Einstein Kultur 36 Stunden – Die Geschichte vom Fräulein Pollinger nach Ödön von Horvath
Diesseits der Illusionen
Die Vermarktung des Natürlichen erfolgte in nur 36 Stunden. Erdgeschichtlich sind es wenige Augenblicke in denen eine Spezies die vielfältigen Reichtümer des Planeten für sich und einen zerstörerischen Hype nutzten. Die Erde trug es für einen Moment mit Gelassenheit, hielt still, während die Illusion von kapitalem Recht tobte. Doch nun wendet sie das Kraftfeld und die Natur beginnt die nächsten Tage zu dominieren.
Ödön von Horvath schrieb den Roman „36 Stunden – Die Geschichte vom Fräulein Pollinger“ im Jahre 1928. Es war die Zeit einer Weltwirtschaftskrise, eine Zeit von fortschreitender Industrialisierung und dem Aufkommen neuer Ideologien. Das zunehmende Kleinbürgertum mit seinen alltäglichen Problemen stand im Mittelpunkt von Horvaths Schaffen. Nach dem 1. Weltkrieg war Anna Pollinger erst Halbwaise, wenig später Vollwaise. Sie kam bei ihrer Tante in München unter, die ihr zu einer Stelle in einer Schneiderei verhalf. Immerhin Arbeit, die sie jedoch wieder verliert. Vor dem Arbeitsamt begegnet ihr Eugen Reithofer mit dem sie einen Spaziergang zur Ulme auf dem Oberwiesenfeld macht. Und hier beginnen die 36 Stunden, die ihr das Leben offenbaren. Horvath zeichnete klare Portraits seiner Figuren, in klassischer Manier und doch deutlich von ihrer Zeit geprägt. Die Ironie des Schicksals leuchtet überall und ungebrochen, vor allem auch durch Horvaths Sprache.
Die Bühne im Keller des Einstein Kultur war der geradezu ideale Rahmen für die Umsetzung des Romans. Allgegenwärtig die unverputzten Ziegelwände als Sinnbild für Realismus. Rechts im Vordergrund ein schwarzer Flügel, ein Mann mit schwarzem Hut und ein Cello. Immerhin sind es die Gefühle, künstlerisch eingefangen in Musik, die stets mitschwingen und eine der unzähligen Ebenen füllen. Neben der eisernen Türe in der Mitte ein Paravant, als Synonym für Schutz und persönlichen Raum. Doch die Schauspieler breiteten die Figuren vor dem Publikum aus … "sonst hätten sie das Reden nicht erlernt" … Mit klarer wunderbar kultivierter Sprache überzeugten sie. Karoline Schragen gab die erste Erzählerin und führte mit wenigen Sätzen in Zeit und Geschichte. „Sarajewo … wer kennt Sarajewo?“ Danach überbrückt e sie die Stunden mit wenigen Worten. Janine Friedrich und Peter Lichteneber vollzogen im Spazieren einen Kreis, bis sie unter der projizierten Ulme einander näher kamen. Fräulein Pollinger, ein Wesen, das nach menschlicher Nähe sucht und vom Hamsterrad des Schicksals aufgenommen wird. Herausgestellt wurden ihre Eigenschaften von den vier verschiedenen Schauspielerinnen. Karoline Schragen als die Sensible, Janine Friedrich als die Naive, Lena Albrecht als die Laszive, Anna Diermann als die Lebensmutige. Ausgewogen hatten der Regisseur Herbert Fischer und die Gruppe Dialoge aus dem Roman entnommen und an der einen und anderen Stelle mit aktuell zeitgemäßen Wendungen ergänzt. „Wenn du keine Protektion nicht hast, wenn du keinen Regisseur nicht kennst, dann bist du halt nicht auserwählt.“ Soviel zur Szene im Milieu, wohl jeder.
Unterstützt wurden die neuen SchauspielerInnen vom bereits bekannten Maximilian Allgeier, der einen harten belehrenden Kastner und einen höchst selbstgefälligen Harry gab. Der wollte für ein Schnitzel mit Gurkensalat seine Ansprüche beglichen wissen, auf einer Bank im Forstenrieder Park mit der Aufschrift „Nur für Erwachsene“. Zwei Versionen dieser einen Szene wurden erspielt. Prostration, das heißt starke Erschöpfung die den Kniefall, wegen Mangel des Notwendigen, vor dem Geld fordert. Das ist seit … so und ein probates Mittel Macht zu demonstrieren, wo Interesse fehlt.
Die entgegengesetzen Rollen des arbeitslosen Eugen Reithofer und des exaltierten Malers Lackner verkörperte wendig Peter Lichteneber. Eugen Reithofer, ein wirklich netter Kerl, der Anna Pollinger zu einer Stelle in einer Schneiderei vermittelte, allerdings forderte der neue Chef einen zusätzlichen Preis. Es ist und bleibt eine unübersichtliche Gemengelage, das Leben. Aus ihr versucht jeder seinen Vorteil zu ziehen.
In einer Szene trat er auf: Der scheinbar „selbstlose“ Freund, der doch nur das System bedient, indem er einem anderen Ausgleich verschafft und somit Zuhälterei betreibt. Die Scheinheiligkeit mit der dies auf vielen Ebenen betrieben wird, um sich „Selbst“ freizustellen und zu erheben, wurde in den Religionen legitimiert. Doch diese sind nur Ersatzhandlungen in ein und demselben System, in dem sich mancher mit dem Mantel der Illusion vom „Guten“ bedeckt, um doch nur sich „Selbst“ hervorzuheben. Denn alles, ausnahmslos alles, geschieht durch die Übertragung von Bildern (Informationen). Dass eine stillhält, wenn der andere seine Kapazitäten ausbreitet. Dass einer stillhält, wenn eine andere ihre Kapazitäten ausbreitet. Prostitution– vermarktete Darbietung des natürlichen Überlebenstriebes – zur Vervielfältigung und Gestaltung in einem dynamischen Prozess.
Die Natur lässt sich kultivieren, doch niemals überwinden.
Im Humanismus gelang dies auf eine, der Natur entsprechende und doch über sie hinausgehende Weise. Weltbild und Haltung basierten auf der Verteilung von Rollen, Lebenskonzepten, die durch das Theater verbreitet und gepflegt werden. Auf Erkenntnis kann so Besinnung folgen.
Die Inszenierung des Projektes um Fräulein Pollinger durch die Absolventen der Neuen Münchner Schauspielschule bot mit der Vermischung von Erzählung und Dialog aus dem Roman, partiell begleitet von Jakob Roters mit individuell kreierten Tönen und Musikpassagen, und einer wechselnden Rollenverteilung modernes Theater. Eine Figur ist eine Figur und doch viele andere zugleich in einem Leben. Dies darzustellen gelang den neuen SchauspielerInnen künstlerisch differenziert, überzeugend. Es war der Beginn ihrer 36 Stunden.
C.M.Meier
36 Stunden – Die Geschichte vom Fräulein Pollinger
nach Ödön von Horvath
Fassung: Gemeinschaftsprojekt der Abschlussklasse der Neuen Münchner Schauspielschule unter der Leitung von Herbert Fischer Lena Albrecht, Anna Dietmann, Janine Friedrich, Karoline Schragen, Peter Lichteneber, Maximilian Allgeier Regie: Herbert Fischer
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Forum 2 Der Lügner von Carlo Goldoni
Die Lüge, das Thema der Zeit
1750 schrieb Carlo Goldoni, der das italienische Stegreiftheater der Commedia dell’arte weiter entwickelte, die Komödie „Il bugiardo“. Blickt man 265 Jahre danach auf das Thema, so scheint kein einziger Tag zwischen der Entstehung und der Aufführung durch die Theatergrupppe Brett-á-Porter vergangen. Weder die Lüge, noch die Liebe haben ihren Reiz verloren und der Aberwitz des Lebens treibt unbeeinflusst von Moral und Gesetz seine Blüten. Ja, er wuchert geradezu auf vielen Ebenen.
In Venedig, der romantischsten aller Städte wird Rosaura, die Tochter des Doktors, von Florindo verehrt. Doch Florindo ist zu schüchtern um sich zu offenbaren und seine verdeckten Annäherungen schaffen Raum für den gewitzten Lelio. Und der versteht es geschickt und charmant sich nicht nur in Rosauras Herz zu schwindeln. Amélie Fleur Henke spielte mit bemerkenswerter Präsenz den geübten Lügner, der, nie um eine überraschende Wendung verlegen, das Geschehen in seinem Sinn zu nutzen verstand. Um diese, Degen und Stöckelschuhe tragende Figur drehte sich wahrhaft das Geschehen. Und Florindo, Julian Tresowski, hätte sich zurückhaltend mit dem Satz „Wahre Liebe blüht im Verborgenen“ beinahe selbst verraten. Wäre da nicht der launige Brighella (grandios gestikulierend Paul Argyropoulos) gewesen, so zögerte der junge Florindo wohl heute noch. Seine Angebetete Rosaria (Anne-Katharina Bansemir) wirkte nicht nur durch die geflochtenen Zöpfchen herrlich naiv. Während ihre Schwester Beatrice (gespielt von Paul Argyropoulos) vorführte, dass Männer doch die besseren Frauen sind. Doch der brave Ottavio verehrte sie mit dem reinsten moralischen Anstand, den Elisabeth Treffler zum Besten geben konnte. Heinrich Blank lispelte sich als vom Leben gebeugter Pantalone, Kaufmann und Vater des Lelio, klischeehaft typisierend durch die Lügenwelt. Immer der Wahrheit hinterher schlurfend. Arlecchino, der Diener Lelios, wurde höchst lebendig, neugierig und doch eingängig von Doris Gruner verkörpert. Ihre maßvollen Überspitzungen sorgten für besonderes Vergnügen. Regisseurin Urte Regler war eine ausgewogene Inszenierung gelungen, in der das Ensemble seine Stärken in abwechslungsreicher Weise entfaltete.
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Amélie Fleur Henke, Heinrich Blank
© Brett-à-Porter
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Die typischen Charakterzüge der Figuren stellte Goldoni in den Mittelpunkt der Werke, damit nahm er ihnen die schützende Maske der Anonymität, stellte sie bloß. Arlecchino der Diener, der um zu überleben jeden Schachzug mitmacht, sich anpasst, so wie es von Mitarbeitern heute verlangt wird. Pantalone der Kaufmann, der um rechtmäßige Anerkennung, wahrhafte Tatsachen ringt, um seine Geschäfte voran zu bringen. Der Doktor, den das Wohl der Menschen und seiner Töchter zu einem Spagat zwischen Überzeugung und Möglichkeit zwingt. Die junge Rosaura, die leicht zu betören dem Geschwätz hübscher Phrasen folgt, wie die Werbung sie verbreitet. Und Lelio der Lügner, der „Ausbund an geistreichen Einfällen“, mit denen er den geraden langweiligen Pfad des Lebens würzt. Die vorsetzliche Absicht der Täuschung zu erfahren, ist aktuell in jeder Bank möglich, daran ändert auch der dort verstäubte Glaube an das Gute wenig. Wie in der Commedia dell’arte ziehen sich die Figuren und Namen durch seine im Laufe des Lebens entstanden 150 Theaterstücke, gleich der Vererbung von Eigenschaften in der Tradition.
Erst wenn der Mensch erkannt hat, dass er immer nur sich selbst belügt, täuscht, und die Lüge stets auf ihn zurückfällt, wird er vielleicht beginnen die Dimension des Lebens zu erfassen. Wie schrieb schon Bertolt Brecht „Denn für dieses Leben / ist der Mensch nicht anspruchslos genug / drum ist all sein Streben / nur ein Selbstbetrug.“ Und man selbst bestimmt die fantastische Dichte zwischen Realität und Illusion. „Ihre Lügen sind fast wahr.“ , so Carlo Goldoni. Und, „die dumme Ehrlichkeit“ zwingt den Menschen höchstens vor neue Herausforderungen.
Das Theaterstück zeigte auf höchst unterhaltsame Weise, wie Mensch sich im Spiel versucht. Denn beim Happy End der Komödie bricht es ab und die folgenden Bilder, bei aller Liebe, werden ebenso bunt wie die voran gegangenen. Im Schlussbild und dem gemeinsam vorgetragenen Lied fand dies wahrheitsgemäß Ausdruck. Bei allem Ernst des Lebens, die Momente der Heiterkeit überwogen auf der Bühne. Das Publikum zollte dafür den verdienten begeisterten Applaus!
C.M.Meier
Weitere Vorstellungen: ...
Der Lügner
von Carlo Goldoni
Amélie Fleur Henke, Doris Gruner, Anna-Katharina Bansemir, Julian Tresowski, Elisabeth Treffer, Paul Argyropoulos, Heinrich Blank, Petra Wiese, Sabrina Schlenke, Hans Weiss Gitarre: Hermann Fuchsberger
Regie: Urte Regler
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