Kammerspiele Werkraum  Unheimliches Tal von UA von Rimini Protokoll & Thomas Melle


 

Sein Sie gegrüßt, Herr Melle 2.0 …

Thomas Melle hat ein Problem. Seine Lesungen laufen immer nach demselben Muster ab und spätestens bei der dritten Lesung mangelt es ihm selbst an Wahrhaftigkeit. Zudem ärgert ihn seine unzuverlässige Gesundheit. Seine psychische Erkrankung, manische Schübe seiner Depression kommen unangekündigt, werfen sein Leben immer wieder durcheinander und er muss die Enthusiasten, die sich auf seine Auftritte und Lesungen freuen, bisweilen enttäuschen. Wie wäre es also mit einem Doppelgänger, einem Roboter, der ihm zum Verwechseln ähnelt und dem diese Aufgabe keinen Verdruss bereiten kann, denn er arbeitet letztlich völlig emotionslos immer nur dasselbe Programm ab.

Die Idee ist sowohl verlockend, wie auch entsetzlich, denn zuallererst wirft sie Fragen auf. Ist das Delegieren unliebsamer Aufgaben tatsächlich ein Mehr an Freiheit? Definieren wir uns nicht über die Gesamtheit unserer Tätigkeiten, auch die Unliebsamen? Was bleibt von uns, wenn wir so viele unliebsame Aufgaben wie möglich abgeben. Frevlerisch behauptet, bliebe von manchen Zeitgenossen gar nichts mehr übrig. Aber ernsthaft, was bedeutet es letztlich, wenn wir die Kontrolle an einen Roboter abgeben, der keinerlei Abweichungen vom Programm, vom Code zulässt. Die Wissenschaft nennt diesen Zustand das „Unheimliche Tal“.

Das Bild, das Melle für den Vorgang wählt, ist in seiner Artikulation erhellend. Seine literarische Arbeit nennt er „Auslagerung“. Teile seines Geistes sind in seine Bücher ausgelagert. Diese Sichtweise ist verblüffend aber logisch. Jetzt gedenkt er Teile seiner Physis auszulagern, in einen Roboter, der dann für ihn herumreist, um die unliebsamen Dinge, weil er über diese nicht permanent die volle Kontrolle hat, zu erledigen. Befremdlich wird es, wenn der Roboter, also das Double des originalen Menschen, auf dieselbe Idee kommt… Also sind Stefan Kaegi und Thoma Melle daran gegangen, eine „Lesung“ zu schreiben und zu inszenieren, die dem Doppelgänger implantiert wurde.

  Unheimliches Tal  
 

 © Gabriela Neeb

 

Wesentliche Inhalte dieser „Lesung“ war die Beschreibung des Produktionsprozesses der animatronischen Kopie. Der Roboter berichtete aber auch davon, dass er sich mit der Arbeit des Informatikers Alan Turing, einer der Väter unseres heutigen Computers, beschäftigt hat. Turing war homosexuell und wurde deswegen zwangstherapiert und zwangsmedikamentiert. Die Hormongaben haben ihn völlig verändert. Seine genialischen Gedanken, die er zur Informatik entwickelte, wurden nur noch durch seine Entdeckungen in der Biologie übertroffen. Diesem Gebiet wandte er sich in seiner zweiten wissenschaftlichen Karriere zu. Dort entdeckte er die Unordnung, die der Materie immanent ist und vor allem deren Schönheit. Zuletzt nahm sich Turing mit einem mit Cyanid vergifteten Apfel das Leben. Inspiriert wurde er dazu von dem Disney-Film Schneewittchen.

Im schwarzen Bühnenraum wurde der Zuschauer von einem leblosen humanoiden Roboter empfangen, der das identische Aussehen des Schriftstellers Thomas Melle hatte. Er saß mit übergeschlagenem Bein auf einem Sessel, gleichsam Teil seines Körpers, der viel Technik enthielt. Neben sich in Reichweite ein Tischchen mit PC. Daneben eine weiße Projektionsfläche. Der Hinterkopf des Roboters war offen, so dass erst gar nicht die Illusion aufkommen konnte, es handle sich um einen von einem Menschen gespielten Roboter. Der Anblick war befremdlich, denn die Ausarbeitung der Gesichtszüge, der Hände und die Konsistenz der Haut und der Haare waren nahezu perfekt. Das Licht ging aus und der Roboter öffnete langsam und kaum merklich die Augen. Dann bewegten sich der Kopf und die Hände und er räusperte sich einige Male mit der Stimme von Thomas Melle, ehe er seinen Vortrag, begleitet von Videoeinspielungen und Bildern auf dem Projektionsschirm, begann.

Eine Performance dieser Art hat immer auch das Ziel, den Betrachter zu verleiten, sich selbst zu beobachten und seine eigenen Empfindungen zu kontrollieren und zu analysieren. Nun ist das Thema humanoide Robotik so groß, dass eine einstündige Vorstellung kaum mehr als eine Ahnung erwecken kann, wie umwälzend eine Realisation sein wird. Wir haben uns dank der Science Fiction Literatur schon lange mit diesen leblosen Wesen umgeben, doch eine reale Begegnung mit einer derartigen Maschine fühlt sich dann doch ganz besonders an. Und das ist es, was diese Arbeit geleistet hat. Eine Ahnung, ein echtes Gefühl war möglich.

Und als die Stunde vorüber war, stellte sich plötzlich die Frage, wem kann ich jetzt applaudieren? Einer Maschine, die abgeschaltet ist? Das wäre ziemlich lächerlich. Auch daran hatten Melle und Kaegi gedacht, denn der Roboter erklärte dem Publikum, dass, wenn sie jetzt applaudieren, es füreinander tun, für das Publikum, das sich hier gemeinsam zu dieser Veranstaltung zusammengefunden hat.

Einmal ketzerisch weitergedacht: Was ist, wenn die Zuschauer im Publikum animatronische Kopien wären, die stellvertretend für Menschen da sind, die sich zwar den Anstrich der Kulturbeflissenheit geben, aber doch lieber am häuslichen TV Gerät der Life-Übertragung eines Fußballspiels folgen?

Wolf Banitzki

 


Unheimliches Tal

von Rimini Protokoll (Stefan Kaegi) & Thomas Melle

Stimme Thomas Melle

Inszenierung Stefan Kaegi

Werkraum  Hellas München von Anestis Azas und Prodromos Tsinikoris


 

Heitere Ambivalenz

Hinter dem Projekt „Hellas München“ verbirgt sich ein Dokumentartheaterabend, in dem vier junge Griechen Rückschau halten auf das Thema Einwanderung von Griechen nach München im Allgemeinen und ihren eigenen Schicksalen als Zuwanderer im Besonderen. Außer Regisseur Prodromos Tsinikoris (Co-Regisseur Anestis Azas) waren die Darsteller Laien, griechische Mitbürger aus München. Der Abend begann mit einer Rückschau, und zwar in die Zeit der beinahe neun Jahre dauernden Befreiungskriege der Griechen gegen das türkische Joch, die ihr Ende im September 1829 fanden und in denen auch prominente Europäer wie Lord Byron ihr Leben ließen.

Von der starken Verbundenheit der Wittelsbacher Landesführung, insbesondere Ludwig I., zeugen noch heute die Propyläen am Münchner Königsplatz als Denkmal für diese Befreiungskriege. Um die Errichtung eines neuen, pro-westlichen Staatsgebildes in Griechenland zu gewährleisten, einigten sich die europäischen Großmächte auf den noch minderjährigen bayerischen Prinzen Otto I., Ludwigs Sohn, als neuen griechischen Monarchen. Er verstand es zwar, den Ausbau der Infrastruktur, des Schulwesens und einer effizienten Verwaltung voranzutreiben, doch den breiten Massen blieben die wichtigsten Grundrechte verwehrt. Erst durch einen Militärputsch 1843, der sich zu einem Volksaufstand ausweitet, bekam das griechische Volk eine Verfassung. Die „Bavarokratie“ wie die Griechen die neoabsolutistische Herrschaft Ottos spöttisch nannten, war keineswegs nur segensreich und bereits unter seiner Herrschaft musste der Staatsbankrott mehrfach durch Finanzspritzen, z.B. aus Bayern, abgewendet werden. Ein zweiter Volksaufstand 1862 beendete Ottos Herrschaft und zwang ihn ins Exil nach Bamberg. Diese Ausführungen wurden gemacht, um einer Verklärung der deutsch-griechischen Geschichte vorzubeugen.

Der Abend „Hellas München“ berichtete davon, dass begabte Griechen um 1830 auf Einladung Ludwig I. nach München kamen, um zu studieren. Sie sollten als Eliten tatkräftig am Aufbau Griechenlands helfen. Allein, sie gingen nicht zurück. Sie blieben und assimilierten sich. In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts gab es eine erneute Einwanderungswelle. Griechische Bürger, Männer wie Frauen, kamen zum einen, um der ökonomischen Not, zum anderen aber auch um der Verfolgung durch das „Obristensystem“ in Griechenland, einer von 1967 bis 1974 andauernden Militärdiktatur, zu entgehen. Telefoninterviews mit ehemaligen Gastarbeitern und Verwandten wurden eingespielt. Allen Interviews war die Sehnsucht nach der Heimat eigen, und wenn ein Teil der Befragten versicherte, zwei Heimaten zu haben, kehrte ein anderer Teil selbst nach fast einem halben Jahrhundert in die alte Heimat zurück. Vierzig Jahre und mehr haben sie in Deutschland malocht und wesentlich am Entstehen des Wohlstands im Land partizipiert. Nun steht wieder eine Generation Griechen vor der Tür des deutschen Reichtums und begehrt Einlass. Sie gehören zur Schicht der „Working Poor“, hochqualifiziert und willig, doch chancenlos. Tränenreich waren die Abschiede, keinesfalls larmoyant die Berichte über die Ankunft. Vier Vertreter dieser Generation gaben Auskunft.

  Hellas Muenchen  
 

Hintergrund: Valantis Beinoglou, Vordergrund: Aikaterini Softs, Prodromos Tsinikoris, Angelos Georgiadis

© Judith Buss

 

Die 1984 in Thessaloniki geborene Aikaterini Softsi ist von Beruf Architektin. Doch in Griechenland wird auch wegen der von Deutschland, insbesondere vom ehemaligen Finanzminister Dr. Schäuble, die Deutschen küren ihn seit vielen Monaten in Folge zum beliebtesten Politiker, geforderten Sparmaßnahmen im Staatshaushalt, nicht mehr gebaut. Der Versuch, ein Restaurant zu betreiben, scheiterte, denn Freunden und anderen Gästen ging langsam das Geld aus für den „Luxus“ eines Restaurantbesuches. Die junge Frau ist eine Kämpferin und in ihrem ersten Job spülte sie 50 Tage lang Teller für einen Hungerlohn, ehe sie an ihrem ersten freien Tag München erkunden durfte. Der erste Schritt in die Freiheit, ihr Arbeitgeber hatte dringend abgeraten, war die (zu ihrer Verwunderung) reibungslose Eröffnung eines eigenen Kontos. Heute hat sie in der Belegschaft des Restaurants, in dem sie mit Begeisterung kocht, eine echte Familie gefunden.

Angelos Georgiadis hat monatelang versucht, in Deutschland Fuß zu fassen. Dabei könnte man meinen, dass das nicht schwer sein sollte als studierter Tourismus-Manager im Land der Reiseweltmeister. Und gerade als ihm sein karges Budget auszugehen und ihn die Verzweiflung zu übermannen drohte, entdeckte er in der Sonnenstraße den Firmennamen “Attika Reisen“. Was hatte er nach zahllosen Bewerbungen und ebenso vielen negativen Bescheiden schon zu verlieren? Er stellte sich vor und ist heute Mitglied der Accountig-Abteilung, glücklicher Familienvater und als Musiker Mitglied der Bands „The Eagle Trail“ und „Mpouat“, der auch seine eigene Musik komponiert.

Valantis Beinoglou stammt ebenfalls aus Thessaloniki und ist ein Jahr jünger als seine Landsfrau Aikaterini. Der studierte IT-Spezialist war einen ähnlich steinigen Weg gegangen, ehe er endlich einen vermutlich recht gut bezahlten, berufsnahen Job bei der Firma „eurotrade“ am Münchner Flughafen fand. Die Tatsache, dass keiner von ihnen über sein Einkommen sprach, wurde als eine echt deutsche Tugend ausgemacht, die sie sich schon zu Eigen gemacht haben. Der Deutsche spricht nicht über Geld.

Das war nur einer der zahlreichen Unterschiede, die an diesem Abend erkennbar wurden. Doch diese zu überwinden scheint möglich. Die drei Protagonisten machten es vor, und zwar mit deutlich mehr Komik, als es die Deutschen tun würden oder könnten. Prodromos Tsinikoris, „dessen Schicksal den umgekehrten Weg gegangen war“, in Deutschland geboren und nun häufig in Griechenland als gut bestallter Theatermacher arbeitend, moderierte auf sehr persönliche und humorige Weise. Dabei wurde nicht für ein Publikum, sondern mit einem Publikum gespielt. Vermutlich waren die einzigen deutschstämmigen Besucher die mit den Pressemappen auf dem Schoß. Man spürte der Veranstaltung an, wie sehr sich die griechische Community, übrigens die größte in ganz Deutschland, in dieser Performance wiederfand. Es war übrigens eine Veranstaltung, die Live ins Internet übertragen wurde und vermutlich von sehr vielen Griechen, nicht nur in Deutschland gesehen wurde.

Dem deutschen Zuschauer wurde einmal mehr bewusst, wie wichtig und wie wertvoll uns die griechisch stämmigen Mitbürger geworden sind. Damit ist nicht der „Griechische Wein …“ – das musikalische „warm up“, bevor sich der Vorhang, in diesem die Folie zum Spiel lüftete, gemeint, sondern ihre Fähigkeit zur Selbstironie, ihre mediterrane Sinnlichkeit, ihr Temperament. Und wenn sie sich am Ende mit einem Lied verabschiedeten, in dem sie die Jugend Griechenlands zum Kommen aufforderten, ihnen zugleich einen satten Burnout und das Erlebnis, seine Zigarette bei Minusgraden vor der Tür des Restaurants zu rauchen versprachen, erlebte man eine seltene heitere Ambivalenz, über die man herzlich lachen konnte.

 

Wolf Banitzki

 


Hellas München

ein Projekt von Anestis Azas und Prodromos Tsinikoris

Prodromos Tsinikoris und den Münchner BürgerInnen Valantis Beinoglou, Angelos Georgiadis, Aikaterini Softsi

Inszenierung: Prodromos Tsinikoris und Anestis Azas

Kammerspiele Werkraum  The Re'Search von  Ryan Trecartin


 

Die vierte Welt

Neben den, durch sozial-ökonomische Kriterien definierten „drei Welten“ - natürlich ist das eine Metapher, denn alle diese Welten sind auf ein und demselben Planeten angesiedelt -, existiert inzwischen eine „vierte Welt“, eine virtuelle. Nein, diese „vierte Welt“ ist nicht das Internet. Das Internet ist nur die Infrastruktur dieser Welt, die langsam und unaufhaltsam Besitz von den Hirnen weltweit ergreift. Die „vierte Welt“ existiert in genau diesen Hirnen und das Internet hat sie erst möglich gemacht. Genau genommen ist die „vierte Welt“ nur die fünfte Dimension der realen Welt, in der die drei Dimensionen, Raum und Zeit nach Gutdünken gegeneinander verschoben, verzerrt und ausgespielt werden können. Die Verhaltensweisen der Bewohner, die gelegentlich extraterrestrisch erscheinen mögen, haben ihre Ursprünge durchaus in der banalen Realität, die, vielleicht sollte das für manchen Erdenbewohner noch einmal erwähnt werden, immer noch da ist. Die Frage, warum diese „vierte Welt“ explosionsartig expandiert und an den Urknall erinnert, liegt einerseits an dem ungebrochenen Drang des Menschen, zu neuen Ufern aufzubrechen, andererseits, und das ist vermutlich die stärkere Triebkraft, an der Tatsache, dass inzwischen dort das richtig große Geld verdient werden kann.

Darum verwundert es auch nicht, dass das theatrale Unternehmen den Namen „The Re'Search“ trägt und eine Marktforschungsanalyse ist. Allerdings nimmt diese keine von außen herbeizitierte Marketingagentur vor, sondern das Individuum, der Bewohner dieser Welt selbst. Er steht unter dem enormen Druck, sich selbst ständig zu optimieren, um wahrgenommen zu werden. Und wahrgenommen werden ist alles in einer Welt in der „I Participate“ oberstes Gesetz ist. Der immense Druck, stets upgedatet sein zu müssen, um den Statusanforderungen zu genügen, verändert die vitalen Funktion. Die Beschleunigung verzerrt die Stimmen, zerstört die Syntax und formiert sie nach neuen Gesetzen, dynamisiert die Gestik und die Mimik. Die Farben, Formen und die Bewegungen werden signalträchtiger. Was einst als psychotisch wahrgenommen wurde, ist in dieser Welt natürliche Realität. Die Technik macht es möglich. Ganz (ursprünglich) weltlich bleiben indes die Ziele: Sehnsucht nach Liebe, Geborgenheit, Sicherheit etc. Allein, die Mittel sind drastisch: Selbstmorddrohungen, Selbstzerstörung, sexuelle Grenzüberschreitung, ja, sogar das Vorspielen völliger Verblödung (JayJay Jackpot – eine sehr effiziente Marketingidee).

  The Research  
 

Julia Riedler, Brigitte Hobmeier, Thomas Hauser

© Julian Baumann

 

Ryan Trecartin, 1981 in Texas geboren, gehört inzwischen zu den einflussreichsten Künstlern seiner Generation. Sein Rohmaterial baut er in den Chatrooms der „vierten Welt“ ab und erschafft daraus Samplings, die die Wesenhaftigkeit dieser Welt bloßlegen und sie offenbaren. Dabei denunziert er nicht, sondern verdeutlicht. Verständlich wird dieser Gedanke, wenn sich der Besucher der Theatervorstellung zuvor in das dritte Untergeschoss des Neuen Hauses der Münchner Kammerspiele begibt, wo eine Multimedia-Installation des Künstlers aufgebaut ist. In zwei Räumen flimmern Videos über große Screens, eingebettet in Versatzstücken der Post-Internet-Welt. Die Videos sind wegen der Schrillheit, der harten Schnitte und des Tempos schwer auszuhalten, vermitteln aber einen nachhaltigen Eindruck davon, wie hart das Leben derer ist, die in dieser virtuellen Welt leben (wollen oder müssen).

Ryan Trecartin schuf mit „The Re’Search“ ein lyrisch anmutendes Werk, das in seiner Form so neu gar nicht ist. Schon Ernst Jandl zelebrierte mit seinen onomatopoetischen Gedichten eine nicht immer vordergründig sichtbare Welt, nämlich die des Unterbewusstseins. Felix Rothenhäusler inszenierte den auch in grafischer Hinsicht hochinteressanten Text mit Brigitte Hobmeier, Julia Riedler und Thomas Hauser. Die Theatervorstellung begann allerdings bereits eine Stunde vor dem Auftritt der Darsteller mit einer Lichtinstallation von Matthias Singer. Was man Anfangs, bei dem verzweifelten Versuch, das Programmheft zu lesen, für eine technische Störung halten konnte, erwies sich als wohldurchdachtes Konzept. Die Lichtbänder an der Decke suggerierten Datenströme und erinnerten in ihrem Rhythmus an die LED Lichter eines Routers. Die Bühne von Jonas von Ostrowski bestand aus einer leeren Spielfläche mit einer Spiegelrückwand. Da das Licht während der Vorstellung nicht heruntergefahren wurde, hatte der Zuschauer auch sich selbst ständig im Blick.

Sechzig Minuten lang brannten die drei Schauspieler ein sprachliches, mimisches und körperliches Feuerwerk ab. Allein die Detailvielfalt der gestischen Varianten war schwer fassbar. Noch schwieriger war indes der Text, denn es gab kaum eine nennenswerte Geschichte, noch einen sprachlichen common sense. Das Sprachmaterial wurde unentwegt in seine Einzelteile zerlegt, woraus sich verblüffende Ausdrucks- und erstaunliche Inhaltsvarianten ergaben. Zudem hatte  Felix Rothenhäusler seiner Inszenierung eine posenhafte Infantilität unterlegt, die an Mangafiguren erinnerte. Dennoch waren die Texte mit hochkarätigen Begriffen gespickt, die nicht Bestandteil der normalen Alltagsprache sind. Das ist insofern kein Widerspruch, weil unsere Sprache tagtäglich Zuwachs bekommt aus der Computersprache. Die Darsteller waren dank der Spiegel rundum sichtbar. Ihre Körperlichkeit spielte als Ausdrucksmittel eine sehr große Rolle und alle drei Darsteller brillierten gleichermaßen. Es war eine echte Augenweide!

Sechzig Minuten lang konnte der Zuschauer in fantastischem Schauspiel schwelgen, wie man es seit der letzten Spielzeit an den Kammerspielen nur noch selten zu sehen bekommt. Es hat sich sicherlich schon herumgesprochen, dass Brigitte Hobmeier genau wegen dieses Mangels an darstellerischen Herausforderungen die Kammerspiele verlassen wird. Erlebt man sie in dieser Inszenierung, wird schmerzhaft deutlich, welchen Verlust das Haus und die Zuschauer erleiden werden.

Diese Inszenierung ist eine künstlerische Punktlandung, in der einfach alles stimmte. Sie ist durchaus auch geeignet für Zuschauer, die in ihrem Smartphone noch ein Telefon sehen, auf dem man auch Kurznachrichten verschicken kann. Der ästhetische Genuss wird sie nicht nur versöhnen mit dem Thema, er wird sie unterhaltsam und nachdrücklich auf eine Zukunft vorbereiten, die sich momentan noch der Vorstellungskraft der meisten Mitbürger entzieht. Und genau das sollte Theater leisten.


Wolf Banitzki


The Re'Search   

von  Ryan Trecartin

Brigitte Hobmeier, Julia Riedler, Thomas Hauser

Inszenierung: Felix Rothenhäusler

Kammerspiele Werkraum  Nachts, als die Sonne für mich schien von Uisenma Borchu


 

Der schale Geschmack der Vergeblichkeit

Mit „Schau mich nicht so an“ debütierte Uisenma Borchu als Filmregisseurin und wurde dafür 2016 mit dem Bayerischen Filmpreis ausgezeichnet. Sie kam nun dem Angebot nach, ein Projekt auf der Bühne (Werkraum) der Münchner Kammerspiele zu realisieren. Es scheint beinahe unausweichlich zu sein, dass die Künstler dieser Generation (Uisenma Borchu wurde 1984 in Ulan Bator geboren.) als allererstes sich selbst inszenieren und ihre eigene Geschichte erzählen. Immerhin hat Uisenma Borchu eine Geschichte, die zwei Jahre vor dem Fall der Berliner Mauer begann. Da nämlich reiste sie gemeinsam mit ihrer Familie aus der Mongolei in die DDR ein. In der DDR galt das von der Partei verordnete Prinzip der Völkerfreundschaft und so wurden die Genossen aus anderen Ländern offiziell stets sehr freundlich empfangen.

Selbstredend gab es in der Bevölkerung der DDR eine Vielzahl von Ressentiments, zu denen die natürliche Angst vor und Abneigung gegen das vermeintlich „Fremde“ ebenso gehörte, wie der Neid, denn es gab auch Zuwanderer, die zumeist nur temporär in der DDR blieben, die mit ihren Reisedokumenten in das „nichtsozialistische“ Ausland reisen konnten, wie zum Beispiel Studenten aus Mali, Arbeiter aus Jugoslawien oder Kommunisten aus Indien.

Es war ebenso natürlich, dass diese Ressentiments nach dem Mauerfall offen ausbrachen und zu Ausschreitungen wie denen in Rostock-Lichtenhagen oder Schwedt an der Oder führten. Soziologen und Historiker hätten davor warnen können, haben es aber zumeist nicht getan, weil sie sofort als „Nestbeschmutzer“ abgetan wurden. Folglich glaubte man willig an die Verheißungen der Politik und an die Vision von den „blühenden Landschaften“. Uisenma Borchu schlug in dieser Zeit ein kalter Wind ins Gesicht, was für ein Kind natürlich um ein Vielfaches beängstigender und verunsichernder war, als für einen erwachsenen Menschen mit Lebenserfahrungen. Erster Ansprechpartner war der Vater, der ihr gesunde Selbstbehauptung zu vermitteln suchte. Die Konflikte waren damit aber nicht aus der Welt zu schaffen.

  Nachts als die Sonne  
 

Uisenma Borchu, Lea Johanna Geszti

© Josef Beyer

 

Mit ihrer Geschichte erzählte Uisenma Borchu keine neue und sie tat es auch nicht auf besonders interessant oder fesselnde Weise. Die von ihr verfassten Texte waren spröde, nicht selten plakativ und gelegentlich poetisch, wobei die Poesie auf recht verlorenem Posten stand. Die Zweidimensionalität war nicht förderlich, tiefere Einsichten zu transportieren oder Aufklärung zu leisten. Vielmehr geriet vieles sehr eitel, wenn Uisenma Borchu mit ungeschulter Stimme, dilettantischen Texten, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, über das Mikroport hauchend, betont nachdrücklich über die Bühne schwebend, ihre ureigene Geschichte erzählte, die ohne Frage eine unschöne, aber doch wahrlich keine seltene und damit exemplarische war. Es war nicht mehr als eine weitere Wortmeldung zum Thema Ausländerfeindlichkeit, ein Thema, das momentan sämtliche andere Themen stark in den Hintergrund treten lässt und das eigentlich nur einer Gruppe unserer Gesellschaft in die Hände spielt, nämlich den Ausländerfeinden und deren Mitläufer. Es sei noch einmal mit Nachdruck darauf verwiesen, dass in Deutschland 87 % der Wahlbürger eindeutig Flagge gezeigt haben und sich zur Demokratie bekannten.

Zumindest ästhetisch war ein deutliches gestalterisches Bemühen zu erkennen, denn Uisenma Borchu, die, wie bereits erwähnt, als Erzählerin und als heutige Uisenma Borchu durchgängig auf der Bühne war, wurde gleichsam lebendig und raumgreifend von Lea Johanna Geszti als Schulmädchen Uisenma gespielt, die allerdings den vielen Anfeindungen sehr introvertiert und defensiv begegnete, vermutlich, weil ihr wenig Argumentatives an die Hand gegeben war. Es blieb überwiegend bei Befindlichkeiten. Wenn sie in ihrem kindlichen Drang emotional dekompensierte, im positiven, wie im negativen, dann zumeist an die Adresse des Vaters gerichtet. Auch der war doppelt auf der Bühne, in Person des Malers Borchu Bawaa und in der Person Christian Löbers, der den Vater der späten 80er und frühen 90er Jahre spielte. Uisenma Borchus Ansatz war es, dem Vater über seine Malereien auf der Bühne Statements zu seinem damaligen Seelenleben abzuringen. So entstand in den 70 Minuten ein großes Gemälde zum Thema „Wende“. Christian Löber, ein Schauspieler mit enormer Präsenz und magischem Spielvermögen, wirkte nicht selten, als würde er improvisieren. Das erweckte den Anschein, dass er von der Regie nicht hinreichend aufgeklärt worden war, in welche Richtung sich die Figur letztlich entwickeln sollte.

Sehr befremdlich wirkte die Darstellung der Lehrerin, die einzige gesellschaftliche Person, der die mongolische Familie in der deutschen Realität in der Aufführung gegenübergestellt wurde. Araba Walton, selbst farbig und eine sehr attraktive Frau, fiel die Rolle zu, den „hässlichen Deutschen“ zu geben, der sich beispielsweise darüber beschwerte, dass viele Landsleute arbeitslos seien, während die Ausländer Festanstellungen hatten. Die teilweise kryptischen Texte dieser Figur erzeugten eine Unschärfe, hinter der sich latent faschistoides Gedankengut, aber auch sehnsüchtige Verunsicherung und Verzweiflung verbergen konnte. Diese Unschärfe blieb bis zum letzten Augenblick und war möglicherweise sogar gewollt. Ahnungen und Spekulationen hielte das Stück offen und vermieden ein letztes Urteil.

Diese inhaltliche Offenlassung deckte sich mit der in der Werbung zum Stück formulierten Fragen: „Ist die Zeit, ist die Vergangenheit wieder einzuholen? Und kann man dadurch dem Rätsel, wer man ist, auf die Spur kommen?“ Auf Antworten wartete man vergeblich und ohne Antworten blieben auch deutliche Haltungen außen vor. Schade, denn der schale Geschmack der Vergeblichkeit war das letzte Gefühl beim Verlassen des Werkraums.

Wolf Banitzki

 


Nachts, als die Sonne für mich schien

von Uisenma Borchu

Araba Walton, Borchu Bawaa, Christian Löber, Lea Johanna Geszti, Uisenma Borchu

Regie: Uisenma Borchu

Werkraum La Somnambula nach der Oper von Vincenzo Bellini und Felice Romani


 

Bellini kurios im Werkraum

Vincenzo Bellini, 1801 in Catania (Sizilien) zur Welt gekommen, war die vollkommene künstlerische Entfaltung nicht vergönnt. Dreißigjährig hatte er mit „La Somnambula“ (Die Nachtwandlerin), in weniger als zwei Monaten komponiert, und mit „Norma“, im selben Jahr uraufgeführt, seinen stürmischen Durchbruch. Zwei Jahre später lebte er im Zentrum der europäischen Oper, in Paris, umgeben von bedeutenden Zeitgenossen wie Berlioz, Rossini, Donizetti, Meyerbeer oder Offenbach. Mit „Il Puritani“ (Die Puritaner) gelang Bellini 1835 ein letzter beachtlicher Erfolg. Am 24. September desselben Jahres verstarb er, nicht einmal vierunddreißigjährig. Das Libretto zu „La Somnambula“ stammte von Felice Romani (1788-1865), der annähernd 100 Libretti verfasste und nebenher französische Literatur in seine italienische Muttersprache übersetzte.

Die Geschichte von „La Somnambula“ ist in einem abgelegenen Gebirgsdorf angesiedelt, sichtbares Zeichen dafür, dass das Biedermeier Einzug hielt in die italienische Oper. Die schöne Amina und der wohlhabende Bauer Elvino wollen heiraten. Die Verbindung wird von Lisa, Wirtin der Dorfschenke neidisch missbilligt, da sie selbst in Elvino verliebt ist. Rodolfo,  der neue Schlossherr trifft nach langer Abwesenheit im Ort ein, macht der schönen Amina augenblicklich den Hof und erregt so Elvinos Eifersucht. Amina, sie ist Schlafwandlerin, gerät in ihrer Umnachtung in das Gastzimmer Rodolfos, der im Wirtshaus von Lisa Quartier genommen hat. Dort wird sie von den Dorfbewohnern entdeckt und von ihrem Verlobten Elvino verstoßen. Die Versöhnungsversuche des Grafen fruchten nicht und Elvino ist fest entschlossen, Lisa zu ehelichen. Als auch diese Verbindung in Gefahr gerät, weil Lisa Treulosigkeit vorgeworfen wird, erscheint Amina erneut schlafwandelnd auf einem Dach und gesteht Elvino ihre Liebe. Es kommt zur Versöhnung und zur Hochzeit.

Bellinis Musik ist von außerordentlicher Sanftheit und Melodik. Volkstümliche Elemente und ein gefühlvoller Belcanto lassen die Oper im Lichte einer natürlichen Schlichtheit erscheinen, die sogar Richard Wagner beeindruckte. Die Rolle der Amina ist seit der Uraufführung in der Mailänder Scala Dank der Interpretation durch Giuditta Pasta eine Paraderolle für jeden lyrischen Koloratursopran. Dass der ungarische Regisseur David Marton nicht Bellinis Oper in ihrer ursprünglichen Form auf die kleine Bühne des Werkraums bringen würde, war vorauszusehen. Was er allerdings aus diesem Werk machte, überraschte in jeder Hinsicht. Glaubte man beispielsweise, das tradierte Rollenspiel von Schauspielern an den Münchner Kammerspielen und das Erzählen einer in sich geschlossenen Geschichte habe sich vorerst erledigt, am Uraufführungsabend wurden die Zuschauer eines Besseren belehrt. Soviel kann bestätigt werden: David Marton erzählte die Liebesgeschichte von Amina und Elvino annähernd so, wie es bereits Bellini und Romani taten. Doch Marton trieb zwischendrin seltsam verwirrende Spiele. So unterbrach Michael Wilhelmi das Spiel immer wieder, um dem Publikum eine krude physikalisch-metaphysische Theorie von der Liebe zwischen Mann und Frau zu vermitteln, die er allerdings nie wirklich endgültig durchdacht hatte. Nebenher faszinierte der studierte Mathematiker, Logiker und Philosoph mit einem furiosen und nahezu akrobatischen Spiel unterschiedlichster Tasteninstrumente und sogar eines Spielautomaten. Er verkörperte im Stück allerdings keine konkrete (Bellinische) Rolle, ganz im Gegensatz zu Paul Brody mit seiner Trompete. Er gab, englischsprachig oder aber durch seine Trompete virtuos sprechend, den Grafen Rodolfo. Der dritte Musikant im Spiel war Daniel Dorsch, der, wenn er nicht gerade Klänge erzeugte, wie ein Wiesel auf der Bühne herumfegte und dadaistisch alles, auch das nicht Vorhandene oder für das Publikum nicht Wahrnehmbare, dirigierte.

La Sonnambula
 

Hassan Akkouch, Jelena Kuljić, Yuka Yanagihara

© Gabriela Neeb

 

Jelena Kuljić brillierte nicht nur als Schauspielerin in der Rolle der immer wieder zurückgewiesenen Wirtin Lisa, sondern auch mit ihrem unter die Haut gehenden Jazzgesang. Als Lisa war sie der weibliche Gegenpart zu Yuka Yanagiharas Amina. Sie war genau die lyrische Sopranistin, die Bellinis Amina sein sollte. Darüber hinaus hatte sie wunderbare Momente differenzierten und anrührenden Schauspiels, beispielweise, als sie den Gesang ihres Geliebten Elvino, gespielt von Hassan Akkouch, mimisch durch die Scheiben eines Glashauses begleitete. Akkouch hatte seinen großen Augenblick in einer sehnsuchtsvollen Liebesszene mit einem Plattenspieler.

Christian Friedländers Bühne bestand aus einer Vorderbühne, die Gastraum, Konzerthalle und Spielfläche war. Rechts befand sich ein Glashaus, das einen Garten in sich umschloss und das ein Refugium der Jungfräulichkeit für Amina vorstellte. In einer anderen Szene wurde es allerdings auch zu dem sprichwörtlichen Glashaus, in dem man nicht mit Steinen werfen sollte, wenn man drinsitzt. Dahinter, quasi als zweite Etappe, befand sich der Tresen des Wirtshauses mit Spielautomat und ein Durchbruch in der Rückwand gab den Blick in das Gastzimmer, Wohnstatt Rodolfos, frei.

So variabel wie das Spiel der Darsteller, die sehr agil die Räume durchmaßen, war auch die Musik. Original Bellini-Oper aus der Konserve wurde von Klanginstallationen abgelöst oder von Improvisationen aufgelöst. Ein und dieselbe Arie wurde von Yuka Yanagihara im Belcanto gesungen, im nächsten Augenblick von Jelena Kuljić als Jazzvariante wiederholt. Michael Wilhelmi begleitete wohlanständig auf dem Flügel, auf der elektronischen Orgel oder auf dem Cembalo, löste die Melodien im nächsten Augenblick spontan auf, führte sie ins Klangchaos und wieder zurück in die bekannten Harmonien. Er durchsetzte lieblichste Melodien unerwartet mit absurd-komischen Dissonanzen. Es war schlichtweg eine Ohrenweide.

Und so, wie die musikalische und gesangliche Darbietung begeisterte, riss auch das Spiel der Darsteller mit. Eine Überraschung jagte die nächste. Eine Fülle von Regieeinfällen, überwiegend komischen, ließ die eine Stunde und fünfundvierzig Minuten wie im Fluge vergehen. Als sich das Paar schlussendlich in den Armen lag, brach frenetischer Applaus los. Völlig zu recht und hochverdient.

Wolf Banitzki

 


Opernhaus präsentiert: La Somnambula

nach der Oper von Vincenzo Bellini und Felice Romani

Hassan Akkouch, Jelena Kuljić, Yuka Yanagihara, Michael Wilhelmi, Paul Brody, Daniel Dorsch

Inszenierung: David Marton