten war. Dabei sind die Geschichten in Kästners Werken selten mehr als der Alltag. Das Wunderbare an diesen Geschichten ist, dass sie die Kinder mehr zu bewegen vermögen, als alle Fantasy-, Action- und  Superhelden zusammen.

Der beste Beweis dafür ist die Inszenierung des Romans am Münchner Residenztheater in der Bearbeitung von Thomas Birkmeier. Dem Autor gelang es, und Kästners Vorlage ließ das problemlos zu, die ohnehin schon sehr sozialkritische Geschichte mit einigen heutigen Elementen weiter aufzuladen. So ist Herr Pogge, Pünktchens Vater, kein Schirmfabrikant wie bei Kästner, oder Direktor einer Strumpffabrik wie in Engels Verfilmung, sondern Besitzer einer Supermarktkette, ein Wirtschaftbereich, der wegen rigider Ausbeutungsmethoden in den letzten Jahren in Misskredit geraten war. Antons Mutter, Frau Gast, eigentlich studierte Ethnologin und Afrikaforscherin, hatte wegen einer Krankheit ihren Job in eben einem dieser Poggeschen Supermärkte verloren. Um das Hauchaltsgeld ein wenig aufzustocken und um der vermeintlich todkranken Frau noch einen letzten Urlaub in Italien zu ermöglichen, sammelt Anton nachts im Bahnhofsviertel Pfandflaschen. Frau Pogge ist bei Birkmeir nicht nur eine vergnügungssüchtige Lebefrau, sondern eine engagierte und stets von den Medien begleitete Kämpferin gegen den Hunger in Afrika. Sie veranstaltet pausenlos exklusive Benefits–Partys, wo man für exotische Stämme in Afrika gegen deren Armut „anfrisst“. Heimische Armut allerdings gibt es für sie nicht. Die ist, wie sie meint, nur vorgetäuscht von Menschen, die einfach zu faul zum Arbeiten sind. Am Ende kommen Frau Pogge und Frau Gast zusammen, denn zweitere spricht die Sprache der Afrikaner, um die sich erstere kümmern will. Unverändert geblieben ist die Räubergeschichte des „Teufels“ Robert und Pünktchens Erzieherin Fräulein Andacht. Es gab auch keinen Grund daran etwas zu ändern, denn eine Verbindung zwischen halbseidenem Milieu und den Villen von Grünwald braucht nicht erdichtet zu werden.
 
  PunktchenAnton  
 

Meike Kapp, Friederike Ott, Götz Argus, Ulrike Willenbacher

© Thomas Dashuber

 
 
Bühnenbildner Christoph Schubiger schuf mit seinem Entwurf nicht nur einen hervorragend funktionierenden Spielraum, sondern eine wahrhaft grandiose Illusion, die nicht nur die Kinder begeisterte. Auf der Drehbühne waren vier Orte dargestellt: Das Poggesche Haus innen und außen, die Schule Antons, das Bahnhofsviertel mit dem Bistro „Sommerlatte“ und der triste Wohnblock der Gasts. Die einzelnen Topoi waren nicht nur angedeutet, sondern präsentierten sich durch aus dem Bühnenboden herabgelassene Prospekte vollkommen in ihrer Ganzheit. Dabei war auffällig, wie viel Liebe von den Machern auf die Details verwendet wurde. Es fielen in den Nächten am Hauptbahnhof  Sternschnuppen vom Himmel. In Fenstern ging Licht an oder aus und in einem flackerte sogar ein Fernseher. Christoph Schubiger tat gut daran, so aufwendig zu arbeiten. Das zeugte von großem Einfühlungsvermögen und Verantwortungsbewusstsein. Vielleicht folgte er aber auch nur seinem eigenen Spieltrieb und erfüllte sich selbst einen Wunsch. Ein schöner Gedanke!

In diesem wunderbar suggestiven Ambiente entwickelten die Darsteller des Residenztheaters ein ausgefeilt natürliches, maßvolles und eingängiges Spiel. Allen voran naturgemäß Frederike Ott als Pünktchen und Frank Pätzold als Anton. Beiden gelang eine fulminanten Jugendlichkeit, ohne dass sie auf billige Gags setzten, mit denen man die Kinder fraglos hätte verführen können. Tom Radisch komplettierte die Gruppe der Kinder als rotzlöffeliger Klepperbein mit Berliner Akzent, - ob gewollt oder nicht, eine wunderbare Verbeugung vor Kästner. Ulrike Willenbacher steuerte zur  Charakterkomik ein nervig-schrilles, blaustrümpfiges, stocksteifes Fräulein Andacht bei, gänzlich ihrem angebeteten Robert verfallen. Götz Argus gab den halbseidenen Zampano des Bahnhofsviertel als pomadig-propperen Platzhirsch in Zuhältermanier. In seiner stimmlich-donnernden Robustheit war er bestens geeignet, den Bösewicht vorzustellen. Um so größer war der Spaß, als die dicke Berta ihn im Finale mit der Bratpfanne niederstreckte. Er ging zu Boden wie ein Held in einer Wagneroper. Einer solchen schien auch Berta entsprungen zu sein. Katharina Pichler leistet im Stück einen Großteil der Komik. Als Italienerin mit mediterranem Temperament spielte sie sowohl stimmlich wie auch körperlich weit ausholend, ohne auch nur ein einziges Mal zu überziehen. Diese Gefahr bestand auch bei Michaela Steiger als mediensüchtige Weltenretterin mit großer Realitätsferne. Sie spielt ihren Part der Frau Pogge aufwendig und doch maßvoll, und als eine der wenigen Personen, die im Stück eine Sinneswandlung vollzieht, gelangen ihr berührende Momente. Gerhard Peilsteins Unternehmer Pogge war ein in sich zurückgezogener Mann, der in seiner Arbeit lebte und sich mit der Realität in der Familie nur schlecht arrangieren konnte. Seine Hilflosigkeit überdeckte jedoch seine Vaterliebe nie und so ging er als überaus positive Figur durch, ähnlich wie Sophie Wendt als Antons Mutter. Sie war ein bescheidene Frau, die dennoch aufbegehrte, wenn es um ihre und die Würde ihres Sohnes ging.

Ein weiteres Highlight war die Musik von Rudolf Gregor Knabl. Die Songs kommentierten das Geschehen sinnfällig. Ähnlich wie im Roman von Kästner, der „Nachdenkereien“ eingefügt hatte, fassten die Songs die wesentlichen Feststellungen aus dem Spiel zusammen. Regisseur Thomas Birkmeir ist mit dieser Inszenierung ein ganz großer Wurf gelungen. Das bezeugten nicht nur die Kinder mit dem langanhaltenden Applaus. Ohne Übertreibung kann gesagt werden, dass diese Inszenierung eine der besten Arbeiten in München in der Spielzeit 2012/2013 sein wird. Als Erwachsener hat man sich an diesem wundervollen Theaterspätnachmittag einmal mehr daran erinnert, warum man das Theater liebt. Und bei den kleineren Zeitgenossen geht nun ganz sicher der Theatervirus um. Grandios! Glückwunsch allen Beteiligten!
 
 
Wolf Banitzki


 


Pünktchen und Anton

nach Erich Kästner

Michaela Steiger, Gerhard Peilstein, Friederike Ott, Franz Pätzold, Ulrike Willenbacher,  Götz Argus, Tom Radisch, Wolfram Rupperti, Katharina Pichler, Sophie Wendt

Regie: Thomas Birkmeir

Residenztheater Der Widerspenstigen Zähmung von William Shakespeare


 

 

Masochismus als Therapie

Das um 1594/95 geschriebene Stück stellt eine Zäsur im Schaffen Shakespeares dar. In „Der Widerspenstigen Zähmung“ finden sich in den Nebenrollen noch die quirligen Auswüchse des italienischen Volkstheaters, die Hauptrollen hingegen sind bereits gestandene Charaktere der Komödie. Während Katharina und Petruchio Persönlichkeiten sind, die Poesie entfalten, bleiben die anderen Rollen auf Typen und Possen reduziert. (Georg Hensel) In der gut vierhundertjährigen Inszenierungsgeschichte war man sich über den Grundtenor der Interpretation grundsätzlich einig. Der verarmte Edelmann Petruchio sucht eine gute Mitgift und ist nebenher bereit, eine Frau (ohne vorherige Inaugenscheinnahme), egal welchen Aussehens und welchen Charakters, „in Kauf“ zu nehmen. Er gerät an die widerborstige, selbstbewusste und intelligente Katharina. Petruchio beginnt sie durch Hunger, Schlaf- und Liebesentzug, Demütigung und Unterdrückung ihres eigenen Willens zu zähmen. Eigentlich müsste man an dieser Stelle schon abwinken, denn nach außen hin erscheint das Stück als zutiefst misogyn. Doch es sind nicht die körperliche und physische Folter, die Katharina letztlich zum Einlenken und zur Unterwerfung (um eine solche handelt es sich unbestritten) zwingt, sondern die aufkeimende Liebe zu dem starken Mann und seinem weichen Kern oder guten Herzen, wie immer man es nennen mag. Es ist gerade dieser kitschig anmutende Plot, der das Stück über so lange Zeit konserviert und bewahrt hat. Es ändert nichts an der Frauenfeindlichkeit, nur wird sie angesichts des Happy Ends gern übersehen.

Wer sich heute auf dieses Stück einlässt, muss gute Gründe und den Mut zu einer radikalen Neu- oder auch Uminterpretation dafür haben. Tina Lanik hat diesen Mut. Doch Mut ist noch kein Garant für ein Gelingen. Es bedarf auch einer eindeutigen Haltung. Und Haltungen offenbaren sich im klaren und verständlichen Ergebnis. Eben daran mangelte es. Die Verwirrung begann bereits damit, dass es sich bei der Handlung um Katharina und Petruchio um ein Stück im Stück handelt. Der erste Akt beginnt mit einer feuchtfröhlichen Jagdgesellschaft, bei der sich ein Handwerker namens Sly mit der Wirtin anlegt. Als er eingeschlafen ist, inszeniert ein Lord eine Posse, in dem man den Schlafenden in hochherrschaftliche Gemächer bringt und ihm nach seinem Erwachen erklärt, er hätte in einem 15jährigen Schlummer gelegen und sei eigentlich ein adliger Herr. Sinn der Geschichte ist, nachzuweisen ob ein Mensch unter radikal veränderten Vorzeichen selbst vergisst.

Dann taucht eine Schauspieltruppe auf, die die Geschichte von Katharina und Petruchio aufführen. Die Rahmenhandlung wird höchst selten gespielt, da sie eigentlich nicht notwendig ist und zudem auch keine Auflösung erfährt. Tina Lanik sah in dieser Geschichte die Chance, Sozialkritik zu üben, indem sie die Rolle der niederen sozialen Schichten mit der der unterdrückten Frau verglich. So lag Katharina Pichler, immer wieder von kurzen Wachträumen aufgeschreckt, zumeist schlummernd auf der Bühne herum. Der Sinn erschloss sich schwer. Es bedurfte einer Erklärung und Theater das erklärt werden muss, packt nicht.

Irritierend war denn auch die Bühnenästhetik (Bühne/Kostüme Stefan Hageneier). Tatsächlich landet Katharina während einer regnerischen Reise im Schlamm,  doch wird dieser Vorgang nur erzählt und nicht gespielt. Dennoch verbrachten sämtliche Darsteller die 2 Stunden und vierzig Minuten im Regen oder in knöcheltiefem Schlamm. Es wurden mit Schlamm geworfen, sich darin gewälzt, durch ihn geschlittert, ja, er wurde auch gegessen. Radikal war das allemal, nur stellt sich die Frage: Warum? Ist diese Handlung eine Schlammschlacht? Ist Liebe eine Schlammschlacht oder ist eine Schlammschlacht unterhaltsam? Man kann es wohl so sehen, doch im Zweifelsfall zieht man besser das Programmheft zurate, wo die Lesart der Regie zumeist auf sehr kluge Weise erklärt wird.

Die Lektüre des explizit für diese Inszenierung verfassten Textes von Elisabeth Bronfen vermochte allerdings keine Klarheit in die Angelegenheit bringen. Interessant ist er trotz alledem, denn was man darin erfährt, lässt aufhorchen. Mit analytischer Akribie weist Frau Bronfen nach, dass es sich bei Katharina und Petruchio um Gleichgesinnte handelt, deren Kampf im Grunde nur eine Annäherung bedeutet. „Der Traum der Liebe enthält einen traumatischen Kern. Sich zu verletzen oder verletzen zu lassen dient als Beweis für ein uneingeschränktes Teilen radikaler Intimität.“ (Elisabeth Bronfen im Programmheft zur Inszenierung) Oder, so könnte man boshaft ergänzen, Masochismus als Therapie. Gezähmt wurde dabei nicht Katharina, sondern ihre Zunge. „Die Zähmung der Zunge führt zur verrückten Liebesrede, in der sie sich mit und für einander gefunden haben. Instabil ist nicht die Frage des Geschlechts, sondern wer hier wen zähmt. Und ob es sich überhaupt um eine gegenseitige Übernahme handelt: eine geteilte Einwilligung in die Gewalt.“ (Ebenda)
 
   Zaehmung  
 

Shenja Lacher, Andrea Wenzl

 

© Matthias Horn

 

 

Am Ende kommt Frau Bronfen zu dem Schluss: „Egal ob man diesen berüchtigten Monolog (Katharina unterwirft sich darin ihrem Mann – W.B.) als ironische Vorführung weiblicher Demut versteht, mit der deutlich gemacht wird, unter welchen Umständen eine Frau zu Wort kommen kann, oder als Beweis einer sadistischen Zügelung der weiblichen Stimme: Katharina und Petruchio spielen diese letzte Szene zusammen, für einander und gegen die Anderen.“Hier öffnet sich der Kreis der Überlegungen darüber wieder, ob es einen Sinn macht, dieses frauenfeindliche Stück zu spielen und warum. Man kann es sich aussuchen und in der Spielweise zeigt sich die Haltung der Regie. Leider offenbarte sich auf der Bühne des Residenztheaters nichts dergleichen. Und, die vielleicht berühmteste Aufforderung zu einem Kuss, „Kiss me, Kate“, bügelte am Ende alles wieder glatt.

Nein, diese Inszenierung überzeugte nicht. Sie war zu kopflastig und in der ästhetischen Ausformulierung zu kryptisch. Haltung wurde ersetzt durch intellektuelle Spitzfindigkeit. Die Interpretationen trieben Blüten, wie sie nur im Gewächshaus wachsen und nicht in der freien Natur. Die Praxis bleibt das Kriterium der Wahrheit. Die Wahrheiten, die man glaubte herausgeschält zu haben, mussten sich auf der Bühne beweisen. Wenn dieses düstere Spektakel, das eigentlich eine Komödie sein soll, überhaupt über zwei und eine halbe Stunden trug, dann nur Dank der Leistungen der Schauspieler, die die Verblasenheit des Konzeptes zeitweise vergessen ließen. Allen voran Shenja Lacher als Petruchio. Er spielte differenziert und seine Rolle als „Folterer“ geradezu mephistophelisch. Andrea Wenzls Katharina überzeugte vor allem durch ihren körperlichen Einsatz. Sie ging in ihrem Spiel an Grenzen. Franz Pätzolds feine und elegante Gestaltung des Lucentio stand in krassem Gegensatz zu der Figur des Tranio (Lucentios Diener), den Miguel Abrantes Ostrowski als rüden Clown gestaltete. Ihm zur Seite der beeindruckende Robert Niemann als Biondello (ebenfalls Lucentios Diener). Beide bildeten das perfekte Komikerpaar, vergleichbar mit Laurel und Hardy.

Beim Schlussapplaus, der lange anhielt, wurden auch wenige vereinzelte Buhs für die Regie hörbar. Es wären vermutlich mehr gewesen, wenn die Verwirrung über einige Vorgänge und die großartige Leistung der Darsteller nicht so stark nachgewirkt hätten.
Mit großem Aufwand wurde ein Sinnsuche betrieben, die letztlich zu keinem greifbaren Ergebnis führte. Schade möchte man sagen, denn was spricht dagegen, die Komödie als Komödie zu inszenieren und das Stück als das, was es ist: frauenfeindlich und überholt. Man kann nur hoffen, dass sich der Drang, Komödien als Tragödien zu inszenieren (Siehe auch „Der zerbrochene Krug“), bei Tina Lanik nicht weiter auswächst.

 
 
Wolf Banitzki

 

 


Der Widerspenstigen Zähmung

von William Shakespeare

Wolfram Rupperti Baptista, Paul Wolff-Plottegg, Franz Pätzold, Shenja Lacher Petruchio, Arnulf Schumacher, Tom Radisch, Miguel Abrantes Ostrowski, Robert Niemann, Johannes Zirner, Paul Wolff-Plottegg, Andrea Wenzl, Marie Seiser, Katharina Pichler

Regie: Tina Lanik

Residenztheater Hedda Gabler von Henrik Ibsen


 

 

Vom leisen Untergang der Menschlichkeit

Hedda Gabler ist wahrlich keine liebenswerte Person. Einige Monate zuvor war sie die Ehe mit Jørgen Tesman, einem Kulturwissenschaftler mit guten Karriereaussichten, eingegangen. Gerade zurück von der mehrmonatigen Hochzeitsreise, bezieht das Paar  ein Haus, für das sich Tesman bis über beide Ohren verschuldet hat. Er baut auf die baldige Berufung zum Professor und auf die Ersparnisse der Tante Juliane. Hedda muss angesichts der mausoleumsartigen Idylle ihrer bürgerlichen Existenz erkennen, dass sie sich wohl von nun an für den Rest ihrer Tage zu Tode langweilen wird. Die Generalstochter ist eine unkonventionelle Frau, die sich nicht darum schert, ob und wie Tesman den Lebensunterhalt zukünftig bestreiten wird. Die Aussichten sind verdüstert.  Tesman hat nämlich Konkurrenz bekommen. Durch Richter Brack erfährt er von der Rückkehr des Schulkameraden Ejlert Løvborgs, einstiger Vertrauter von Hedda. Der hat ein Manuskript in der Tasche, das Jørgen Tesman zu einem mittelmäßigen Wissenschaftler und Autor stempeln wird. Die Professur ist gefährdet. Der Exalkoholiker hatte sich als Erzieher zu der Familie Elvsted in die Berge zurückgezogen, wo er in der Ehefrau des alten Bürgermeisters, Thea Elvsted, eine Mitstreiterin gefunden hat. Thea liebt Ejlert Løvborg. Sie ist aus ihrer behüteten Existenz ausgebrochen, um den instabilen, sensiblen Mann zu folgen. Hedda beginnt nun, mehr aus einer Laune heraus, als einer Notwendigkeit folgend, ein teuflisches Spiel und ruiniert Ejlert. Sie treibt ihn in den Tod, „ein Tod in Schönheit“ soll es sein, und vernichtet das zukunftsweisende Manuskript. Am Ende tappt sie in die Erpresserfalle des lüsternen Richters Brack und erschießt sich kurzerhand.

Ibsens Stücke sind stets radikale Seelenschau und zumeist düstere Dramen. Hugo von Hofmannsthal schrieb über die Figuren Ibsens: „Alle diese Menschen leben ein schattenhaftes Leben; sie erleben fast keine Taten und Dinge, fast ausschließlich Gedanken, Stimmungen und Verstimmungen. Sie wollen wenig, sie tun fast nichts. Sie denken übers Denken, fühlen sich fühlen und treiben Autopsychologie.“ Franz Blei unterstellte dem Werk Ibsens: „Alle diese Stücke sind Monologe Ibsens mit verteilten Ideen. Nicht Stücke, in denen Menschen Ideen haben oder von Ideen besessen sind.“ Das machte das Werk Ibsens immer wieder umstritten, eine zeitlang wegen der antiquierten Sprache der frühen Übersetzungen sogar „unspielbar“. Dem half Hans Georg Gerlach mit seiner Übersetzung in den frühen 60ern des letzten Jahrhunderts ab. Dieser Fassung bediente sich auch Martin Kušej für seine Inszenierung im Münchner Residenztheater. Doch auch Gerlachs sprachlich gestraffte Übersetzung köchelte er noch einmal ein und schuf ein Konzentrat, das einen grellen Fokus auf die Hauptpersonen und ihre Seelenzustände richtete. Bei Martin Kušej entstand daraus eine Epik des Unausgesprochenen. Die Handlung bedurfte nur weniger Worte, um sie voranzutreiben. Der Subtext hingegen wurde in langen Pausen, gemächlicher Diktion und gestischen Andeutungen erzählt. Es entstand eine schier knisternde Anspannung, die sich durch den gesamten zweistündigen Abend zog und nie abflachte. Jan Faszbenders Musik hielt diese Spannung auch bei Szenenwechsel in der Schwebe.

Für Birgit Minichmayr war die Rolle der Hedda eine echte Herausforderung, die sie gekonnt bewältigte. Sie ist eine Schauspielerin, die auch schon mal berserkerhaft und ekstatisch Grenzen überschreitet. Hier war introvertiertes Spiel gefragt, bei dem trotzdem eine ständige Bedrohung mitschwingen musste. Das gelang Frau Minichmayr durch deutliche körperliche Haltung. Sie hatte auffällig oft die Arme über der Brust verschränkt, Unnahbarkeit signalisierend. Mit der Stimme war sie zumeist ein Quäntchen zurückhaltender als die Natur gebieten würde. Es funktionierte prächtig. Nur selten offenbarte sie menschliche Regungen. Als sie Løvborg die Pistole aushändigt, nähert sie sich ihm auf beinahe intime Wiese an. Dabei war es aber nur der Abschied vom Todgeweihten und Hedda lief nicht Gefahr, sich in Gefühlen zu verschwenden. Die Rolle des Ejlert Løvborg mit Sebastian Blomberg zu besetzten, war ein weiterer Glücksgriff. Blombergs natürliche physische Ausstrahlung verweist bereits auf einen hochsensiblen, leicht verletzbaren Charakter. Im Spiel erfüllten sich diese Attribute überzeugend und schlüssig.

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Birgit Minichmayr, Sebastian Blomberg

© Hans Jörg Michel

 

Der Rolle des Jørgen Tesman wurde in der langen Inszenierungsgeschichte häufig Gewalt angetan. Viele Regisseure neigten dazu, diese Figur zugunsten der Komik zu überzeichnen und einen klischeehaften, vertrottelten, aus der Welt gefallenen und mit allem überforderten Akademiker zu kreieren. Norman Hacker verlieh der Figur durchaus Eigenheiten, doch waren die nie lächerlich oder unglaubhaft. Vielmehr schuf er einen disziplinierten Mann, der aufrichtige Besorgnis ausstrahlte, dem man sogar sein Mitgefühl abkaufte und dessen moralische Integrität, auch wenn es die eines totalen Spießers war, in der Darstellung nicht in Frage gestellt wurde. Allerdings erkannten die Zuschauer diese Figur erst in ihrer emotionalen Zwergenhaftigkeit, als der letzte Satz nach dem Suizid Heddas gesprochen war. Oliver Nägeles Richter Brack war die Verkörperung des honorigen und zugleich janusköpfigen Kleinstadtvorstandes. Er befleißigte sich eleganter Formen, die nicht unbedingt spitzfindig, aber doch sehr effizient waren bei der Manipulation von Menschen. Er verkörperte einen wahrhaft heutigen Vertreter der politischen Kaste. Hanna Scheibes nervös grazile Thea Elvsted war eine zutiefst verunsicherte Frau. Ihre Liebe war wie ein Spinnweb, das bei den ersten emotionalen Stürmen, die selten von Lautheit begleitet wurden, zerriss. Obgleich sie die einzige Person war, die sich über die bürgerlichen Konventionen hinweggesetzt hatte, war sie auch zugleich das erste Opfer. Als sie Ejlert Løvborg vor seinem destruktiven Charakter beschützen wollte, wurde sie von ihm kurzerhand und kaltschnäuzig aus seinem Leben entlassen. Sie würde nach Beendigung der Geschichte mit Jørgen Tesman leiert sein. So bekommt sie ihre soziale Absicherung und kann zugleich dem Geliebten über dessen Tod hinaus in der Sichtung und Rekonstruktion seines Werkes verbunden bleiben.

In der gesamten Inszenierung bekam der Zuschauer nicht ein Mal Tageslicht zu sehen. Das kann bedeuten, dass der nordische Herbst soweit vorangeschritten war, dass sich die Sonne nicht mehr blicken ließ. Es war aber auch unbedingt ein Hinweis darauf, dass es in diesem Drama kein Entkommen aus der seelischen und geistigen Finsternis gibt. Annette Murschetz Interieur war eigentlich ein Exterieur, wenngleich nicht unbedingt schlüssig, denn außerhalb des Hauses, das ohne deutliche Abgrenzung in die Landschaft überging, wandelte man auf Parkett. Doch das tat der Sache keinen Abbruch. Die Figuren kamen aus der Finsternis und gingen wieder in die Finsternis, die undurchdringlich war. Gespielt wurde mit der denkbar größten Zurückhaltung hauptsächlich an der Rampe.

Martin Kušejs hochartifizielle Inszenierung lebte von einem fast quälenden Maß an Reduktion. Allein, die Räume, die dabei entstanden, wuchsen sich zu Dimensionen aus, die furchterregend waren. Darin fanden lautlos und ohne Aktionismus die perfidesten psychischen Gewalttätigkeiten statt. Es ist nicht nur eine wegen ihrer Nüchternheit wohltuende Inszenierung, sondern es war ein mutiger Versuch, mit kaum mehr als zarten Flügelschlägen einen Untergang von Menschlichkeit zu beschreiben.

 

Wolf Banitzki



 


Hedda Gabler

von Henrik Ibsen

Norman Hacker, Birgit Minichmayr, Barbara de Koy, Hanna Scheibe, Oliver Nägele, Sebastian Blomberg

Regie: Martin Kušej

Residenztheater Ein Sommernachtstraum von William Shakespeare


 

 

Triumph des Hässlichen
 
„Ein Sommernachtstraum“ von Shakespeare gehört zu den meistgespielten Stücken der dramatischen Weltliteratur. Es ist eine märchenhafte Komödie um die Liebe und um die Verwirrungen, die die Liebe auslösen kann. Der Reiz dieser Komödie besteht vornehmlich in ihrer Fantastik, die es ermöglicht, die tiefgreifende Psychologie sichtbar zu machen, die dem Thema innewohnt. Das Stück ist möglicherweise für konkrete Anlässe entstanden. Der Shakespeare-Forscher Dover Wilson glaubt, Shakespeare habe das Stück drei Mal für drei Aristokratenhochzeiten geschrieben, um seinen ziemlich sittenlosen Freunden eine moralische Unterweisung in Liebes- und Ehedingen zu geben. Das erscheint angesichts des weltanschaulichen Formates des Stückes allerdings ein wenig fragwürdig, denn über die Irrungen und Verwirrungen der Liebenden hinaus waltet in der Geschichte ein „großer anarchischer Eros“, der den Menschen zum Spielball seiner Launen macht.
 
Dieser anarchische Eros wird verkörpert vom Feenkönig Oberon, der mit seiner Gattin Titania über einen schönen indischen Knaben in Streit geraten ist. Beide leben im Wald vor den Toren der Stadt Athen. Dieser Wald ist zugleich das Rückzugsgebiet des Paares Hermia und Lysander. Zuvor hatte Hermias Vater Egeus den Athener Herzog Theseus, der unmittelbar vor der Trauung mit der Amazonenkönigin Hippolyta steht, um ein Urteil über seine Tochter angerufen. Hermia soll Demetrius, der sie liebt, heiraten. Doch Hermia ihrerseits liebt Lysander und möchte diesen heiraten. Das Urteil: Bei Nichtbefolgen des väterlichen Willens droht ihr der Tod oder das Kloster. Das Liebespaar flieht, gefolgt von Demetrius, der wiederum von Helena verfolgt wird, die ihn liebt. Oberon erbarmt sich und beauftragt Puck, die Liebenden mittels eines Blumensaftes derart zu verzaubern, dass Ordnung einkehrt und jeder sein liebendes Pendant findet. Doch Puck irrt sich und schafft ein Maß an Verwirrung, das die Geschichte explosiv werden lässt. Nebenher straft Oberon seine Gattin, in dem er sie mit demselben Zauber belegt. Sie verliebt sich in den Handwerker Zettel, der von Puck zuvor in einen Esel verwandelt worden war. Zettel gehört zu einer Laientheatergruppe aus Handwerkern, die im Wald Proben zu einer grotesken Tragikomödie mit dem Titel „Pyramus und Thisbe“ abhalten. Das Stück soll am darauffolgendem Tag zur Hochzeit von Theseus und Hippolyta aufgeführt werden. Am Ende, nachdem Oberon und Titania wieder versöhnt sind, die Handwerker ihr Stück aufgeführt haben, jeglicher Zauber wieder aufgehoben ist, segnen die beiden Götter die drei Paare, ihre Ehen und vorab auch schon mal deren Kinder. Ende gut, alles gut.
 
Dass dieser Komödie in den vierhundert Jahren Inszenierungsgeschichte so häufig der Verzug eingeräumt wurde, lag ganz sicher auch an der überbordenden Poesie, die dem Stück innewohnt, aber vornehmlich wohl an der Möglichkeit, die Geschichte Dank des Elfenzaubers und des Naturwaltens zu romantisieren. Erst im 20. Jahrhundert besannen sich die Künstler darauf, dass in diesem Stück mehr steckt als nur ein hübsches, märchenhaftes Verwirrspiel, nämlich existenzielle menschliche Abgründe, resultierend aus dem Wirken der Natur und der Psyche. Wohlgemerkt, das Stück hat auch diese Seite. Wenn die Inszenierung am Residenztheater für viele Zuschauer zum Desaster wurde, lag das in erster Linie daran, dass Regisseur Michael Thalheimer ausschließlich diese Seite in den Focus rückte. Seine Lesart gründet auf die Erkenntnisse des Religionsphilosophen René Girard in dessen Schrift „Mythos und Ritual bei Shakespeares ‚Ein Sommernachtstraum’“, nachzulesen im Programmheft zur Inszenierung. Eine dieser Erkenntnisse illustrierte Girard mit einem Aphorismus von Pascal: „Der Mensch ist weder ein Engel noch eine Bestie, und das Unglück ist, dass, wer ein Engel aus ihm machen möchte, eine Bestie aus ihm macht.“ Girard meinte: „Die ganze Sommernacht scheint die Dramatisierung dieses Aphorismus zu sein.“
 
Thalheimers Arbeit war die konsequente Umsetzung dieser vermeintlichen Bestialisierung durch die Liebe. Die Protagonisten brüllten sich ihre Zuneigung in die Gesichter und es klang wie Hass. Sie suchten die körperliche Nähe, die Fleischwerdung des idealen Gefühls der Liebe, und es fühlte sich an wie Vergewaltigung. Es wurde masturbiert, wo sich eine Befriedigung nicht einstellte und, soviel sei gesagt, sie stellte sich nicht ein. Also wurde viel masturbiert. Man hechelte, gepeitscht von Geilheit, durch die Natur einer sich ebenso wenig einstellenden Erlösung hinterher. Das geschah sehr oft im Zustand der Nacktheit. Im Antlitz der Liebe feiert das Hässliche Triumphe. Olaf Altmanns Bühne glich denn auch mehr einem Parkour der Qualen, als einem poetischen Zauberwald. Eng stehende Säulen bildeten eingangs eine undurchdringliche Mauer in der Farbe brünierter Kanonenrohre. Nachdem sie gegeneinander verschoben wurden entstanden engstehende Baumreihen. Gespielt wurde folglich ausschließlich auf der Vorderbühne und Räumlichkeit entstand nicht. Es schien allerdings auch nicht in der Intention Thalheimers zu liegen, das Verwirrspiel der Liebenden sensibel auszuleuchten, um neue und überraschende Einsichten zutage zu fördern und es letztlich zu einem guten Ende zu bringen.
 
Die Inszenierung endete schließlich mit der Aufführung von „Pyramus und Thisbe“ durch die Handwerker und nicht, wie im Original, mit der Verabschiedung durch Puck. Diese Geschichte war von Shakespeare als Seitenhieb auf die zahlreichen dilettierenden Laientheater gedacht, die den professionellen Theatertruppen das Publikum und damit die Einnahmen abspenstig machten. Bei Thalheimer wurde diese Geschichte zu einer tragenden Säule. Er setzte dabei augenscheinlich auf die Komödiantik von Markus Hering, der den Zettel gab. Der wurde dann bei Thalheimer auch nicht in einen Esel verwandelt, sondern in eine Art Wolpertinger mit einem Geweih an Stelle des Genitales. Tatsächlich machten die Auftritte der Handwerker die zweieinhalbstündige Inszenierung überhaupt erträglich. Den Herren Hering, Dumont, Radzei, Rupperti, Argus und Niemann gelang es (bewusst oder unbewusst), in dem sie schlechtes Theater sehr gut spielten, auch die ganze Inszenierung zu persiflieren. Als René Dumont seinen Prolog zu „Pyramus und Thisbe“ deklamierte, und provokant langsam die Worte sprach: „Wir kommen nicht, als sollt ihr euch daran ergetzen; / Die wahre Absicht ist – zu eurer Lust allein / Sind wir nicht hier – dass wir in Reu und Leid euch setzen...“, reagierte das Publikum prompt und bestätigte, dass dieser Vorsatz gelungen sei. Die zumeist indifferente Spielweise der Darsteller der Liebespaare, Andrea Wenzl (Hermia), Britta Hammelstein (Helena), Michele Cuciuffo (Lysander) und Norman Hacker (Demetrius), macht eine Bewertung ihrer schauspielerischen Leistung schwierig. Aber auch hierfür gibt es im Programmheft eine Erklärung: „Je mehr sich die Sommernacht ihrem Höhepunkt nähert, desto mehr verlieren die vier Protagonisten jede Individualität, die sie zuvor scheinbar besaßen. Als Unmenschen irren sie im Wald umher, tauschen die selben Beleidigungen und schließlich die selben physischen Schläge aus, sind mit derselben Droge betäubt, von der selben Schlange gebissen.“ (René Girard) Dieses Zitat beschreibt recht deutlich, was zu erleben war. Eine Unregelmäßigkeit war die Darstellung von Norman Hacker. Er war am Ende ein Spastiker. Warum? Vermutlich ein Ergebnis des Drogenmissbrauchs. Armer Kerl, der Demetrius!
 
Götz Schulte unterschied sich im Spiel als Theseus und als Oberon nur unwesentlich. Beide waren Kerle vom gleichen Schlag. Sibylle Canonica war da besser dran. Obwohl sie keinen Kostümwechsel hatte, erkannte man ihre Rollen als Hippolyta und als Titania genau. Als Hippolyta hatte sie nämlich keine Stimme, bewegte den Mund nur ohnmächtig. Damit wollte der Regisseur vermutlich andeuten, dass hier eine ungleiche Ehe geschlossen wurde, in der Theseus seinerseits die Wahl getroffen hatte, ungeachtet der (fehlenden) Gegenliebe. Erfrischend war das Spiel Oliver Nägeles als Puck. Er konnte sich aus der spielerischen Hysterie befreien und bescherte dem Publikum einige entkrampfte oder witzige Momente.
 
Wieder einmal wurde ein Klassiker radikal neu interpretiert, oder besser, es wurde ihm gnadenlos Gewalt angetan. Das Publikum honorierte zwar die Bemühungen der Darsteller, äußerte aber unmissverständlich seinen Unmut über die Regie. Zu Recht. Beim Verlassen des Theaters bemerkte ich einen alten Herren mit einem 11- oder 12jährigen Knaben an der Hand, vermutlich sein Enkel. Er hatte wohl geglaubt, mit Shakespeares „Ein Sommernachtstraum“ auf der sicheren Seite zu sein, um seinem Enkel Theater nahe zu bringen. Wie wird er dem Knaben das Gesehene wohl erklärt haben? Eine Rechtfertigung wird ihm gewiss nicht gelungen sein, denn Tyrannei, auch künstlerische, lässt sich nicht rechtfertigen.
 
 
Wolf Banitzki
 

 

 


Ein Sommernachtstraum

von William Shakespeare

Götz Argus, Sibylle Canonica, Michele Cuciuffo, René Dumont, Norman Hacker, Britta Hammelstein, Markus Hering, Alfred Kleinheinz, Oliver Nägele, Robert Niemann, Sierk Radzei, Wolfram Rupperti, Götz Schulte, Andrea Wenzl

Regie: Michael Thalheimer