Theater Viel Lärm um Nichts Frankenstein  nach Mary Shelley


 

Weit mehr als eine Schauergeschichte

Mary Shelleys Roman „Frankenstein“ erfuhr selten die ihm gebührende Wertschätzung. Als Gruselklassiker in der Geschichte eingegangen, etliche Male auf vulgarisierende Weise adaptiert als B-Movie, Komödie (Mel Brooks) oder billiger Horrorschocker war dieser Roman weit mehr. Es war ein Werk das Fragen stellte, die so weitsichtig waren, dass selbst heute mancher Leser die Tiefgründigkeit kaum sieht. Die Fragen sind existenzielle, drehen sich um das Leben an sich und um die Schöpfung von kreatürlichem Leben insbesondere und deren Anspruch auf Liebe und Glück. Viktor Frankenstein, ein junger, wissbegieriger Mann, gebildet an der Universität Ingolstadt, folgt der Vision, Leben zu erschaffen, robustes, unzerstörbares Leben. Es gelingt ihm.

Doch als die von ihm geschaffene Kreatur „das trübe gelbe Auge“ zum ersten Mal öffnet, wird ihm schmerzlich bewusst: „Wie könnte ich meine Gefühle bei der Katastrophe beschreiben, oder wie soll ich den Unhold schildern, den ich mit solch unendlicher Mühe gebildet hatte?“ Der junge Viktor war besessen von seiner Idee und hatte es verabsäumt, auch nur einen Gedanken an die Konsequenzen zu verschwenden. „Unfähig, den Anblick jenes Wesens zu ertragen, das ich geschaffen hatte, stürzte ich aus dem Raum (…)“ Und so überließ Viktor diese Kreatur allein und unbehütet dem Schicksal. Nun lässt sich leicht denken, welche Chance einer solchen „Missgeburt“ im Leben vergönnt sein würde. Doch sie erwies sich als widerstandsfähiger, als geahnt. Die Kreatur lernte, begriff und begann, sich seinen Schöpfer vorzuknöpfen. Und das tat sie gründlich. Das „Monster“ nahm Viktor alle geliebten Menschen, zuletzt sogar seine frisch angetraute Elisabeth.

Margrit Carls, die für die Inszenierung von Andreas Seyferth im Theater „Viel Lärm um Nichts“ die überaus kluge und erhellende Spielvorlage schuf, stellte nicht Viktor Frankenstein oder das von ihm geschaffene „namenlose“ Geschöpf in den Mittelpunkt der Geschichte, sondern deren Schöpferin Mary Shelley. Dabei erzählte sie die von Mary Shelley geschriebene Geschichte und zeigte zugleich die Qualen, Widersprüchlichkeiten und inneren Kämpfe der Autorin auf, wobei die bereits erwähnten existenziellen Fragen in aller Deutlichkeit an die Oberfläche traten. Eine wichtige war und ist auch heute noch: Ist der Mensch von Geburt gut oder böse? Mary Shelleys Vater William Godwin, ein radikaler Aufklärer, nahm die Erkenntnis der späteren Materialisten, allen voran Karl Marx, vorweg, dass der Mensch in hohem Maße Produkt seiner Umwelt sei. Diese Erkenntnis bereitet insbesondere Politikern und Mächtigen heute noch immer viel Unbehagen, bedeutet sie doch im Umkehrschluss, dass die vermeintlich gottgegebene und somit unabänderliche Welt angesichts der Vielzahl von Gewalttaten und Verbrechen keineswegs gut eingerichtet ist.

  Frankenstein  
 

Arno Friedrich, Judith Bopp, Markus Beisl

©

 

Margit Carls erweiterte ihren dramatischen Entwurf um einige literarische Highlights. So startete der junge Viktor als „Faustischer“ Mensch unter Verwendung von Zitaten Goethes in seine wissenschaftliche Karriere und endete als grüblerischer Hamlet. Zwischendurch wurde das Ungeheuer Caliban aus Shakespeares „Der Sturm“ ins Gespräch gebracht, um dem „Namenlosen“ die Möglichkeit einzuräumen, sich selbst und seine Rolle im großen Plan der Welt zu definieren. Für die zweistündige Inszenierung hatte sich Andreas Seyferth von Peter Schultze einen halbrunden Spielraum mit unterschiedlich hohen Podesten entwerfen lassen, die keinen Ort näher beschrieben, aber jeden erdenklichen Topos zuließen. Einzig die Wohnstatt Mary Shelleys war näher bezeichnet denn daraus trat sie hervor und dahin zog sie sich zurück um beispielsweise zu schreiben.

Mit Judith Bopp war die damals 19jährige Autorin bestens besetzt. Sie war zweiflerisch und kritisch zugleich, wenn es um den Akt der literarischen Schöpfung ging. Sie fungierte als leichtfüßige Stichwortgeberin für die von ihr geschaffenen Figuren, was deutlich machte, dass es sich um literarische Figuren handelte. Markus Beisl war unbedingt eine kongeniale Besetzung als Viktor Frankenstein. Mit seiner leptosomisch anmutenden Physis war er ganz der Geistesmensch. Blass und nervös stellte er den Typus des den eigenen Körper gering schätzenden Visionärs vor. Arno Friedrichs Monster überzeugte weniger durch voluminöse Ausmaße, wie im Buch durchaus beschrieben, sondern durch athletische Behändigkeit, die unmissverständlich den Eindruck erweckte, dass es durchaus über übermenschliche Kräfte verfügte.

Patricia Ivanauskas, Sven Schöcker, und Daniel Wittmann oblag es, sämtlichen Nebenrollen Gesicht, Gestalt und Stimme zu verleihen. Dabei scheute Andreas Seyferth nicht den Einsatz karikierender Komik, was dem durchaus düsteren Stück und dessen Inszenierung bisweilen erlösende Leichtigkeit verlieh und vor dem Strudel tiefster Depression bewahrte. Eben jener Strudel ist unbestritten in der Geschichte, denn es gibt darin nur Verlierer, keinen Gewinner und auch keinen Hoffnungsträger. Aber es enthält eine Mahnung, die zeitlos ist: Bedenkt die Konsequenzen eures Handelns. Mary Shelley schrieb in ihrer Vorbemerkung zum Roman: „Dr. Darwin und einige deutsche Physiologen würden das Ereignis, auf das diese Erzählung sich stützt, als undenkbar verweisen. Man mag nun von mir nicht glauben, dass auch ich nur im Entferntesten ernsthaft an solch eine Vorstellung glaubte.“

Hätte sie daran geglaubt, wäre sie deswegen nicht realitätsfremd gewesen, denn heute wird lebensfähiges Gewebe von 3D-Druckern hergestellt. Organe werden in jeder denkbaren Weise transplantiert und daran ist auch nichts auszusetzen. Die eigentlich gefährliche Situation geht auch nicht vom Körper aus, sondern vom Geist. Fieberhaft arbeitet die Wissenschaft an der Schaffung künstlicher Intelligenz, wobei die möglichen Konsequenzen leichtfertig beiseitegeschoben werden. Es ist denkbar, dass künstliche Intelligenz über die natürliche triumphieren kann. Und was immer denkbar war, wurde irgendwann Realität. Man hat ohnehin den Eindruck, die Menschheit arbeite mit Hochdruck an ihrer Abschaffung. Sei es drum, es ist vorstellbar, dass die künstliche Intelligenz mehr Vernunft aufbringt als die Menschheit. Entweder schafft sie uns ab, oder sie erzieht uns.

Viktor Frankenstein war im Grunde nur inkonsequent und halbherzig. Er verweigerte dem Namenlosen eine Gefährtin aus Angst, sie könnten sich fortpflanzen und den Planeten mit ihren „monströsen“ Nachkommen überschwemmen. Damit schuf er das wahrhaft Böse, denn das einzigartige „Monster“ hatte nur sich selbst und keinen Ausweg. Mary Shelleys Roman ist weit mehr als eine bloße Schauergeschichte und das „Theater Viel Lärm um Nichts“ erbrachte mit der sehenswerten, klugen und ästhetisch ausgewogenen Arbeit den Beweis dafür.

Wolf Banitzki

 


Frankenstein

nach dem Roman von Mary Shelley
Übersetzung/Spielfassung Margit Carls

Mit: Judith Bopp, Markus Beisl, Arno Friedrich, Patricia Ivanauskas, Sven Schöcker, Daniel Wittmann

Regie: Andreas Seyferth

Theater Viel Lärm um Nichts Victor oder die Kinder an der Macht von Roger Vitrac


 

Dada meets Punk

Mit „Victor oder die Kinder an der Macht“ unternahm das Theater Viel Lärm um Nichts wieder einmal eine Expedition in das Reich des Surrealismus und Dadaismus, in die Region des Theater des Absurden. Bei diesen experimentellen Ausflügen hat sich das Theater mehr als einmal Meriten verdient und es wäre schön, wenn das Theater für diesen Mut und dieses Engagement mit einer großen Zahl an Besuchern belohnt werden würde. Verdient wäre es allemal. Roger Vitrac, 1899 in Pinsac Département Lot geboren und in Paris gestorben, zählt nicht unbedingt zu den Dauergästen in den Spielplänen, doch seine dramatische Kunst zu erleben ist ein echter Gewinn.

Gerade in einer Welt der Orientierungslosigkeit und der Sinnsuche kann er Anregungen geben; probate Lösungen hält er allerdings nicht parat. Aber, wie sagte schon Konstantin Wecker so zutreffend: „Es müssen mehr Chaoten her, dann wird es wieder menschlicher und nicht mehr so despotisch.“ Vitracs surrealistisches Stück war seinerzeit ein Gegenentwurf zur bürgerlichen Konstitution, ein anarchisches Manifest für die Rebellion wider die bürgerliche Lebensart schlechthin. Daher findet man in seinem Stück auch das „typische Personal“.

In „Victor oder die Kinder an der Macht“ wird der neunte Geburtstag des Jungen Victor gefeiert, der allerdings am Ende zwei Meter misst. Er wächst im Verlauf des Abends um zwanzig Zentimeter und stirbt am Schluss. Während der Feier mischt er die Geburtstagsgesellschaft noch einmal kräftig auf und erschüttert die Grundfesten der bürgerlichen Moral. Er entlarvt seinen Vater Charles Paumelle, bigott und stetig um Contenance ringend, gespielt von Peter Papakostidis. Dabei hat Victor eine standhafte Verbündete: Esther Magneau, von einer fragilen und zurückhaltend agierenden Verena Richter gestaltet, die sich im Verlauf des Abends als wunderbare Saxophonistin und Dada-Poetin entpuppt. Gemeinsam mit ihr führen beide Thérèse Magneau, Esthers Mutter, entlarvt als die Geliebte von Victors Vater, vor. Melda Hazirci wehrt die Anschuldigungen und Anspielungen mit großäugiger Ignoranz ab, lässt sich allerdings auch, die Plagen wollen einfach nicht Ruhe geben, zu Gewalttätigkeiten hinreißen.

  Victor Kinder Macht  
 

Neil Vaggers, Sarah Schuchardt, Alexander Wagner, Peter Papakostidis

© Volker Derlath

 

Esters vermeintlicher Vater Antoine Magneau, auch der Hahnrei genannt, wird sich am Ende umbringen, denn obgleich Rainer Haustein ihm eine vordergründige Robustheit verleiht, zerbricht er letztlich an seinem eigenen Innenleben, das zusätzlich zu seinen „Hörnern“, mit traumatischen Erlebnissen angefüllt ist. Als Teilnehmer am Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 hat er den Verstand verloren und die bloße Nennung des Namens des Marschalls François-Achille Bazaine lässt ihn austicken und dessen Lebensgeschichte abspulen. Emilie Paumelle, Victors Mutter, ist mehr Spielball der Ereignisse, denn Spielerin im verlogenen bürgerlichen Reigen. Sarah Schuchardt verleiht ihr eine Verletzlichkeit, die allerdings keine wirklichen Konsequenzen für sie hat, da man sich in einer chaotischen Groteske befindet und Ursache und Wirkung selten logisch und berechenbar sind. Die „obligatorische“ Figur im Stück ist General Etienne Lonsegur, ein Freund der Familie Paumelle. Neil Vaggers, der gemeinsam mit Verena Richter den musikalischen Part realisierte, erinnerte eher an einen Zirkus-Conférencier, entpuppte sich aber immerhin als freundlicher und mitfühlender Zeitgenosse.

Das hat man bei den surrealistischen Theaterfiguren eher selten, einen freundlichen Befehlshaber. Die Latte war durch „König Ubu“ von Alfred Jarry diesbezüglich recht hoch gehängt, denn der war ein wahrer Barbar. Nebenbei bemerkt kam dieses Stück am 11. Januar 2003 ebenfalls im Theater Viel Lärm um Nichts in einer wunderbaren Inszenierung von Ioan C. Toma auf die Bühne. Warum „König Ubu“? Nun, weil Antonin Artaud im Jahr 1928 die Uraufführung von „Victor oder die Kinder an der Macht“ besorgte, die ursprünglich im von Vitrac, Robert Aron und Antonin Artaud gegründeten „Théâtre Alfred Jarry“ stattfinden sollte, das allerdings über keinen Raum verfügte. Der Kniefall vor Jarry, ein genialischer Dramatiker, ist unübersehbar. General Etienne Lonsegur wird am Ende gedemütigt und degradiert. So geht’s freundlichen Militärs.

Die Geburtstagsfeier fand in einem Etablissement statt, in dem zuvor (vermutlich) leicht bekleidete Damen auf Tableaus an Stangen tanzten. An der Rückwand gaben Diskokugeln weitere Auskunft über den Ort. Bühnen- und Kostümbildnerinnen Claudia Karpfinger und Katharina Schmidt schufen einen Raum, der alles vorhielt, um der chaotischen Handlung einen barrierefreien Rahmen zu geben. Und so wurde munter drauflos gespielt, musiziert, deklamiert und auch gesungen. Es war ein kurzweiliger Abend, sofern man sich darauf einlassen konnte, der kruden Logik, den anarchischen Texten und dem seltsamen Verhalten der Figuren zu folgen. Victor, gespielt von Alexander Wagner, hatte einen Rattenkopf! Es gab immer wieder darstellerische und musikalische Kabinettstückchen, die auch Szenenapplaus provozierten. Doch wer da glaubt, vieles hätte keinen Sinn, der irrt. Das Prinzip des Surrealismus ist, nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Bauch und dem Herzen zu denken.

Das von Arno Friedrich aufregend und illuster in Szene gesetzte Stück ist ein Stück über Aufruhr und Rebellion, hier von Kindern. Und das ist uns heute nicht fremd. Auch wenn uns die aufrührerischen Kinder nicht unbedingt argumentativ begegnen, so artikulieren sie ihre Ängste und das hat unbestritten eine große Wirkung. Im Übrigen könnte man meinen, dass einige Zeilen des Stücks aus dem heutigen politischen Diskurs entnommen seien, wenn Victor zu Verstehen gibt, dass die Zukunft bereits begonnen hat. Er hat dieselbe unheilvolle gemeint, von der auch die heutigen Kinder sprechen.

Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl von Anspielungen, die auf den ersten Blick gar nicht so deutlich wahrgenommen werden. In Vitracs Stück finden sich Kirchenkritik ebenso wie Moralkritik, die auch heute noch aktuell sind. Es benennt immer wieder den Wahnsinn des Krieges, vor allem aber brandmarkt es die Erwachsenen als Lügner und deren Welt als Lüge, die so keinen Bestand mehr haben kann. Das Stück ist ein brandaktuelles und dank des versierten Händchens von Arno Friedrich ein sehr unterhaltsames Theaterereignis. In unserer durchstrukturierten Welt und in unserem ebenso durchstrukturierten Denken, das mehr und mehr von quadratischen Apps (Das ist eine Metapher!) dominiert wird, kann Surrealismus, Anarchie und Dada, der hier auf Punk trifft, geradezu therapeutisch wirken. Also, ehe die Entscheidung für ein Wellness-Event fällt, sei diese Inszenierung empfohlen, um die grauen Zellen mal wieder aus dem Kalk zu lösen, aufzuwirbeln und neu zu sortieren.

Wolf Banitzki

 


Victor oder die Kinder an der Macht

von Roger Vitrac
Deutsch von Helga Krolewski

Mit: Rainer Haustein, Melda Hazirci, Peter Papakostidis, Verena Richter, Sarah Schuchardt, Neil Vaggers, Alexander Wagner

Regie: Arno Friedrich

Theater Viel Lärm um Nichts  August August, August von Pavel Kohout


 

Vorsicht! August!

August heißt mit Vor- und Zunamen August und sein Beruf ist: August. Er ist im Zirkus die unterste Sprosse der Leiter, doch er hat einen Traum. Er möchte die „Lizzipaner frisieren“, was übersetzt heißt, er würde ungeheuer gern die „acht Lipizzaner dressieren“. Doch das ist die Königsdisziplin und einzig dem Direktor vorbehalten. Als August dennoch sein Begehren anmeldet, zeigt sich der Direktor durchaus einsichtig, stellt jedoch drei Forderungen, die erfüllt werden müssen, um das ach so schwierige Amt des Dompteurs/Direktors einnehmen zu können. August sieht sich schier unlösbaren Aufgaben gegenüber, doch er gibt nicht auf. Wohin wird August sein Traum wohl bringen? Das Stück von Pavel Kohout wurde 1967 uraufgeführt, ein Jahr vor dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in Prag. Es ist bekannt, wie der „Prager Frühling“, der Versuch, einen Sozialismus mit „menschlichem Antlitz“ zu etablieren, endete.

Pavel Kohout ist ein Aufrechter, einer, der seinen Teil beitragen will, um die Welt ein stückweit besser zu machen. Nach dem verheerenden 2. Weltkrieg glaubte er, wie viele andere Menschen auch, dass die Unzahl der Opfer ein Umdenken erzwingen würde, dass die Menschheit einen neuen Weg einschlagen müsse. Er trat 1946 in die kommunistische Partei ein und erlebte, was Lenin seinerzeit prophezeit hatte. „Den Kommunismus können nur die Kommunisten verhindern.“ Heute wissen wir, dass sie es erfolgreich geschafft haben. Vorerst jedenfalls; man sollte die Hoffnung nicht aufgeben.

Kohout musste erleben, wie die größten Ziele, die bedeutendsten Ideale der Menschheit von spießigen, mittelmäßig intelligenten, fantasielosen, machtbesessenen, von der Geschichte aus dem Bodensatz der Menschheit an die Oberfläche gespülten Kleinbürgern zu Tode verwaltet wurden. Freiheit verendete in Bevormundung, Mangelwirtschaft wurde durch Parteidekrete in Wohlstand um deklariert und Erfolge gab es nur noch in den alljährlich aufs Neue geschönten Statistiken. Die großen Ideen des Sozialismus und der Menschlichkeit verkamen zu leeren Worthülsen. Kohout begehrte auf, nicht als bewaffneter Partisan, sondern als Schriftsteller, und wurde geschasst, erst aus der Partei, dann aus seiner Heimat. Mundtot hat ihn das nicht gemacht.

Er war sensibel und behutsam in seiner Kritik, denn er wusste zu gut, wie die Zensoren, die seinen Alltag bevölkerten, reagieren. Sein Stück „August August, August“ ist geradezu ein Paradebeispiel für ein aufklärerisches Werk in einer vormundschaftlichen Gesellschaft. Der Maler und Architekt Lutz Brandt räumte Anfang der 1980er Jahre in Ostberlin einmal ein: „Ich verwende die Hälfte aller meiner künstlerischen Energien darauf, die Botschaften so zu verstecken, dass sie durch die Zensur gehen.“ Dabei blieb eine Menge schöpferischer Kraft auf der Strecke. Allerdings wurde der Formenkanon enorm bereichert. Kohout wählte für sein Stück die Parabel. Er siedelte seine Figuren in einem Zirkus an und spiegelte in diesem Bild die real existierende sozialistische Gesellschaft stalinistischer Prägung.

Einem heutigen Bundesbürger, der diese Gesellschaft nie erfahren hat, erschließen sich etliche Codes und Charakteristika nicht umfänglich, doch das tat dem Stück und auch der von Sven Schöker im Theater Viel Lärm um Nichts eingerichteten Inszenierung keinen Abbruch. Kohouts Protagonisten sind zuallererst Menschen und dann politische Führer, Volk oder Handlanger. Man sollte sich, solange es noch möglich ist, daran erinnern, dass die Deutschen nach nur vierzig Jahren Trennung erstaunt waren, wie unterschiedlich die jeweils anderen Deutschen tickten. Bei Kohout ist die Andersartigkeit innewohnend, jedoch nicht unbedingt auf den ersten Blick erkennbar. Einem Tschechoslowaken oder auch einem Ostdeutschen drängen sich diese Facetten allerdings auf, werden geradezu zwingend.

  August August August  
 

Judith Bopp und Denis Fink

© Hilda Lobinger

 

Sven Schöker ist es gelungen, über die Geschichte (im Sinne von Historie) hinaus, verständliche und glaubhafte Charaktere auf die Bühne zu bringen, denn Mensch ist erst einmal Mensch. Sein Direktor, von Andreas Seyferth in der Pose des eloquenten Altruisten gespielt, war einer, der seine Machtposition und seine soziale Stellungen keinem auch noch so begabten Aspiranten auf dessen Posten kampf- oder intrigenlos überlassen würde. Diese zutiefst menschliche Eigenschaft existiert unabhängig von gesellschaftlichen Systemen, die sich durch den Besitz an Produktionsmitteln unterschieden, doch im „real existierenden Sozialismus“ war die angemaßte Kompetenz oder die vermeintliche Kompetenz ein wirkungsvolles Instrument im Machtkampf, denn wer konnte sich schon guten Gewissens dem gesellschaftlichen Fortschritt entgegen stellen? Marx definierte Freiheit als: Einsicht in die Notwendigkeit. Und was eine Notwendigkeit für den Sieg des Sozialismus war, das entschied die Partei, wobei hier nicht die Millionen von Mitgliedern gemeint waren, sondern die „Politbüros“.

Alexander Wagner gab auf der Bühne den „Stallmeister“, das willfährige Bindeglied zwischen Macht und Volk, im Grunde ein Vollstrecker des „höheren Willens“. Devot gegen seinen Herren und zynisch und voller Verachtung gegen August, der das abgehängte Volk repräsentierte, gab Wagner einen Einpeitscher, der sich allerdings des eigenen Mangels durchaus bewusst war. Es fehlte ihm gänzlich die Fantasie, etwas womit August bei aller (gespielten) Dümmlichkeit sogar unlösbare Probleme überwand. August hatte, um seinen eigenen Lebensanspruch zu realisieren, seine Kompetenz nachzuweisen. Eine dieser Aufgaben war die Beschaffung einer Ehefrau (Lulu), anrührend und clownesk von Judith Bopp gespielt, und die spielerische Zeugung eines Kindes. August bekam das prima hin und sorgte somit für Verzweiflung beim Direktor und seinem Adlaten. Denis Finks August war naiv und verträumt. Sein Wunsch, die acht Lipizzaner zu dressieren, stand für den Traum des Menschen nach Selbstverwirklichung schlechthin. Jeder Mensch ist von einem solchen Traum beseelt, doch geht der sehr selten in Erfüllung, weil es die äußeren Umstände oder missgünstige Menschen wie der Stallmeister, ein ebenso zur kurz gekommener, verbitterter und mit der Welt hadernder Mensch, es nicht zulassen.

Kohouts „Zirkusvorstellung für Erwachsene“ treibt Blüten in alle Richtungen. Sprachlich blühen sie in einem Garten bizarrer Schwurbeleien und die Logik stolpert quer durch Absurdistan. Wenn Marion Niederländer, die die Ehefrau des Direktors, aber auch den Vater der Lulu spielte, sang, blieb jegliches Verständnis außen vor. Melancholisch klang es und mancher Wortstamm der lautmalerischen Sprache schien etwas bedeuten zu wollen, doch unterm Strich blieb es nur beim Bauchgefühl. Und dieses Bauchgefühl wechselte in der turbulenten Geschichte immer wieder, denn Denis Finks August war tatsächlich der „arme August“, der die Watschen einstecken musste und der den schlimmsten Widrigkeiten mit schwer zu ergründendem Optimismus begegnete, der aber auch seinen Gefühlen freien Lauf ließ und aufheult wie eine Sirene, wenn ihm (kurzzeitig) der Mut oder die Hoffnung abhandenkam.

Regisseur Sven Schöcker gelang eine geschlossene Inszenierung mit durchweg guten szenischen Lösungen. Man kann nun keinesfalls sagen, dass der Spielraum in der Pasinger Fabrik Heiterkeit ausstrahlen würde, doch in dieser Inszenierung bildete er einen sinnvollen krassen Gegensatz zum spaßigen Anspruch, den eine Zirkusvorstellung normalerweise für sich reklamiert, und der Geschichte in ihrer düstersten gesellschaftlichen Dimension. Hier wurde das Raumgefühl um eine nicht unerhebliche Dosis Existenzialismus erweitert. Immerhin brachten die Kostüme von Johannes Schrödl einige sehenswerte Farbtupfer in den Keller der Geschichte. Die in Tiefschwarz gehaltene und somit kaum wahrnehmbare Manege von Peter Schultze wurde von einem kaltglitzernden und abweisenden Eingangsportal kontrastiert. Wer weiß, welches Grauen dahinter lauerte?

Das Zirkusorchester, in Personalunion von Marcus Tronsberg verkörpert, erzeugte schlagkräftig die Illusion von einem großen Lebenszirkus. Und darum ging es sowohl Autor wie auch den Machern auf der Bühne. Es war ein kurzweiliger Abend mit sehr gut agierenden Darstellern, die bei aller Traurigkeit, die uns das Schicksal des „armen Augusts“ immer und immer wieder aufs Neue vermittelt, Lachen machte. Und Lachen ist, zumindest temporär, ein probates Mittel gegen Geschichtspessimismus. Wieder einmal ist es dem Theater Viel Lärm um Nichts gelungen, besonderes Theater zu machen, es war heiter-düsteres Theater innerhalb größtmöglicher gesellschaftskritischer und somit auch trauriger Dimensionen.

Bei allem Geschichtspessimismus gibt es eine einfache Formel, die sich in der Historie mehrfach wiederholt bewahrheitet hat: Wenn dem August die Erfüllung seines Traums versagt bleibt, wackeln bald die Stühle der Direktoren. Also: Vorsicht! August! Das Fatale an der ganzen Geschichte ist, dass der August, wenn er denn Direktor ist, auch nur ein Direktor ist. Stellt sich also die Frage, ob man sich nicht langsam dazu durchringen sollte, die Direktoren gänzlich abzuschaffen. Es heißt immer, sie lösen die Probleme. Es kommt allerdings der Verdacht auf, sie seien das Problem. Es gibt Menschen, die haben schon deslängeren keinen mehr und die leben recht gut damit.

Wolf Banitzki

 

 


August August, August
Eine Zirkusvorstellung für Erwachsene
von Pavel Kohout
Deutsch von Lucie Taubovà

Mit: Denis Fink, Judith Bopp, Marion Niederländer, Andreas Seyferth, Alexander Wagner
und Marcus Tronsberg (Livemusik)

Regie Sven Schöcker

Theater Viel Lärm um Nichts Kennen Sie die Milchstraße?  von Karl Wittlinger


 

Sem - Aus der Welt gefallen

Geradezu übermächtig drängt sich die Figur des Beckmann aus Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“ auf, wenn das Wort „Kriegsheimkehrer“ im Zusammenhang mit Dramatik fällt. Doch der Autor Karl Wittlinger betonte in einem ZEIT-Interview im Jahr 1959, dass es in seiner Geschichte - jenseits des Kriegsheimkehrerdramas - bei Samuel Kiefer, genannt Sem, um den Menschen geht, „der zwischen Hoffnung und Zwang einen persönlichen und begehbaren Lebensweg sucht“. Damit wäre ein Unterschied definiert. Während Beckmann nach seiner Rückkehr immer wieder von den Ereignissen des Krieges heimgesucht wird und er als wandelnde Anklage „Draußen vor der Tür“ keinen Zugang in die Gesellschaft, die zumeist aus Tätern besteht, findet, ist Sem, weitestgehend ohne Kriegsreflektion, ein Wiedereinstieg in die Nachkriegsgesellschaft aus bürokratischen Gründen verwehrt. Einmal für tot erklärt, ist seine statistische Existenz ausgelöscht, obgleich er biologisch real existiert.

Das hat natürlich auch ganz praktische Folgen, denn als er in sein Dorf heimkehrt, ist sein Erbe längst verteilt und seine Braut bei einem anderen unter der Haube. Um den Konflikt noch zusätzlich zu befeuern, hat Sem seine Papiere verloren, ist aber im Besitz der Papiere seines (sicher) toten Kriegskameraden Johannes Schwarz. Warum also nicht in dessen Identität schlüpfen und ein neues Leben anfangen? Der Haken an der Geschichte ist, dass Johannes Schwarz keine reine Weste hat und wegen Unterschlagung bei einer Versicherungsgesellschaft steckbrieflich gesucht wird. Doch auch das nimmt Sem in Kauf, denn was ist schon eine Strafverfolgung gegen ein eigenes Leben. Ein eigenes Leben ist größer als alle Strafen und alle Schuld, die es zu sühnen gilt. Doch Sem, der seine Geschichte immer wieder erzählt, landet zwangsläufig in der Irrenanstalt, wo er die Geschichte in dramatischer Form aufschreibt. Er kann seinen Arzt, der in einem früheren Leben Schauspieler war, dazu überreden, das Drama in der Klinik vor den Patienten und Ärzten aufzuführen. Die Kraft der Kunst bewirkt schließlich, dass … Doch das bleibt der Inszenierung von Andreas Seyferth im Theater Viel Lärm um Nichts vorbehalten.

Ob es Karl Wittlinger (1922 – 1994) nun passen würde oder nicht, es ist ein Kriegsheimkehrerdrama, und genau das ist der Punkt, wo die Klassifizierung als Komödie mit der Geschichte kollidiert. Wenn überhaupt, dann ist es eine Tragikomödie, denn zuletzt bleibt nur die Flucht in die Poesie, das Ausweichen auf (nicht in) die Milchstraße. Die Sterne werden in jedem Fall beschworen, um die Hoffnung nicht sterben zu lassen. Zweifelsohne birgt der Text viele komische Momente, doch Zweifel an der Allmacht der Bürokratie, eine unterschätzte Geißel der Menschheit, kommen nicht auf. Auch ist es Wittlinger nicht umfänglich gelungen, die Probleme in sprachliche Komik umzumünzen. Sätze wie: „Das menschliche Leben und die Behörden, das hat überhaupt nichts miteinander zu tun.“ muten komisch an, aber sind sie es auch? Komisch sind die Figuren, die die Sätze sprechen, wie der Amtsschreiber in Sems Dorf, wenn er verzweifelt ausruft: „Wenn du dabei gewesen wärst, was das für ein Affenzirkus war, mit den Behörden, bis wir dich tot gehabt haben! Du glaubst ja net, wie zäh so ein Mensch ist - auf dem Papier.“ Hinter diesem Satz steckt, und das ist dann nicht unbedingt komisch, dass sich der Amtsschreiber den Acker von Sem unter den Nagel gerissen hat und ihn auch behält. Es geht hier grundsätzlich um die (von wem auch immer gegebene) Ordnung: „Einmal tot, immer tot. Sonst ginge ja die amtliche Ordnung in die Brüche.“ Diese Ordnung bedient auch unlautere Interessen.

Es ist dennoch leicht, eine Aktualität in diesem Stück zu entdecken, spätestens wenn erklärt wird, dass Fremde wenig oder gar keine Chancen haben, Aufnahme zu finden, die „irgendwo auftauchen, wo sie nichts zu suchen haben: bei einem Fest, zu dem sie nicht eingeladen sind.“ Regisseur Andreas Seyferth hat in der Vergangenheit mehrfach bewiesen, dass ihm komödiantisches Theater liegt. Mit Norbert Ortner (Sem) und Joachim Bauer hat er auch Darsteller verpflichtet, deren schauspielerisches Vermögen allemal geeignet ist. Und dennoch war das Ergebnis keine beschwingte, erheiternde Komödie, sondern eine etwas beschwerliche, leicht bittere Tragikomödie.

Dabei kann man nicht einmal unterstellen, Andreas Seyfert hätte etwas falsch gemacht. Das Bühnenbild von Peter Schultze erwies sich als praktikabel und hielt alles vor, auch atmosphärisch, was die Szenen implizierten. Norbert Ortners Sem war ein sensibler und zurückhaltender Sucher. Ortner bewies in der Rolle des Chefarztes indes auch, dass er auch sehr komisch sein kann. Joachim Bauer oblag es, alle anderen Rollen zu gestalten. Die überzeichnete er bis an die Grenzen, so vor allem den italienischen Kneipenwirt mit halbseidenem Hintergrund. Als Amtmann (in der zweiten Vorstellung) verselbständigte sich sein Bart, was er unbeeindruckt wegspielte. Hier ging es nicht um die pedantische Aufrechterhaltung von äußerer Form, sondern um improvisiertes Theater in einem Krankenhaus, bei dem Dilettantismus Bestandteil des Konzepts war.

Komödien sind Komödien, weil in ihnen Konflikte auf komische Weise gelöst werden, was beim Zuschauer immer auch zu einer Befreiung führt. Das ist im Theater Viel Lärm um Nichts nicht wirklich geschehen. Die Bürde des Konfliktes wog schwer und lastete auf den witzigen Dialogen.
Die Annalen berichten, dass das Stück in der Spielzeit 1958/59 das meistgespielte Stück in der BRD war und dass es in einer verknappten, auf Pointen setzenden Fassung (Wolfgang Neuss/Wolfgang Müller) erst an der Berliner Komödie und dann im deutschen Fernsehen mit riesigem Erfolg lief. Es ist, wie im Flyer zur Aufführung zutreffend geschrieben steht, „eine Geschichte aus der guten alten Bundesrepublik“. Doch die gibt es nicht mehr; Land und Leute haben sich verändert.

Vielleicht sind durch die Bewerbung der Inszenierung auch falsche Erwartungen geweckt worden. Bei allen redlichen Bemühungen der Regie und der Darsteller stellte sich das Komödien-Gefühl nicht umfänglich ein. Es blieb eher beim Schmunzeln und die Flucht auf die Milchstraße oder in die Poesie ist vermutlich auch nicht mehr zeitgemäß.

Wolf Banitzki


Kennen Sie die Milchstraße?

Komödie in vier Bildern mit einem Vor- und Nachspiel
von Karl Wittlinger

Mit: Norbert Ortner und Joachim Bauer

Regie: Andreas Seyferth

Theater Viel Lärm um Nichts  FeierAbend! von Margit Carls


 

Dämmerung im Abendland

Das Modell „Erwerbsarbeit“ ist ein Auslaufmodell, soviel ist mal sicher. Nur noch 20% sind im Wert schaffenden Bereich tätig! Die voranschreitende Automatisierung und Digitalisierung setzt immer mehr Arbeitnehmer frei. Haben sie halt Freizeit, sagte dereinst Keynes, und das Wachstum endet. Die Welt ist (zumindest für uns scheinbar) behaglich eingerichtet. Keynes´ Voraussage, dass die Arbeitszeit mit dem Einkommenszuwachs abnehmen werde, da der Mensch seine Bedürfnisse mit dem erzielten Einkommen befriedigen könne, ist schlichtweg Unsinn. Keynes hatte einen wesentlichen Faktor übersehen, nämlich die Gier. Es reicht die Gier einiger weniger, um die Welt aus dem Lot zu bringen, und den Kreislauf „Wachstum“ am Leben zu erhalten. (Gandhi) Gier kennt keine Grenzen und schon gar keine Skrupel. Inzwischen erscheint das Modell „Erwerbsarbeit“ zivilisiert und in einem recht angenehmen Licht. Doch das Wesen von „Erwerbsarbeit“ hat sich keinen Deut verändert. Der „doppelt freie Lohnarbeiter“ (frei von Besitz an Produktionsmitteln und frei von Mitteln zum Lebenserhalt) muss sich selbst, also seine Arbeitskraft auf den Markt tragen und verkaufen. Der Unternehmer reklamiert hernach den Großteil des Ertrags für sich, da er die in seinem Besitz befindlichen Produktionsmittel zur Verfügung stellt. Genau genommen ist das eine Form von Erpressung des Schwächeren durch den (vermeintlich) Stärkeren. Das ist das Wesen von „Erwerbsarbeit“.

Dank eines jahrhundertelangen Arbeitskampfes erscheint die Gesellschaft heute als zivilisiert und die Arbeit als gerecht und zumutbar. Doch spätestens, wenn man sich die Verteilung des Ertrages anschaut, wird deutlich, dass es sich nach wie vor um Ausbeutung handelt, in der 90 % der Arbeitnehmer ausgebeutet werden (selbst die mit sehr gutem Einkommen) und 10 % Unternehmer und Besitzer ausbeuten, eine kleine Schicht, die mehr als 50 % allen Weltbesitzes ihr Eigentum nennt. Ein grundlegendes Gesetz ist dem Kapitalismus immanent: Reichtum ist ohne Armut nicht möglich. Geld verliert an Wert, wenn genug davon da ist. Arbeitslosigkeit, Mangel und existenzielle Nöte sind notwendig, um das kapitalistische System stabil zu halten. Zyniker (Auch Freie Liberale genannt!) sagen dazu: Das regelt der Markt, der nach Angebot und Nachfrage funktioniert.

Die Politik, verzweifelt angerufen vom verunsicherten Bürger, ist dabei kein taugliches Regulativ, denn sie ist „das Machtinstrument der herrschenden Klasse“. (Karl Marx) Es ist aber auch eine Gesetzmäßigkeit, dass, wenn zu viel an materiellem Besitz und an Produktionsmitteln in zu wenigen Händen ist, die Verelendung (nicht nur die materielle, sondern vornehmlich die geistige und moralische) nicht mehr zu stoppen ist, das System sich auflöst und im Chaos auseinanderbricht. Selten ist die Rolle der Politik so peinlich deutlich geworden wie im Moment am Verhältnis der deutschen Regierung zur Automobilindustrie. Das ganze Dilemma ist eigentlich vergleichbar mit dem Klimawandel. Wenn der point of no return  überschritten ist, dann ist Party! Also FeierAbend! So das Motto der satirisch-musikalischen Revue von Margit Carls/Andreas Seyferth im „Theater Viel Lärm um Nichts“ in der Pasinger Fabrik. Also lasst uns feiern! Eine der Grundeigenschaften unserer schönen neoliberalen Welt ist das positive Lebensgefühl. Wer nicht gut drauf ist, ist verdächtig und wer finanziell nicht mithalten kann, wird unsichtbar.

Echter Spaß will indes nicht aufkommen, insbesondere wenn die (exemplarischen) vier Arbeitnehmer aufs Karussell müssen zu „Wir machen eine Reise nach Jerusalem“. „Hire and fire“ ist nach wie vor die Regel, auch wenn Tarifabschlüsse und halbherzige Gesetze zu Gunsten der Arbeitnehmer dies zu verschleiern suchen… Ursachenforschung wird betrieben und die Entstehung von „Erwerbsarbeit“ beleuchtet, die mit der Verarmung der Bauern und die massenhafte Abwanderung in die Städte begann. Industriebetriebe schossen im 18. und 19. Jahrhundert wie Pilze aus dem von Adam Smith und David Ricardo mit ökonomischen Theorien gedüngten Boden, in denen unsägliche Ausbeutung auch und vor allen von Frauen und Kindern stattfand. Videoprojektionen illustrierten diese Fakten schlaglichtartig.

Maria Maschenkas Exkurs über die Arbeit wird mit der Zunge einer Chinesin gesprochen, fächerwedelnd und begleitet von der Unfähigkeit, den Buchstaben R zu sprechen. Es ist nicht einfach, dem zu folgen, denn das Gehirn muss sich erst daran gewöhnen manche L´s in R´s zu übersetzen. Sinn macht es allemal, denn langsam aber sicher kolonisiert die Volksrepublik China die Privatwirtschaften der ganzen Welt. Aber ein noch erstaunlicheres Phänomen geht mit dieser Tatsache einher. Vorgebliche Kommunisten erweisen sich als die gnadenlosesten Kapitalisten, die alteingesessene Kapitalisten mit ihren eigenen Waffen schlagen. Schon Lenin erkannte, dass den Kommunismus nur die Kommunisten verhindern könnten. Gratulation, sie haben es geschafft. Bei den Chinesen reicht es, die Zahl der Milliardäre und Millionäre im Chinesischen Volkskongress zu betrachten, um zu begreifen, dass von diesem Land schon längst keine „kommunistische Gefahr“ mehr ausgeht.

Die satirische Kritik beackert viele Felder, z.B. Religion und die wechselnden Götter. Einer heißt „Digital“. Auch dieser Gott wird enttäuschen, wie alle anderen vorher. Das Bemühen, die Menschheit in Kains und Abels aufzuteilen, das als natürliche Ordnung festzuschreiben und damit die Gewalt zu legitimieren, ist allgegenwärtig. Die Welt hat zu stark in der Illusion geschwebt, wir seien dem Humanismus schon sehr nahe. Wie schnell derartige Positionen sich in Luft auflösen, zeigen die politischen Entwicklungen weltweit. Tyrannen, Potentaten und Diktatoren verkaufen sich als Heilsbringer, mimen die großen Zampanos und erfahren so viel Zuspruch, dass man guten Grund hat, am Verstand der Menschheit zu zweifeln. Demagogie ist ebenso ein Thema, denn sie ist allgegenwärtig. Philipp Weiche zeigte das am Beispiel eines Motivationstrainers. Es ist ein gewaltiges Geschäftsfeld, auf dem enorme Gewinne generiert werden. Die meisten „Produkte“ sind dabei komplett schwachsinnig und man kann nur staunen, dass Menschen dafür ihr in der „Erwerbsarbeit“ hart verdientes Geld ausgeben. Putzig hingegen sind Szenen, in denen Stefanie Dischinger und Melda Hazirci die Probleme als Kleinkinder angehen. Es sind mitunter naiv-kindliche Fragen, die uns die Absurdität der Realität auf verblüffende Weise nahe bringen.

Die Macher versprechen, ihre Überlegungen „in einem bunten Mix theatralisch ‚Revue‘ passieren“ zu lassen. Dabei kommen „erschröckliche Moritaten, Lieder, Sketche – Spaßiges, Trauriges, Gepfeffertes, Absurdes“ vor das Angesicht und zu Gehör. Der Zuschauer sollte dennoch kein lustiges Kabarett erwarten, denn allzu ernst ist mancher Gedanke vor dem Hintergrund „15 Jahre Agenda 2010“, dem größten Sozialabbau nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland. Sie hat viele Mitmenschen in prekäre Lebenssituationen gebracht, denen sie durch vermehrte „Erwerbstätigkeit“ zu entrinnen versuchen und dabei auf das wohl Wichtigste überhaupt verzichten: auf ihr Leben. Es ist definitiv ein zu großes Thema für eine abendliche Revue, dennoch werden „Finger in Wunden“ gelegt und Denkanstöße gegeben, zumeist auf lustige oder komische Weise. Der Livesound von Kai Taschner trug viele Szenen auf ästhetisch stimmige Weise, betonte Wesentliches und forcierte auch Bauchgefühle, auf die nicht verzichtet werden sollten. Das war eine wichtige Qualität des Abends, denn üblicherweise möchte man im Theater eigentlich nicht von seinen Alltagssorgen eingeholt werden. Ein mutiges Projekt und notwendig zugleich. Das Premierenpublikum sah das ebenso.

Wolf Banitzki

 


FeierAbend!  Uraufführung
Eine satirisch-musikalische Revue in Zeiten des Umbruchs 'Weiter so'

von Margit Carls

Maria Maschenka, Philipp Weiche, Stefanie Dischinger, Melda Hazirci
Klangkonzept und Livesound Kai Taschner

Regie Andreas Seyferth