Residenztheater Der Kirschgarten von Anton Tschechow


 


Aufwendige Ödnis

Seit der Eurokrise denken Politiker laut, manche auch lauthals, darüber nach, wie es mit Europa weitergehen wird, soll und muss. Es mehren sich die Stimmen, dass Griechenland ob seiner Schulden, die offensichtlich auch durch einen Fiskalpakt nicht überwunden werden können, besser aus der Eurozone austreten soll. Am Anfang war der Gedanke von einem geeinten solidarischen, multikulturellen, befriedeten Europa. Am Ende stehen die Buchhalter und verweisen auf rote Zahlen. Nichts ist mehr wichtiger als Geld. Aufgemerkt: Europa ist ein Kulturraum, vielleicht der bedeutendste der Welt. Diese Idee scheint kein Gewicht mehr zu haben, denn sonst würde man nicht leichtfertig auf Griechenland, der Wiege der europäischen Kultur verzichten wollen, das Land, das der Welt wie kein anderes das Verständnis für eine menschliche Gesellschaft geschenkt hat. Die Buchhalter organisieren die Zukunft, sich darauf verlassend, dass die Gesetze der Ökonomie es richten werden. Genau diese Geschichte erzählt Tschechow. Dabei kann man dem Kaufmann Lopachin, im Gegensatz zu den heutigen Politikern, seine Kulturlosigkeit nicht einmal vorwerfen. Er ist in sie hineingeboren worden, verschuldet durch die Herrschaft, denen er ihren Besitz nimmt. Lopachin hat nie am Kulturraum „Kirschgarten“ partizipiert, durfte in diesem nicht wachsen und gedeihen. Er zahlt es denen heim, die ihn ausgeschlossen hatten, um den Preis, dass der Kulturraum vernichtet wird.

Nun ist Tschechows „Der Kirschgarten“ schon an sich hochaktuell und jeder würde vermutlich die Aktualität sehen. Ist es nun mangelndes Vertrauen in das Publikum von Seiten der Regie, wenn Lopachin zur Hauptrolle avanciert und der Nebenstrang der Geschichte, das unaufhaltsame Abgleiten ins finanzielle Soll, die eigentliche, feingesponnene und poetische Geschichte vom moralischen und menschlichen Niedergang einer sozialen Schicht ersetzt? Oder ist es einfach nur Anmaßung Tschechow und dem Publikum gegenüber? Vielleicht ist es aber auch künstlerische Hybris, die über Werk und auch das Publikum hinwegschreitet, den ewigen Ruhm im Auge? Sicher ist, dass wieder einmal Tschechow draufstand und kein Tschechow drin war. Sicher ist auch, dass die Inszenierung am Residenztheater weit hinter den Möglichkeiten zurückblieb, die potenziell im Stück und den Darstellern stecken. Und sicher ist ebenso, dass diese Inszenierung die Bedürfnisse des Publikums nicht befriedigt, schon gar nicht, wenn das Publikum das Werk kennt.

Der Regisseur Calixto Bieito gehört zu den hochgehandelten Künstlern, denen offensichtlich jeder Kredit eingeräumt wird, obgleich seine Inszenierung oft „umstritten“ sind, was häufig nur eine Umschreibung für Scheitern ist. Der ästhetische Extremismus mit Neigung zum Monumentalen ist Markenzeichen des Katalanen, wobei der Sinn zumindest „Im Kirschgarten“ weitestgehend auf der Strecke bleibt. Warum wurde unter der Federführung Bieitos aus der Gutsbesitzerin Ranewskaja (Sophie von Kessel), eine jenseits von der Realität lebenden Frau, die eine parasitäre Hochkultur repräsentiert, eine partygeile, von depressiven Schüben geplagte Furie? Und wen oder was sollte der Bruder Gajew vorstellen, wenn der großartige Manfred Zapatka selbst rollentechnische Orientierungsprobleme hatte und hilflos vor sich hinknatterte? Warum konnte man über die clownesken Figuren Simenow-Pischtschik (Gerhard Peilstein) und Iwanowa (Ulrike Willenbacher), wie Bieito sie in seiner Inszenierung angelegt hatte, nicht lachen? Warum ist der Student Trofimow, die obligate utopistische Figur, wie es sie fast immer in Tschechows Stücken gibt, nicht nur unglaubhaft, sondern lächerlich-peinlich. Lukas Turtur gab bestimmt sein Bestes. Und warum fiel es so schwer, dem Diener Firs zuzuschauen? Ob Jürgen Stössinger wirklich wusste, was er tat?
 
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Sophie von Kessel, Gerhard Peilstein, Ulrike Willenbacher, Lukas Turtur, Katrin Röver, Franz Pätzold

© Matthias Horn

 

Wie ist es möglich, dass ein Stück wie „Der Kirschgarten“, eigentlich eine sichere Bank für jeden halbwegs begabten Regisseur, zu einem derartigen Desaster geraten konnte? Vielleicht, weil Regisseur Calixto Bieito Tschechows Geschlossenheit der Vorlage konsequent ignorierte und sich herausgeklaubt hat, was sich bildtechnisch gut verbraten ließ? Die Spielweise fast aller Darsteller ließ sich am ehesten mit hysterisch bezeichnen. Deutlichkeit, etwas was Bieito wegen seiner sprachlichen Prägnanz (?), insbesondere im Umgang mit Klassikern nachgesagt wird, kam nicht auf. Alles was im Umfeld des berserkerhaften Lopachin (Guntram Brattia) passierte, blieb Grauzone.

Calixto Bieito bevorzugt in seinen Inszenierungen Bildgewalt. (Hier drängt sich der Gedanke an die rüde Gewalt von „Bild“ auf.) Zu der verhalf ihm Bühnenbildnerin Rebecca Ringst. Nachdem der Prospekt mit der schönen Außenansicht der Villa gefallen war, bot sich dem Zuschauer ein Bild, das an ein aufgebrochenes Segment des KDF-Bades Prora erinnerte. Diese seelenlose Architektur verfiel nach und nach donnernd und krachend. Warum die Darsteller ebenfalls Hand anlegten und ihrerseits das Zerstörungswerk fortführten, blieb ebenfalls das Geheimnis des Regisseurs. Der Bespielbarkeit der Bühne war der Schutthaufen mit aufgerissenen Böden nicht dienlich. Was hier als Bildgewaltigkeit angedacht war, blieb Ödnis mit großem Aufwand.

Insbesondere den jungen Theaterbesuchern sei in aller Deutlichkeit mit auf den Weg ins Residenztheater gegeben, dass „Der Kirschgarten“ ein Werk des Regisseurs Calixto Bieito ist, zu dem er bei Tschechow Anleihen genommen hat. Tschechow ist ein Dichter der leisen Töne, Bietio eher ein hemmungsloser, überlauter, nicht selten nervender Orgiast. Lesen wäre da ein gute Alternative. Normalerweise ist im Buch auch Tschechow drin, wenn Tschechow draufsteht.

 
Wolf Banitzki

 


Der Kirschgarten

von Anton Tschechow

Guntram Brattia, Thomas Gräßle, Sophie von Kessel, Franz Pätzold, Gerhard Peilstein, Katrin Röver, Friederike Ott, Marie Seiser, Jürgen Stössinger, Lukas Turtur, Ulrike Willenbacher, Manfred Zapatka

Regie: Calixto Bieito

Residenz Theater In 80 Tagen um die Welt nach Jules Verne


 

 

In Sechs Millionen und neunhundertundzwölftausend Sekunden

„In 80 Tagen um die Welt“ von Jules Verne war, wie beim DDR-Kind Soeren Voima, der für die Bühnenfassung verantwortlich zeichnete, für viele Menschen weltweit ein Schlüsselerlebnis in Sachen Fernweh. Der fantasievolle Abenteuerroman entführte seit seinem Erscheinen im Jahr 1873 die Leser aller Altersstufen in ferne und fernste Welten. Am 24. Februar hatte das gut zweistündige Abenteuerspektakel unter der Federführung von  Tina Lanik im Münchener Residenztheater Premiere. Der stürmische Applaus von Kindern und Erwachsenen bewies, dass es der Regisseurin trefflich gelungen war, die Zuschauer auf diese Reise um die Welt mitzunehmen.

Wie man sich denken kann, bestand eine der größten Herausforderungen darin, die Personage zu begrenzen. So spielten acht Darsteller insgesamt mehr als vierzig Rollen. Hinzu kamen noch einige Statisten und so entstand der Eindruck einer überbordenden  Vielfalt von unterschiedlichsten Charakteren und Erscheinungsbildern. Sie waren ebenso exotisch wie die sieben Länder, in denen Mr. Phileas Fogg, Johannes Zirner gab einen wahrhaft exzentrischen Gentlemen, auf seiner atemlosen Weltreise Station machte. Grund seiner spektakulären Weltumrundung war eine Wette, die der Verfechter mathematischer Pünktlichkeit mit seinen (Reform-) Clubfreunden abgeschlossen hatte: Er wolle es, dank des modernen Verkehrsnetzes, schaffen, die Erde binnen 80 Tagen zu umrunden. Mit seinem Diener und Reisebegleiter Jean Passepartout, gespielt von dem quirligen Thomas Gräßle, machte er sich noch am selben Tag auf den Weg und bestand so manches Abenteuer. Dabei stand die Mission des extravaganten Engländers nicht immer unter günstigsten Vorzeichen und war zudem permanent von Justitia in Frage gestellt. Der Scotland Yard Detektiv Fix hatte in der Person Foggs einen vermeintlichen Bankräuber ausgemacht und verfolgte den Ahnungslosen wie ein Terrier, der Blut geleckt hatte. Diese Figur, gespielt von einem vermeintlich an den physischen und psychischen Grenzen wandelnden Michele Cuciuffo, trug einiges zur Komik bei. Er war es denn auch, der die Mission von Fogg um ein Haar zum Scheitern brachte.

Auf dem Weg um die Welt veränderte sich die Reisegesellschaft ständig. Passepartout ging dabei auch schon mal verloren, ein britischer General, Paul Wolff-Plottegg spielte diese Rolle (neben vielen anderen auch) mit ausgesucht lächerlich-militaristischem Habitus, gesellte sich hinzu. Im indischen Dschungel befreiten die ach so freiheitsliebenden Briten schließlich Mrs. Aouda, eine indische Witwe, vom Scheiterhaufen weg, auf dem sie gemeinsam mit dem Leichnam ihres Gatten ins Jenseits befördert werden sollte. Katrin Röver spielte eine spritzige, die Gegebenheiten sehr pragmatisch handhabende junge Schönheit im exotischen Sari und mit britischer Erziehung. Neben Barbara Melzl, die in unterschiedlichsten Rollen komödiantisch-schrill und zum Brüllen komisch brillierte, agierten Alfred Kleinheinz und Jens Atzorn in so vielen Rollen mit so unterschiedlichen Haltungen, dass die Darsteller kaum noch auszumachen waren. Stefan Haganeiers zum Teil sehr aufwendige Kostüme leisteten das Ihrige zur Verschleierung und zur Illusion.
 
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Thomas Gräßle, Katrin Röver, Johannes Zirner, Alfred Kleinheinz

© Thomas Dashuber

 

Tina Lanik griff tief in die Trick- und Illusionskiste verführenden Theaters und erzeugte glitzernde Ozeane, Schneestürme, Blütenregen und Nebelschwaden, Wild-West-Schießereien und indischen Bestattungstanz. Ein im Raum schwebendes, perspektivisch verkürztes Zimmerchen diente nicht nur als Wohnhaus des Mr. Fogg, sondern auch als Eisenbahnwagon, Ozeankreuzer und Fischkutter. (Bühnenbild: Stefan Haganeier)


Requisiten und Trickeffekte regten die Fantasie derart an, dass man die Weltreise Mr. Foggs mühelos nachvollziehen konnte. Für die Kinder wurde der Abend zum spannenden Abenteuer einer Fantasie-Reise und sie blieben bis zum letzten Augenblick aufmerksam dabei. Die Erwachsenen fühlten sich durch einige politische Anspielungen und eine reizende Situationskomik gut unterhalten. Slapstick-Elemente riefen bei Klein und Groß herzhaftes Lachen hervor. Bezaubernd und wirkungsvoll war der Einfall, einzelne Figuren mit riesigen Puppenköpfen zu versehen, die mit ihren Schlafaugen allgemeines Entzücken erregten.

Doch mit ästhetischer Verzauberung und guter Unterhaltung allein war es nicht getan. Die dramatische Vorlage von „In 80 Tagen um die Welt“ aus der Feder Soeren Voimas besitzt durchaus kritische Dimensionen. Der koloniale Habitus der englischen Gentlemans wurde mehrfach als politisch anstößig definiert. Die Inszenierung verwies mit dem rüden Ton einer „political incorrectness“ auf die unseligen Zustände unter den Kolonialmächten des 19. Jahrhunderts. Warum sich auf bloße Unterhaltung konzentrieren, wenn auf spaßige Weise auch auf Missstände in der Welt hingewiesen werden kann?

Mit einem Augenzwinkern wird die Überzeugung Phileas Foggs hinterfragt, alles in der Welt lasse sich in mathematische Formeln fassen und sei folglich berechenbar. In diesem Wesenszug spiegelt Jules Verne wohl Begeisterung und Euphorie der Europäer im 19. Jahrhundert angesichts der industriellen Revolution und dem dadurch vorangetriebenen Fortschritt in den Naturwissenschaften und der Technik wider. Heute wirken diese Errungenschaften natürlich anachronistisch: Wenn Mr. Fogg schildert, wie man mit Bahn und Schiff die 41 0000 Kilometer rund um den Globus in einer Zeitspanne von mindestens 80 Tagen zurücklegen könne, müssen wir heute schmunzeln.  2005 gelang dem Amerikaner Steve Fossett die Weltumrundung in 67 Stunden, 2 Minuten und 38 Sekunden. Übrigens war erstaunlich, mit welcher Treffsicherheit Passepartout einen Grund für solche Abenteuer- und Wettlust beschrieb: Die Herren besitzen zu viel Geld. Mr. Fossett galt zwar nicht als ausgewiesener Gentleman wie Mr. Fogg, dafür aber als Millionär! Fossett bezahlte seine Gipfelstürmerei 2007 allerdings mit dem Leben. Fogg ließ bis zum Schluss keinen Zweifel aufkommen, dass er alle Tücken des Daseins und der Materie mittels Mathematik überwinden würde.

Diese Inszenierung weckte mit fantasievollen, reich bebilderten und anregenden Szenen sicherlich die Begeisterung und Neugierde des jungen Publikums für das Theater und garantierte doch auch dem erwachsenen Publikum ein paar zauberhafte Stunden. Wenn es Tina Lanik gelang, den einen oder anderen kleinen Zuschauer mit dem Theatervirus zu infizieren, kann sich nicht nur das Residenztheater freuen, denn die kleinen Zuschauer von heute sind die Theatergänger von morgen. Auch das ist ein sehr löblicher Zug am neuen Konzept im Residenztheater.  



Magdalena Sporkmann / Wolf Banitzki

 

 


In 80 Tagen um die Welt

nach Jules Verne, in einer Fassung von Soeren Voima

Jens Atzorn, Michele Cuciuffo, Thomas Gräßle, Alfred Kleinheinz, Barbara Melzl, Katrin Röver, Paul Wolff-Plottegg, Johannes Zirner

Regie: Tina Lanik

Residenztheater Gyges und sein Ring von Friedrich Hebbel


 


Toleranz oder Es lebe der Schleier?

Die Geschichte von „Gyges und sein Ring“ geht auf eine Überlieferung von Herodot zurück und wurde von Plato in seiner „Politeia“ wiedergegeben: „Und so, mein lieber Glaukon (Bruder Platons – W.B.), ist denn dieser Mythos erhalten worden und ist nicht untergegangen, und er wird vielleicht auch unsere Seelen retten, wenn wir ihm nämlich folgen…“ Ursprünglicher Kern der Geschichte war die Beschreibung der Tötung des Lyderkönigs Kandaules durch den Griechen Gyges, in diesem Mythos ein einfacher Hirt, und seiner Machtergreifung vermittels eines magischen Rings. Didaktischer Ansatz der Erzählung war, nachzuweisen, dass der Mensch von Natur aus zu unmoralischen Handlungen neigt. Er wird sich immer unmoralisch verhalten, so lange keine Strafe droht, was im Umkehrschluss bedeutet, dass Recht nur aus dem Unvermögen resultiert, Unrecht zu begehen. Platos Interpretation führte zu dem Schluss, dass Gyges, wenn er durch die Kraft des Rings zum Tyrannen avanciert, nicht glücklich sein kann. Unrecht beschädigt die Seele des Menschen, und die ist das Wichtigste, was er besitzt. Soviel zum unverfälschten Mythos.

Friedrich Hebbel, 1813 geboren, schrieb das Drama „Gyges und sein Ring“ im Jahr 1854. Sein Ansatz war ein gänzlich anderer. Hebbel gestaltet das Thema eine Nummer kleiner. Er beschreibt König Kandaules als einen Mann, dem es zusehends schwerer fällt, die alten, unglaubwürdigen Konventionen aufrecht zu erhalten. Er ist Nachfahre des großen Herakles und ein Modernisierer. Mit seinem radikalen Verhalten, die Insignien der Macht nicht zu tragen, zieht er den Unmut der Bürgerschaft auf sich. „Hier gilt der König / Nur seiner Krone wegen und die Krone / Des Rostes wegen. Weh dem, der sie scheuert, / Je blanker, um so leichter an Gewicht.“ Letztlich gelingt es ihm, eine Staatskrise zu verhindern. Die Tragödie lauert im Privaten. Seine Gemahlin, Rhodope, entstammt einem Kulturkreis, in dem es einer Frau verboten ist, ihr Antlitz mehr als zwei Männern zu zeigen, dem Vater und dem Ehemann. Rhodope nimmt weder an höfischen Festivitäten teil, noch zeigt sie sich unverschleiert.

Königs Kandaules nennt den Griechen Gyges seinen Freund. Gyges hatte den mythischen König einst mit einem gezielten Pfeil vor einer wilden Raubkatze errettet. So verbindet beide ein fast blutsbrüderliches Band. Kandaules pflegt einen völlig offenen Umgang mit Gyges, teilt ihm alle seine Sorgen und Nöte mit. Gyges fühlt sich dem Freund so sehr verbunden, dass er ihm ein Geschenk macht, welches mit irdischen Gütern nicht aufzuwiegen ist, einen Zauberring. Mit diesem Ring kann sich sein Träger unsichtbar machen, was ihm ungeheure Macht verleiht und ungeahnte Möglichkeiten eröffnet.  

Die Handlung des Dramas erstreckt sich über zwei Tage. Es beginnt mit den Vorbereitungen zu Spielen, an denen Gyges teilnehmen möchte. Kandaules warnt den Freund, denn der ist Grieche und nicht sonderlich beliebt bei den Lydern. Er fürchtet um das Leben des Freundes; er kennt seine Landsleute. Doch Gyges überragt die Lyder und erringt sämtlichen Lorbeer. Am Abend, die Gesellschaft ist in Weinseligkeit gefallen, erklärt der König seinem griechischen Freund, wie sehr er darunter leidet, sein eheliches Glück nicht offen zeigen zu können: „Ich brauche einen Zeugen, dass ich nicht / Ein eitler Tor bin, der sich selbst belügt, / Wenn er sich rühmt, das schönste Weib zu küssen, / Und dazu wähl ich dich.“ Durch den Ring, den er vom König zurückerhält, gelingt es Gyges, mit in das Schlafgemach zu schlüpfen und einen Blick auf die sagenhafte Schönheit Rhodopes zu werfen. Er verliebt sich in sie.

Am nächsten Tag erscheint Rhodope unverschleiert, denn sie ist sich sicher, dass sie des Nachts von einem unbekannten Mann gesehen worden war. Sie stellt ihren Gatten zur Rede. Seine Pflicht ist es, den Frevel zu sühnen, den Unhold zu töten. Kandaules glaubt nicht an derartige schicksalhafte Pflichten: „Was steckt denn auch / In Schleiern, Kronen oder rost’gen Schwertern / Das ewig wäre?“ Doch Rhodope besteht darauf. Als sie erfährt, dass Gyges Hals über Kopf den Hof verlassen will, sieht sie ihre Annahme bestätigt und der Frevel hat einen Namen. Gyges, sich seiner Schandtat bewusst, fordert den König auf, ihn zu töten, wie es dessen Pflicht ist. Doch der aufgeklärte Mann lehnt ab. Schließlich will sich Gyges für den König selbst entleiben. Auch dieses Angebot findet keinen Anklang.

Von nun an nimmt Rhodope das Heft in die Hand. Sie erklärt dem ungläubigen Gyges, dass er sterben muss: „Glaubst du vielleicht, es sei nicht bittrer Ernst, / Weil dir ein Weib den blut’gen Spruch verkündet, / … / O hoffe nicht, dass auch die Mildeste / Ihn ändern wird. Sie kann den Mord vergeben, / Sie kann sogar für ihren Mörder bitten, / Wenn er ihr so viel Odem übrigließ. / Doch eine Schande, die sie vor sich selbst / Vom Wirbel bis zum Zeh mit Abscheu füllte, / Solch eine Schande wäscht das Blut nur ab / … „ Als sie jedoch erfährt, dass ihr Mann die Tat mit Vorsatz beging und sie anschließend belog, erklärt sie Gyges, dass er ihren Gemahl töten muss. Sie verspricht, ihn anschließend zu ehelichen, womit die Ordnung wieder hergestellt wäre.
 
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Werner Wölbern, Britta Hammelstein, Stefan Konarske

© Tibor Bozi

 

Die Tiroler Regisseurin Nora Schlocker, Jahrgang 1983, setzte nun das sehr selten gespielte Stück auf der Bühne des Residenztheaters in Szene. Die bisherigen Ausführungen zum Stück waren so umfangreich, damit sich der Leser selbst einen Eindruck vom Inhalt machen kann. Schließlich steht die Frage, warum man gerade ein solches Stück, „in dem der Widerspruch zwischen Moderne und Tradition, Transparenz und Geheimnis unaufgelöst bleibt“ (Werbung Residenztheater), hier und heute auf die Bühne bringt, obenan. Zugegeben, an diesem Punkt kommt Ratlosigkeit auf. Im Zweifelsfall bleibt immer noch, das Programmheft zu befragen, denn dort findet sich zumeist die Lesart von Regie/Dramaturgie publikumsfreundlich aufbereitet wieder. Erstaunlicherweise dreht es sich in der vorliegenden Lesart weniger um das Thema Moderne und Tradition, auch nicht um Freundschaft und Verrat, und erst recht nicht um Liebe, sondern um metaphysische Betrachtungen zum „Entschleiern“ im weitesten Sinn.

Dazu wird aus einer Schrift zitiert, die den Titel trägt: „Der Schleier als Symptom des liberalen Subjekts. Zur Identifizierung des Unidentifizierbaren“. Pardon, aber glaubt wirklich irgendwer, dass eine Schrift mit einem derartigen Titel zur Wahrheitsfindung auf der Theaterbühne beitragen kann? Die Zitate von Noah Holtwiesche und Andrea Wald geben zudem eine unselige Steilvorlage für die „politisch korrekte, multikulturelle“ Betrachtung des Themas Freiheit in unserer ach so liberalen Welt: „Das Phantasma der liberalen Öffentlichkeit besteht in dem blinden Glauben, alles sehen zu können, wenn es nur offen genug daliegt – Wahrheit entfaltet sich im Offenen. (…) Durch die Beziehung dieser von Ver- und Entschleierung auf das Motiv Freiheit lässt sich verstehen, warum eine Frau, die ihr Gesicht oder Haar unter einem Schleier verbirgt, auf der Bühne der liberalen Öffentlichkeit nur als Skandalon auftreten kann.“ Ja natürlich, und zu Recht, denn diese Frau betrachtet einen Atheisten, so sie aus religiösen Gründen verschleiert ist, also Muslimin ist, als verdammungswürdig, ja sogar vernichtungswürdig. (Es ist höchste Zeit, den Koran zu lesen. Unwissenheit schützt von Allahs Strafe nicht!) Es ist ebenso höchste Zeit, sich dem Thema auf philosophischer Ebene zu stellen, um zu weltanschaulich tradierten Argumenten zu kommen und nicht im vorauseilenden Kniefall vor der Gnostik zu verharren. Man kann Toleranz auch zur Hure machen. Wir, die aufgeklärten Mitteleuropäer haben das Recht, unser Aufgeklärtsein argumentativ zu vertreten.

Es war schon traurig genug, dass man die vorliegende Tragödie auf die im Stück zwar innewohnende, doch eher marginale Aussage einköchelte. Noch trauriger war es allerdings, dass man sich dann nicht dazu verhielt. Wer - wie Nora Schlocker - in eine so qualifizierte Stellung gelangt, seine/ihre Botschaft zu propagieren, sollte eine deutlichere Botschaft haben. Das Letzte, was das Theater im Moment braucht, ist ein weiteres fruchtloses Diskussionsangebot zum Thema Verschleierung. Zumal, wenn, wie in dieser Inszenierung geschehen, der „Ehrenmord“ unwidersprochen stattfinden kann. Darauf läuft es leider zwangsläufig und unmissverständlich hinaus. Die Inszenierung lässt diesen fatalen Schluss allemal zu. Frau Schlocker hat jedenfalls nicht Flagge gezeigt mit einer deutlichen Interpretation.

Dabei war alles bestens gerichtet. Jessica Rockstrohs Bühnenbild beeindruckte. Ein Halbrund auf der Drehbühne verschloss den Lebensraum Rhodopes hermetisch gegen jeden Blick, wenn die bis an die Oberkante des Bühnenportals reichende Mauer dem Publikum zugewandt war. Gedreht, öffnete sich ein großer, aber dennoch intim wirkender Raum mit nach hinten aufsteigendem Fußboden. Das halboffene Rondell war Innenraum und Garten zugleich. Im Verlauf der Handlung (nach dem Sündenfall) krachte ein zersägter Apfelbaum aus dem Bühnenboden herab. Ein paar Stühle, die an der Rückwand aufgestapelt wurden, bezeichneten den Versuch der Dienerschaft, die hohe Mauer zu überwinden, Freiheit zu erlangen. Die Kostüme von Caroline Rössle-Harper waren der nüchternen Symbolik sensibel angepasst.

Werner Wölberns König Kandaules erfüllte bestens alle Anforderungen, die Figur glaubhaft und unangefochten erscheinen zu lassen. Wölbern spielte nicht nur den Souverän, er war es auch. Britta Hammelstein entgegnet ihm in ihrer Rolle der Rhodope auf Augenhöhe, zumindest nach der Entschleierung. Ihre Dominanz, ihr unbeugsamer Wille, Recht walten zu lassen, taten ihrer begehrenswerten Erscheinung, und die wurde permanent verhandelt, keinen Abbruch. Friederike Ott und Katrin Röver füllten als Dienerinnen Lesbia und Hero die emotionalen Räume neben den großen Konflikten mit der gebotenen Zurückhaltung, die ihren Rollen eigen war. Paul Wolff-Plottegg gab einen Diener Thoas, der fast auf gleichem Level wie die Protagonisten agierte. Er, der „nicht der schnellste Denker“ war, verkörperte mit Anflügen von Kleinmut die Empfindungen des Volkes und demonstrierte zugleich seine uneingeschränkte Loyalität zum Königshaus. Zumindest war seine innere Zerrissenheit und Qual häufig glaubhafter, weil maßvoller als die von Stefan Konarske als Gyges. Der spielte beinahe von Anfang an einen nervigen, unter nicht nachvollziehbarer Hochspannung stehenden Mann. So gab es kaum sinnfällige Möglichkeiten der Steigerung. Und als diese dann doch geschah, nahm die Figur im letzten Drittel psychotische Züge an. Warum, fragte man sich? Er war ein souveräner Mann, Grieche, frei, an der Seite des Königs und sein Günstling. Niemand konnte ihm im Umgang mit der Waffe das Wasser reichen, nicht einmal Kandaules. Obgleich diese Figur in der Literatur mythischen Charakter trägt, war sie eine historisch belegte. Immerhin regierte Gyges das kleinasiatische Land von 680 – 644 v.Ch. Er begründete das Geschlecht der Mermnaden, das in der fünften Generation mit dem sagenumwobenen König Krösus unterging.

Der Applaus des Publikums brachte letztlich zum Ausdruck, dass kaum jemand wusste, warum er diese Tragödie eigentlich gesehen hatte. Eine deutliche, verbindliche Botschaft blieb weitestgehend im Dunkel. Die ästhetische Umsetzung und das Spiel der Darsteller hingegen überzeugten. So wurde unaufgeregt geklatscht und den Darstellern für ihr weitestgehend sehenswertes Spiel gedankt. Schade.

 
Wolf Banitzki

 

 


Gyges und sein Ring

von Friedrich Hebbel

Britta Hammelstein, Stefan Konarske, Friederike Ott, Katrin Röver, Werner Wölbern, Paul Wolff-Plottegg

Regie: Nora Schlocker

Residenztheater Erpressung von Pippo Delbono 


 

 

Der Flügelschlag des Kolkrabens

Pippo Delbonos Theater ist ein sehr individuelles, geboren aus seiner ureigenen Persönlichkeit und deren Besonderheiten. Der HIV infizierte Regisseur führte in seinem Leben einen existenziellen Überlebenskampf, den er auf einer spirituelle Ebene schließlich gewann. Die Veränderungen, die ihm die Tatsache seiner Erkrankung abverlangten, waren sehr ungewöhnlicher Natur. Um die Bodenhaftung nicht zu verlieren, tat er sich mit Bonò zusammen, einen taubstummen Mann, den er in der Psychiatrie von Aversa kennen lernte. Bonò saß dort 45 Jahre ein, abgeschieden von der Welt, denn niemand beschäftigte sich ernsthaft mit ihm. Seither verbringen die beiden Männer das Leben gemeinsam.

Pippo Delbonos Rezeption der Realität ist auf das Detail gerichtet, das verräterische, das entlarvende Detail. Seine künstlerische Spiegelung ist gleichsam die Darstellung, das Erzählen scheinbar unbedeutender Geschichten, hinter denen sich ein größtmöglicher Subtext verbirgt. Die Themen sind allemal die größtmöglichen, sie sind menschlich und sie sind politisch. Wo dem Menschen Schmerzen zugefügt werden, muss der Mensch politisch werden, um zu überleben. Darum ist das Theater von Pippo Delbono politisches Theater. Doch es ist weit mehr als das, wie eine Geschichte belegt, die im Programmheft abgedruckt ist. Eines Tages traf der Regisseur im Theater einen sonderbarer Junge, der ihm erzählte: „Ich habe alle deine Aufführungen gesehen, sie haben mich sehr getroffen, verstanden hatte ich sie niemals wirklich. Danach erlitt ich einen Unfall, ich lag anderthalb Monate im Koma. Dann wachte ich auf, jetzt verstehe ich dein Theater.“ (Pippo Delbono, Programmheft zur Inszenierung im Residenztheater)

Damit wären wir wieder beim individuellen, aus den Besonderheiten der Persönlichkeit resultierenden Theater des Italieners und sofort drängt sich die Frage auf, wie allgemeinverständlich kann dieses Theater, in deutlicher Entfernung zu den Konventionen, sein. „Theater sollte jenseits der Konventionen etwas in unserem Unterbewusstsein anrühren.“ (Ebenda) Wichtigstes Mittel dabei ist der „theatrale Körper“. Dieser Körper ist ein universaler, nicht konkret - aber deutlich, ein kindlicher, ein unverbildeter, wie Pippo Delbono meint. Folglich liegt die Theatralik Delbonos in der Geste, auch in der Pose, in der Bewegung, im Rhythmus der Bewegung und erst dann im Wort.

Inspiriert von Pina Bausch, qualifiziert Delbono das Unterbewusstsein zum eigentlichen Schöpfer. Dabei entsteht ein „Performer“, Jerzy Grotowski suchte ihn lebenslang, als universaler, von jedem Betrachter verstandener Archetypus des Darstellers, der zugleich ein kultureller Analphabet (ein unverdorbener Bobò) ist. Dass dies erst einmal nur ein Wunsch sein kann, liegt auf der Hand. Und so ist jede Inszenierung Pippo Delbonos ein Wagnis für die Künstler und die Zuschauer gleichermaßen. (Geht es schief, müssen beide die Suppe auslöffeln.)

In „Erpressung“ stellte sich der Italiener einer Welt, die er als Diktatur der Heuchelei begreift, als eine der denkbar schlechtesten, gegen die es zu opponieren gilt. Und da die Heuchelei und deren Tyrannei in alle Fasern der Realität Einzug gehalten hat, gab es kein eigentliches Generalthema. Jedes schien willkommen zu sein, denn jedes ist ergiebig: Die Frau wird erklärt, - nicht wie sie ist, sondern wie sie sein soll. Der Mann erklärt sich ungewollt selbst als Ausgangspunkt von Heuchelei, z.B. in der Leugnung von Geschichte (der gelbe Judenstern wird zum Sheriffstern). Um so bedrückender werden die Bilder vom einstigen Konzentrationslager. Die Uniform, der möglicherweise älteste und konstanteste (männliche) Archetypus, ist vielleicht die lächerlichste und zugleich erschreckendste Erscheinung der Weltgeschichte. Und sie ist präsent, keine Diktatur funktioniert ohne sie. Geradezu wollüstig wird sie ad absurdum geführt. Die größte aller Heuchelein findet in Bezug auf Freiheit statt, ein philosophisch definierter Idealzustand, den es dem Wesen nach in der Realität gar nicht gibt. Trotzdem wird diese Chimäre immer wieder beschworen, vornehmlich, um die Diktatur zu rechtfertigen. Und dann sind da noch die Medien, die es geschafft haben vom Bildungsauftrag weg, hin zur reinen Unterhaltung und zur Quote zu gelangen. Die Medien sind wohl für den einigermaßen gesunden Menschen die peinlichste aller modernen Errungenschaften. Der schlechte Geschmack kennt inzwischen kein Maß mehr. Dabei gibt es doch im bürgerlichen Recht den Straftatbestand der Volksverhetzung. Ist vorsätzliche Volksverblödung nicht ein ähnlich schlimmes Delikt?
 
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Marie Seiser, Jürgen Stössinger, Gunther Eckes, Guntram Brattia, Robert Niemann, Dascha Poisel, Arthur Klemt, Wolfram Rupperti

© Hans Jörg Michel

 

 

Pippo Delbono geht hart ins Gericht mit der Welt. Und um das tun zu können, schafft er erst einmal eine. Seine Bevölkerung reicht vom goldglitzernden Entertainer bis hin zum schwulen Paar. Die vorgestellte Welt hat keine innere Ordnung, lediglich eine Choreografie. Und so wird der Betrachter eingeladen zu einer Reise durch das Chaos. Jede Szene ist dabei ein „Finger-in-die-Wunde-legen“, manchmal bedrückend, manchmal komisch, verstörend allemal. Nicht alles erschließt sich auf Anhieb. Manches will mitgenommen werden, einiges lohnt sich nicht. Letzteres war auch schon mal der Tatsache geschuldet, dass Pippo Delbono die Perspektive des kulturellen Analphabeten wählte, dabei schon mal Plattitüden verbreitete und es inhaltlich nicht über die eigene ästhetische Messlatte schaffte. Zwischen wunderbaren Szenen mit Offenbarungscharakter schlich sich auch schon mal sprachliche Bedürftigkeit ein. Sinn machte zweifelsohne alles, nur erging er sich manchmal in indifferenten Andeutungen. Damit lieferte sich das Gesamtwerk beliebigen Interpretationen aus, oder aber einer rigorosen Ablehnung, wie sie neben den euphorischen Bravos nach der Premiere deutlich zu hören war.


„Zusammenhanglos, banal, überästhetisiert“, war zu hören. Dem kann weder uneingeschränkt zugestimmt, noch widersprochen werden. Es war die natürliche Reaktion auf einen künstlerischen Akt, der von individueller Subjektivität lebte und sie auch einforderte.


Pippo Delbono genießt inzwischen Kultstatus. Gemeinsam mit dem Violinisten Alexander Balanescu, der ihm viele Bühnenmusiken komponierte und auch interpretierte, schuf er eine klangvolle Bilderwelt, in der Zeit eine andere Rolle zu spielen schien, in der Bewegungen anders als erwartet abliefen, in der Innehalten mehr erhellte als Handeln. Gerade in der Ästhetik droht das vermeintliche kulturelle Analphabetentum aber auch zur Koketterie zu werden. Zu deutlich sind die Handschriften und Einflüsse anderer Künstler. Wie auch nicht, denn schließlich wird nicht erwartet, dass Pippo Delbono das Theater neu erfindet. Der wahrheitliche Glanz seiner Bilder rechtfertigen diesen (scheinbaren) Widerspruch allemal. Immerhin, die Bodenhaftung kann Delbono nicht abgesprochen werden, und darum geht es ihm wohl in erster Linie. Und trotzdem: Anderssein ist nicht nur immer wiederkehrendes Thema in seiner Arbeit, es ist auch der eigene Anspruch. Denn jeder ist anders, er muss nur als solches begriffen werden.


Um diese Inszenierung annehmen zu können, braucht es Zeit. Sich kritisch zu verhalten, insbesondere. Was Eindruck machte, muss immer wieder benannt werden, damit sich das Bewusstsein bildet. Da war zuallererst das Bühnenbild von Anneliese Neudecker. Vom Portal bis in den hintersten Winkel der Bühne schlängelte sich ein betonfarbener Kanal, der wie bei einer Schleuse siebenfach abgeteilt war mit schieberartigen Wänden. Eindringen in Tiefe wurde zu einem sinnlich wahrnehmbaren Vorgang. Dabei erzeugte allein das Heben der Schleusenwände ein Spannung, wie sie neugierigen Kindern eigen ist. Was wird sich jetzt in der Tiefe offenbaren? Z.B. das Gesicht Pippo Delbonos, der mit dem Publikum das Plaudern anfängt, es entspannt, erheitert und fasziniert mit dem weichen Klang seines italienischen Singsangs.


Vorn an der Front agierte Artur Klemt als TV-Entertainer. Er hatte das schwerste Los gezogen, denn seine Geschichten war die über die Medienwelt. Wie will man die Trivialblödheiten des Mediums künstlerisch brechen, ohne dabei Gefahr zu laufen, sie zu wiederholen? Und wie will man etwas als Volksverblödung und geistige Bevormundung charakterisieren, was längst zum alltäglichen Selbstverständnis geworden ist? Marie Seiser hatte es da etwas leichter, die Frau als (vom Mann) designtes Objekt zu verkaufen. Dieses Thema war diffiziler angelegt, denn schließlich fallen selbst Frauen auf den Unsinn herein, den sie selbst ausbrüten, wie Quotenforderungen oder unbewusste geistige Travestie als Ausdruck von Gleichberechtigung der Geschlechter. Blaustrümpfig erklärte Frau Seiser, was der Frau zu Gesicht steht und was nicht. Es muss allerdings befürchtet werden, dass hier und da im Publikum innerlich genickt wurde. Entstellte Mütterlichkeit demonstrierte Dascha Poisel, als sie mit dem Kleid gleichsam das darin befindliche Mädchen bügelte. Guntram Brattia und Gunther Eckes hinterließen großen Eindruck mit ihrem Dialog zwischen Romeo und Julia (Es war die Nachtigall und nicht die Lerche, / Die deinem Ohr ins bange Innre drang;). Wie anders klingen Shakespeares Verse doch, wenn sie von einem homosexuellen Paar gesprochen werden!


Gunter Eckes Offizier erinnerte an die uniformierten Potentaten dieser Welt. Sie sind eine der gefährlichsten Spezies unter den machtgeilen Alphagesellen, denn das Berufsethos des Soldaten wiederspricht allen humanistischen Grundregeln. In der Werbung des Residenztheaters war zu lesen, dass diese Inszenierung auch unter dem Eindruck des arabischen Frühlings entstand. In der Rolle von Gunter Eckes wurde dieser Ansatz sehr konkret. Als Jürgen Stössinger die Geschichte vom Kolkraben erzählt hatte, der sich als Warner entpuppte, entstand eine etwas kafkaeske Stimmung, vergleichbar mit der Geschichte „Vor dem Gesetz“. Doch als  in der nachfolgenden Videoprojektion Bobò seinen sensiblen Blick über den Hof des Konzentrationslager streichen ließ, untermalt von krächzenden Artikulationen des Stimmlosen, bekam der Kolkrabe ein menschliches Gesicht. Diese Bilder waren von intensiver Suggestion. Auf der Bühne erfuhr Bobòs immaterielle Existenz durch den jungenhaften, fragilen Robert Niemann eine Fleischwerdung.


Es war ein Abend mit gewöhnlichen und ungewöhnlichen Bildern. Welche davon größeren Eindruck machten, soll unentschieden bleiben. Vielleicht war der Abend auch dazu angetan, die eigene seherischen Fähigkeit zu hinterfragen. Wer genau hinhörte, nahm das Krächzen des Kolkraben war und wer genau hinschaute, sah seine Schönheit. Das Publikum mag zwiegespalten gewesen sein, doch kaum jemand wird leugnen können, den Flügelschlag des Warners gespürt zu haben.


Wolf Banitzki

 

 


UA Erpressung

von Pippo Delbono 

Guntram Brattia, Gunther Eckes, Arthur Klemt, Robert Niemann, Dascha Poisel, Wolfram Rupperti, Marie Seiser, Jürgen Stössinger

Regie: Pippo Delbono 

Residenztheater Candide von Voltaire


 

 

Kohl statt Aufbegehren

Positiv denken ist seit langem schon die Devise! Wenn um uns herum die Finanzmärkte von Pleitentsunamis heimgesucht werden, Politik eine „Nach-mir-die-Sintflut“- Mentalität pflegt, kleine Gruppen von verblendeten Ideologen mordend durch das Land ziehen, Astrologen, Esoteriker und Parteienpolitiker Triumphe feiern, weil Bürger ihnen in ihrer Orientierungslosigkeit folgen wie den Rattenfängern, wenn kaum jemand noch weiß, ob er trotz Renteneinzahlungen und Vorsorgeversicherungen eine wirtschaftliche Stabilität bis zu seinem Lebensende erwerten kann, dann heißt es positiv denken. Gottlob gibt es ja die Angst, ein menschliches Grundgefühl und gleichsam ein Instrument. Der Angst ist es zu verdanken, dass Schönredner und Berufsoptimisten der Bevölkerung glaubhaft versichern können, sie leben in der „besten aller Welten“, obgleich es im Gebälk knirscht und der Staub bereits von der Decke rieselt. Veränderungen oder gar Aufbegehren ist nicht in Sicht. Man weiß, was man hat, und wenn es noch so lausig ist, sollte man es nicht aufs Spiel setzen.

Kurz zur Entstehungsgeschichte des philosophischen Optimismus (Aus dem Lateinischen abgeleitet von optimum, „das Beste“.): G. W. Leibniz versuchte seinen Zeitgenossen 1710 in seiner „Theodizee“ (übersetzt: Rechtfertigung Gottes) zu erklären, dass Gott in seiner Allmacht und Güte nur die „bestmögliche aller Welten“ erschaffen konnte. Dieser Versuch ist, so man nicht blind, taub und blöd ist, natürlich zum Scheitern verurteilt. Voltaire begriff das in letzter Konsequenz spätestens nach der Lektüre über die Ereignisse des 1. Novembers 1755 in Lissabon. An diesem Tag wurde die portugiesische Stadt von einem verheerenden Erdbeben heimgesucht, das mindestes 30.000 Menschen das Leben kostete. Als polemische Erwiderung auf Leibniz und dessen Anhänger schrieb er seinen 1759 erschienene satirischen Roman „Candide“.

Der naiver Held Candide (der Treuherzige, auch Arglose) wird vom Anwesen des westfälischen Barons Hans Jost Kurt (von Donnerstrunkshausen) von „Thunder-ten-tronckh“ verwiesen, nachdem er mit der Tochter des Barons, Cunégonde, im flagranti ertappt wurde. Diese „Vertreibung aus dem Paradies“ gestaltet sich für Candide sehr schmerzlich, denn zuvor hatte er beim Hofmeister Magister Pangloss (frei übersetzt aus dem Altgriechischen: „Allessprecher“) eine Einführung in den Optimismus erhalten. „Der junge Kandide schluckte jegliche seiner Lehren mit der Treuherzigkeit hinter, die seinem Alter und Charakter gemäß war.“ In den nachfolgenden Abenteuern und Reisen muss Candide allerdings bald erkennen, dass sich die Welt als alles andere, nur nicht als „die beste“ aller entpuppt. Der Optimismus wird zwar ad absurdum geführt, jedoch wenigstens nicht gänzlich verraten. Am Ende heißt es in dem kleinen selbstgewählten Refugium, dass man einen „kleinen Garten“ bestellen wolle. Das hieß: Kohl statt Aufbegehren.

Die Reisen Candides und seines Begleiters Cacambo, den er auf seiner Flucht in Cádiz trifft, ähneln denen Gullivers. Sie führen ihn über einen Kriegsschauplatz, auf dem über zahllosen Toten ein Tedeum wabert, nach Lissabon, wo er das grauenvolle Erdbeben erlebt. Er wird gemeinsam mit Pangloss, der (vermeintlich ketzerisch) geredet, während Candide (verdächtig) zugehört hatte, aufgehängt und ausgepeitscht, um Gott zu besänftigen. Unmittelbar nach der Tortur gab es ein kräftiges Nachbeben. Auf der Flucht vor der Inquisition gelangt Candide nach Paraguay in des sagenumwobene El Dorado, einem utopischen Ort, wo Toleranz, Wohlstand und Glück Realität sind. Es ist ein idealer Ort. Doch Candide zieht es fort. Er glaubt, sein Glück nur in der Gemeinschaft mit Cunégonde finden zu können. Auf der Suche nach ihr kehrt er nach Europa zurück. Er begegnet Martin, einem pessimistischen Philosophen, der eher an den Teufel, denn an Gott glaubt und der davon überzeugt ist, das Zufall, Unglück und Bosheit die treibenden Faktoren im Leben der Menschen sind. In Konstantinopel findet er Cunégonde wieder. Sie ist auf das grausamste verstümmelt und von garstiger Natur. Candide heiratet sie widerwillig („Vorher pflog er mit Panglosen, Martinen und Kakambo'n geheimen Rat.“) und alle zusammen ziehen sich auf ein Landgut zurück. Das Leben geht weiter und sie erkennen: „Il faut cultiver notre jardin“. („Unser Garten muss gepflegt werden“)
 
  candide  
 

Michele Cuciuffo, Sebastian Blomberg, Hanna Scheibe

© Thomas Dashuber

 
 
Den letzten Satz nahm Bühnenbildnerin Sabine Kohlstedt wörtlich und ließ aus dem Bühnenboden eine Vielzahl von Gartengeräten (in Kinderspielzeugformat) auf die leere, von einer halbkreisförmigen Leinwand begrenzten Bühne herabschweben. Regisseurin Friederike Heller inszenierte einen Spielreigen, in dem Livemusik (Peter Thiessen und Sebastian Vogel) eine Schlüsselrolle spielte. Sie strukturierte und kommentierte lebhaft den Fortgang der Geschichte. Die Spielfassung basierte auf dem von W. C. S. Mylius übersetzten Originaltext von Voltaire, also auf einen Prosatext, der über weite Teile wortwörtlich übernommen wurde. Folglich handelt es sich überwiegend um reflexive Berichte, was eine wirkliche Bühnendramatik per se ausschloss. (Prosaadaptionen sind scheinbar mehr denn je in Mode!) Immerhin ist die Votaire’sche Sprache, insbesondere die darin enthaltenen satirischen Brechungen, unterhaltsam genug, um ein lustvolles und augenzwinkerndes Spiel zu gestalten.

Friederike Heller erzählte die Geschichte nicht gänzlich. Nach etwa einer und einer Viertel Stunde beschränkten sich die Darsteller darauf, das Ende mit wenigen Worten zu umreißen, damit ‚der Abend nicht so lang werde’. Obgleich diese Entscheidung gut war, denn Längen wären unausbleiblich gewesen, hatte es etwas von einem coitus interruptus. Die befruchtende Quintessenz blieb aus und das lakonische Fazit der Selbstbeschränkung erinnerte sehr an Mörikes „Gebet“: „Wollest mit Freuden / Und wollest mit Leiden / Mich nicht überschütten! / Doch in der Mitten / Liegt holdes Bescheiden.“ Naturgemäß blieb die Inszenierung im Residenztheater weit hinter dem philosophischen Anspruch, der sich häufig über den Subtext vermittelt, und der philosophiegeschichtlichen Komplexität der Vorlage zurück. Zudem: Voltaire zu zitieren, mag angehen, sich seinen Urteilen mehr oder weniger anzuschließen reicht allerdings nicht unbedingt aus.

Es gibt zwei gute und hinreichende Gründe, diese Inszenierung anzuschauen. Der erste resultiert aus der Aktualität des Themas. Langsam wird der Neopositivismus, den diese Gesellschaft recht blauäugig praktiziert, zu einer existenziellen Bedrohung. Folglich kann es nicht schaden, sich mit diesem Thema auseinander zu setzen. Der zweite Grund ist die artifizielle Umsetzung des Themas und die Leistung der Darsteller, allen voran Sebastian Blomberg als leicht vertrottelter, naiver Candide und Michele Cuciuffo als eitler, gespreizter Statthalter von Buenos-Aires, Don Fernando. Jörg Ratjen war, was seine Rolle des Pangloss betraf, ein wenig im Vorteil. Die z.T. blödsinnigen Schlüsse, die der Magister aus seiner optimistischen Philosophie zog, verlangten geradezu nach besonderer mimischer Umsetzung. Ratjen verschenkte nichts.  

Obgleich die Diktion von Voltaire alles andere als gefällig ist, gab es eine Vielzahl kurzweiliger Szene, in denen der brillante Geist des Enzyklopädisten und Aufklärers zumeist im satirischen Gewand aufblitzte. Es wird heutigentags nicht selten die Auffassung vertreten, dass die Aufklärung gescheitert sei. Die Inszenierung von Friederike Heller verweist darauf, dass sie notwendigerweise weitergehen muss. Es blieb allerdings auch die unbehagliche Ahnung zurück, dass sie nach zweihundert Jahren erst ganz am Anfang steht.

Wolf Banitzki

 

 

 


Candide

von Voltaire

Sebastian Blomberg, Michele Cuciuffo, Jörg Ratjen, Hanna Scheibe, Elisabeth Schwarz

Regie: Friederike Heller