Residenztheater Der Weibsteufel von Karl Schönherr


 

 

Von der Kunst, ein alpenländisches Gemälde zu malen

Drei Menschen geraten in einen Strudel der Leidenschaften, ein Mann, sein Eheweib und ein junger Grenzjäger. Der Mann ist Schmuggler. Doch seit einiger Zeit ist ein junger ehrgeiziger Grenzjäger im Revier stationiert, der den Schmugglern wie ein Terrier an den Fersen klebt. Das ist umso ärgerlicher, da dem Mann nur noch einige wenige Grenzgänge genügen würden, um das lang ersehnte Haus am Marktplatz kaufen zu können. Er hatte es seiner Frau versprochen, die sich nichts sehnlicher wünscht, als endlich den „Fuchsbau“ oben am Berg verlassen und in der Gemeinschaft mit anderen Menschen leben zu können. Sie lebten bislang unaufgeregt, ohne Streit, aber auch ohne nennenswerte Glücksmomente. Ein Kind blieb ihnen versagt, was, wie sich später herausstellt, eine große Belastung für die Frau ist. Der Mann ist nicht gerade der Stärksten einer. Ganz im Gegensatz zum jungen und kräftigen, groß gewachsenen Grenzjäger, der schon bald ein Auge auf die Frau wirft. Der Ehemann bemerkt es. Er sieht seine Chance und fordert die Frau auf, dem Grenzjäger schöne Augen zu machen, ihn in der Hütte zu umgarnen und so aus dem Verkehr zu ziehen. Das dürfte einer Frau nicht schwer fallen, meint er. Der Plan geht auf, zumindest der des Ehemanns. Der Grenzjäger möchte seine Pflichten nicht aus den Augen verlieren, hat sich aber inzwischen in die Frau verliebt. Die Macht der Liebe führt ihn auf Abwege. Er ruiniert seine berufliche Existenz, denn er zeigt das Schmugglerehepaar nicht an. Der Mann hat inzwischen entdeckt, dass nicht nur der Grenzjäger seiner Frau, sondern auch seine Frau dem Grenzjäger verfallen ist. Ein Ausweg ist nicht in Sicht und die Frau begreift, dass sie lediglich Spielball der Interessen zweier Männer war. Doch sie ist nicht bereit, das Spiel mitzuspielen. „Zuerst habt ihr mich aufgerissen bis auf den Grund, und jetzt möchts ihr mich wieder zudrehn, wie einen Wasserhahn. Aber mich fangts nimmer ein.“

Ort der Handlung ist die Grenze zwischen Bayern und Tirol. Autor Karl Schönherr (1867-1943) war selbst gebürtiger Tiroler. Als Sohn eines Dorfschullehrers studierte er Medizin, approbierte und promovierte zum Dr. med. Mit den Stücken „Glaube und Heimat“ (1910) und „Der Weibsteufel“ (1914) etablierte er sich als Dramatiker endgültig und lebte ausschließlich von seiner Dichtung. Zwischen 1911 und 1920 erhielt er allein drei Mal den Grillparzer-Preis. Er war seinerzeit überaus erfolgreich und es ist kaum zu glauben, dass er heute beinahe in Vergessenheit geraten ist. Diese Tatsache resultiert vornehmlich aus seiner politischen Haltung im „Dritten Reich“. Den „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich kommentierte er in Versen wie folgt: „Nun sind wir wieder ein gewaltiges Land, / so wie in alter Zeit, / das keine Welt auseinanderreißt“. Bereits am 9.Mai 1933 hatte er den Ritterschlag des Nationalsozialismus erhalten, als Reichsdramaturg Rainer Schlösser im Völkischen Beobachter attestierte: das Schaffen Schönherrs sei „blutecht und bodenständig“. Ganz sicher war es unklug, aufgrund dieser Tatsachen den Stab über Schönherr zu brechen. Zur Ehrenrettung sei erwähnt, dass er mit einer Jüdin verheiratet war. Da er 1943 verstarb, konnte die Welt nie erfahren, wie Karl Schönherr aus dieser Epoche herausgegangen wäre. Sein letztes Drama, „Die Fahne weht“ (1937) beschwört noch einmal den Geist von Andreas Hofer. Es ist ein zutiefst heroisches Stück über den Kampf gegen die französische Besatzung, in dem der Protagonist sich eher unter der Fahne des Befreiungskampfes erschießen lässt, als dass er einen Verrat begeht.

Schönherrs Literatur ist ganz sicher nicht einzureihen in die seinerzeit opportunen „Blut-und-Boden-Dichtung“. Selbst wenn die topografische Bezogenheit übermächtig scheint, ist die menschliche Psyche Gegenstand der Betrachtung und nicht nationalistischer Heros. Vielmehr kann Schönherrs Werk, und ganz besonders „Der Weibsteufel“,  in die „Blut-und-Hoden-Dichtung“ eingeordnet werden. Die Urteilsbildung darüber ist ein schwieriges Thema geworden, insbesondere angesichts eines unterschwelligen morbiden Interesses an der Ästhetik des Faschismus auch bei Intellektuellen und Künstlern. Gerade in der modernen Architektur ist es unübersehbar. Allein das absente Geschichtsinteresse (In den heutigen Medien ist die Historie in die Kategorie von Action und Unterhaltung abgestiegen.) und die mangelnde Fähigkeit zur Analyse aus einem historischen Bewusstsein heraus, verhindern ein Erkennen des Wesens von Literatur, wie sie Karl Schönherr verfasste. Schade, aber somit bleibt wenigstens unser Wohlbefinden ungetrübt.
 
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Werner Wölbern, Birgit Minichmayr, Nicholas Ofczarek

© Georg Soulek/Burgtheater

 

Diese Betrachtungen drängten sich auf, spätestens, wenn man des Bühnenbildes von Martin Zehetgruber ansichtig wurde. Spätromantik oder doch …? In jedem Fall beeindruckend und, wie sich bald herausstellte, dem Spiel zuträglich. Die gewaltigen Baumstämme, sie schienen von links den Hang hinab auf die Bühne gerutscht zu sein, bildeten eine schiefe Ebene. Das entspricht dem Grundtenor des Dramas, das sowohl von einer harten Umwelt kündete, gleichermaßen aber auch von einer kalten Gesellschaft, in der Überlebenskampf herrschte. Das Leben wurde zum Balanceakt. Bert Wredes Musik transportierte die existenzielle Bedrohung in einem steigenden Spannungsbogen bis zum letzten Bild. Musik und Bühnenbild bildeten eine selten geschaute Einheit.

Martin Kušejs Inszenierung berührte durch die Direktheit der Geschichte, die man vielleicht als alpenländisch-archaisch bezeichnen könnte. Archaik meint vornehmlich den reinen existenziellen Konflikt, weitestgehend losgelöst von den gesellschaftlichen Gegebenheiten. Das menschliche Verhalten bekommt einen Foliencharakter. Wenn die Geschichte dann so begeisternd über die Bühne geht, wie im Residenztheater geschehen, dann heißt das, es waren große Darsteller am Werk. Forciert durch die wuchtige Sprache Schönherrs, die so einfach wie poetisch ist, entfesselten Birgit Minichmayr, Nicholas Ofczarek und Werner Wölbern ganz tiefe Gefühle. Das gelang ihnen mit vergleichsweise geringem Aufwand, denn auf den Baumstämmen balancierend, war vielmehr gar nicht möglich.

Birgit Minichmayr war in diesem Spiel, obgleich von beiden Männern zum bloßen Werkzeug degradiert, sehr schnell die treibende Kraft. Eingangs die spröde Ehefrau, empört über das schamlose Angebot des Mannes und später des Grenzjägers, kippte ihre Haltung in dem Augenblick, als sie sich ihrer Opferrolle zugunsten der Ökonomie bewusst wurde. Von diesem Moment an machte sie dem Titel des Dramas alle Ehre und schmiedete teuflisch ihren Komplott. Ihr körperlicher Einsatz war ungekünstelt und natürlich; sie erzielte damit höchste Wirkung. Selten bekam man eine so ausgefeilte Erotik zu sehen, wie es Birgit Minichmayr mit ein wenig Kleidchenraffen oder Knopf öffnen erreichte. Nicholas Ofczarek spielte hingegen einen gradlinig (um nicht schlicht zu sagen) denkenden Grenzjäger, dessen bloßes Erscheinungsbild eine unterschwellige, aber hochpotente Brutalität suggerierte. Doch er war bald der starke Mann mit dem weichen Herzen, oder, wie er selbst bemerkte, „der Tanzbär mit der Kette am Nasenring“. Gerade diese beiden Darsteller profitierten sehr von dem sinnlichen Text, der in seiner Reinheit und Geradlinigkeit, wenn es um Liebesdinge ging, schon mal an Büchners Woyzeck erinnerte. Werner Wölbern verkörperte in der Rolle des Ehemanns den vermeintlich Schlauen, den, der ausheckt, der stets auf seinen Vorteil bedacht ist und am Ende dann in seine eigenen Fallen tappt, da er etwas ignoriert, was er selbst nicht einkalkuliert oder nicht besitzt: Gefühl. Immer wieder betonte er, was Seines ist das lässt er nicht aus. Und seine Frau ist sein Eigentum. In diesem Bewusstsein forderte er die Welt heraus, auch um den Preis des eigenen Untergangs. Doch diese egoistische Haltung verstellte ihm derart den Blick, dass er gar nicht sehen konnte, wie er selbst zum Spielball wurde. Am Ende steht ein eleganter, geradezu lebensfroher Veitstanz in Wort und Bewegung von Birgit Minichmayr. Geradezu teuflisch manipulierte sie die Männer mit ihrem Körper und ihren Worten, bis diese, gänzlich die Macht über sich selbst verlierend, taten, was der Weibsteufel wollte. Das Ende kam kurz und knapp, ohne Sentimentalität, und darum auch so wirkungsvoll.

Die Frage nach dem Sinn einer solchen Inszenierung stellt sich angesichts der Tatsache, dass heutigentags ausschließlich über Ökonomie gesprochen wird und dass Ökonomie allmächtig geworden zu sein scheint, nicht. Fraglich ist aber, ob die grandiose Darstellung und die vollendete und zwingende Inszenierung nicht den Blick auf die gesellschaftsrelevante Botschaft verstellt. Immerhin erging schon an Schönherr mehrfach der Vorwurf, er mache L árt pour l árt. Egal, wer ein großes alpenländisches Gemälde sah, sah allemal sehr gute Kunst.

Wolf Banitzki

 

 


Der Weibsteufel

von Karl Schönherr

Birgit Minichmayr, Nicholas Ofczarek, Werner Wölbern

Regie: Martin Kušej

Residenztheater Kasimir und Karoline von Ödön von Horváth


 

 

Durchhalten ist die Parole

Warum eigentlich immer wieder Horváth? Die Antwort liegt in der Wirkungsweise seiner wichtigsten Dramen: „Er nannte sie Komödien (seine tragischen Stücke - Anm. W.B.) und bediente sich für sie der Form des ‚Volksstücks’, dessen idyllische Heimeligkeit er – in der Nachkommenschaft Nestroys – ins Unheimliche verkehrt, indem er die Brutalität in der scheinbaren Gemütlichkeit, die Herzensroheit in der scheinbaren Herzlichkeit, die Bestialität in der scheinbaren Sentimentalität spürbar macht, und dies in einer präzise getroffenen Atmosphäre. Seine Arbeitslosen, Proletarier, Kleinbürger, Angestellten benutzen in ihrer dialektgefärbten Umgangssprache die verstiegenen Banalitäten und nichtssagenden Klischees ‚höherer’ Gesellschaftsschichten, was eine ebenso komische wie erschreckende Wirkung hat. Auf diese Weise kommt es zur angestrebten ‚Demaskierung des Bewusstseins’: "Ich habe nur zwei Dinge, gegen die ich schreibe, das ist die Dummheit und die Lüge. Zwei, wofür ich eintrete, das ist die Vernunft und Aufrichtigkeit.’“ (Georg Hensel)

Georg Hensel spricht im Zusammenhang mit einem Horváth-Stück von eklatanter politischer Wirkungslosigkeit, die er mit den Autoren gemeinsam hatte, die den direkten politischen Effekt suchten. Damit meinte er vornehmlich das 1929 in einer Matinee im Lessing-Theater vorgestellten Stück „Sladek, der schwarze Reichswehrmann“. Diese Erwähnung scheint notwendig, denn es dreht sich hier alles um eine Inszenierung des Berliner Volkstheaterintendanten Frank Castorf am Münchner Residenztheater. Es ist in gewisser Weise schon ein Anachronismus, Castorf mit dem Bayerischen Staatstheater in Verbindung zu bringen. (Martin Kušej kann sich das unbedingt als Verdienst anrechnen.) Es ist aber ein ebensolcher Anachronismus, den Berliner Regisseur mit Horváth in einem Satz zu nennen. Tatsächlich ist es überhaupt die erste Inszenierung eines Horváth-Stückes von Frank Castorf. Ein Grund dafür mag sicherlich darin liegen, dass die Dramen von Horváth zum einen auf den ersten Blick zu unpolitisch sind und zum anderen, dass sie einem allgemeinem, um nicht zu sagen indifferenten, heiligen Humanismus entsprungen sind. Tatsächlich gehörte Horváth nie einer künstlerischen noch politischen Richtung an. Dabei wurden seine Dramen in einer Zeit geschrieben, in der die Ideologien aller coleur in der Kunst geradezu ins Kraut schossen. Das politische Agitationstheater war an der Tagesordnung. Horváth gehörte jedoch nicht zu den Weltverbesserern. Seine „Volksstücke“ zeugen vielmehr von einer gewissen Versponnenheit. Dabei reichte seine geistige Gesundheit allemal so weit, auch nicht einmal ansatzweise in die Nähe von „Blut-und-Boden-Dichtung“ zu geraten. Er war nie ein Apologet der falschen Volkstümlichkeit. Er verlieh der Volkstümlichkeit eine reine Stimme. Seine Geschichten sind in der volkstümlichen „Mythologie“ verankert. Er erweckte sie wieder zum Leben. Mit „Kasimir und Karoline“ modernisierte er die Geschichte von den Königskindern, die zueinander nicht finden konnten.

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Shenja Lacher

© Matthias Horn

 

Im Grund ist die Geschichte simpel. Zwei Menschen, die einander zugetan sind, verlieren sich auf dem Münchner Oktoberfest. Sie suchen einander scheinbar, verlieren sich aber immer wieder, um am Ende zu resignieren und sich gegenseitig aufzugeben. In der Tristesse eines bier- und lustgeschwängerten Volksfestes wird zeitgeistige Politik plakatiert, werden Arbeitslosigkeit, soziale Schieflage und aufkommende (braune) Gewalt verhandelt. Doch im Kern der Geschichte stehen zwei Menschen, die sich ihrer selbst nicht bewusst werden können und deren Beziehung darum tragisch endet. Kasimir bleibt an Erna kleben, die singt: „Nur der Mensch hat alleinig einen einzigen Mai.“ Und Karoline fühlt sich in den Armen eines kleinbürgerlichen Zuschneiders aufgehoben. In der satirischen Brechung einer Kette von Klischees entsteht echte (Horváthsche) Poesie.

Zurück zu Frank Castorf. Lange Zeit als Enfant terrible des Theater verstanden, musste das deutsche Theaterpublikum inzwischen einsehen, das Castorf (Er ist 60 Jahre alt.) inzwischen erwachsen geworden ist, sich aber nicht „gebessert“ hat. Vielmehr hat der unbeugsame Meister der Anarchie es geschafft, seine Theaterästhetik in Deutschland hoffähig zumachen. Außer in Bayern natürlich. Was in Berlin kaum noch jemanden vom Hocker reißt, ist in München Theaterskandal. Hätte das Münchner Theater nicht eine zwanzigjährige Castorf-Abstinenz gepflegt, hätten sich die Sehgewohnheiten des Publikums und das Verständnis für politisches Theater vielleicht weiter entwickelt. Ein Pollesch allein reicht da nicht aus.

Für Frank Castorf ist die Theaterbühne ein Schlachtfeld, auf dem er nach wie vor den Klassenkampf ausficht. Das ist umso ärgerlicher, als das die politischen Schönredner des Neoliberalismus dem deutschen Volk inzwischen ziemlich erfolgreich eingeblasen hatten, dass er gar keine Klassen in der Gesellschaft gibt. Castorf wird allzu gern als gestriger Sozialist abgetan. Allein, seine Bezüge auf der Bühne sagen etwas anderes. Hinzu kommt, dass der Theatermacher sich, wie bei „Kasimir und Karoline“ zu sehen, nicht auf eine so kleine private Geschichte, die an einem Tag spielt, beschränkt. Er holt weit aus, beginnend mit der Novemberrevolution, und schlägt den Bogen bis in das Konzentrationslager Börgermoor bei Papenburg. Er scheint mit einer unbändigen Lust gesegnet zu sein, politische Ideen, weltanschauliche Quintessenzen, gesellschaftliche Katastrophen und historische Ereignisse miteinander zu verquicken. Dabei wird zitiert und angespielt, dass die Heide wackelt. Castorf schert sich nicht darum, ob etwas bühnentauglich ist, also durch den künstlerischen Schöpfungsakt gebrochen und veredelt wurde. Er benutzt, was er braucht. Seine Haltung in Bezug auf das Theater ist anarchisch. Alles ist tauglich, was der Botschaft dient.

Frank Castorf geht sogar so weit, die Schauspieler „aus den Zwängen des erlernten Berufes“ zu befreien. Will meinen, der Schauspieler kann sich durchaus die Freiheit nehmen, auf der Bühne privat zu werden, zu extemporieren, wenn es die Situation erfordert. In diesem Zusammenhang sei davor gewarnt, sich als Publikum in „kleinbürgerlicher“ Weise lautstark über die Vorgänge zu echauffieren. Da das in vielen Castorf-Inszenierungen geschieht (In der Salzburger „Kokain“ Premiere haben Zuschauer die Bühne geentert, um den Regisseur zu sprechen.), sind die Schauspieler vorbereitet und ehe sich der empörte Mitbürger versieht, ist er auf für ihn peinliche Weise ins Spiel einbezogen. Also, wenn schon verdrücken, dann leise verdrücken. Wer „Kasimir und Karoline“ von Horváth sehen möchte, ist ohnehin fehl am Platz. Dieses Stück geht in den Zitaten und Einfügungen soweit unter, dass der Stückunkundige am Ende nicht einmal weiß, was Horváth geschrieben hatte und damit sagen wollte.

Wer Arbeiten von Castorf kennt, hätte vorhersagen können, was die Münchner Inszenierung bringen würde: Politische und weltanschauliche Provokation und ästhetische Zumutungen (zumindest für das Münchner Staatstheaterpublikum). Die Bühne von Hartmut Meyer besteht aus zwei zu Publikum offene, fahrbare Toiletten, einem Paravent aus (vermutlich) Toilettentüren, einem Tisch, einigen Stühlen und im zweiten Teil einem riesigen Fass. Über allem breitet sich ein roter Himmel. Gemeint war nicht Aurora, die Morgenröte, sondern das über Deutschland scheinende Rot der Nazifahnen. Requisiten waren: an Stangen befestigte Symbole und Bildnisse wie das „hakelige“ Kreuz oder der dreiköpfige Fisch. Letzterer war ein Hinweis auf das bei Horváth reichlich zitierte Abnormitäten-Kabinett, was auf den Oktoberfesten als besondere Attraktion galt. Im Stück wird, wie von Horváth beabsichtigt, bald klar, dass nicht das Gorillamädchen oder die Lippennegerin (Wunderbare Kostüme von Jana Findeklee und Joki Tewes!) die eigentliche Freaks sind, sondern deren Betrachter, die Besucher des Oktoberfestes.

Mehr als vier Stunden wurde (Horváth, Ernst Jünger, Brecht, Friedrich Schröder-Sonnenstern, Esser/Langhoff usw.) gesprochen, gesungen, getönt, gebrüllt, gekalauert und ausgespieen (verbal und physisch), wobei letzteres keinesfalls zum Anlass genommen werden sollte, dieses Theaterereignis zu versäumen. Birgit Minichmayr (Karoline) und  Nicholas Ofczarek (Kasimir) erwiesen sich einmal mehr als kongeniales und originäres Bühnenpaar. Birgit Minichmayrs Karoline war penetrant schrill, einschmeichelnd, naiv, verschlagen und ungeheuer sexy. Letzteres konnte von Nicholas Ofczarek nicht behauptet werden. In seinen  Strickhosen wirkte er von vertrottelt bis animalisch. Er war der unbestrittene Souverän des Abends, von urgewaltiger Kraft und einer feinen Spitzfindigkeit im Spiel gleichermaßen. Das zweite Bühnenpaar Bibiana Beglau (Erna, Schürzinger, Rosa) und Shenja Lacher (Merkl Franz, Jakob) ließen sich vom ersten allerdings nicht den Schneid abkaufen. Mit extremen körperlichen Einsatz und höchster Konzentration schufen sie einen gelungenen Gegenpol zum Hauptdarstellerpaar in einem Schlachtfest, in dem der so genannte „gute Geschmack“ entleibt wurde.

Was Castorf seinen Schauspielen abverlangte, war bisweilen grenzwertig. Shenja Lacher spielte beispielsweise seinen Part (in der dritten Vorstellung) trotz strömenden Blutes unbeirrt zu Ende. Der Reigen des donnernden Proletariats wurde von Götz Argus abgerundet. Als Karolines Papa spielte er selbstbewusst seine „Gewinnermentalität“ aus, denn als Lokomotivführer war er pensionsberechtigt. Er hatte es geschafft. Doch auch als Bourgeois Rauch trieb er sein Selbstverständnis auf absurde Höhen. Jürgen Stössinger punktete in erster Linie als Karolines Mutter. Seine Karikatur einer alten (Klo-)Frau war Slapstick. Mit Tatjana Lindl (Elli, Lippennegerin) und Mai-Thy Hoang (Maria, Gorillamädchen) wurde das Spektakel erst zu Oktoberfest mit Abnormitäten und prallbusigen Wiesenluder.

Es sollte jedem klar sein, dass im Residenztheater unter „Kasimir und Karoline“ von Ödön v. Horváth nicht „Kasimir und Karoline“ von Ödön v. Horváth zu sehen ist. Zur Aufführung kommt ein dramatischer Diskurs über den (heutigen) Zustand der Welt von Frank Castorf mit dem (mehr oder weniger zutreffenden) Titel: „Kasimir und Karoline“ von Ödön v. Horváth.
Es sollte auch klar sein, dass diese Inszenierung, wie viele andere von Castorf ebenso, die Zuschauer an die Grenzen bringt. Die mehr als vier Stunden bergen Unverdauliches, auch Langatmiges und Banales. Wer diese vier Stunden allerdings durchhält, und das sind erstaunlich viele Zuschauer, erlebt immerhin einige genialische Szenen und die Darsteller von einer (fast privaten) Seite, wie man es sehr selten zu sehen bekommt. Ganz im Sinne Castorfs: „Ein bisschen weh tun muss es!“, bleibt dieser Abend in jedem Fall nachhaltig im Gedächtnis.

Wolf Banitzki

 

 


Kasimir und Karoline

von Ödön von Horváth

Götz Argus, Bibiana Beglau, Mai-Thy Hoang, Shenja Lacher, Tatjana Lindl, Birgit Minichmayr, Nicholas Ofczarek, Jürgen Stössinger

Regie: Frank Castorf

Residenztheater Zur Mittagsstunde von Neil LaBute


 

 

Wenn es an Moral mangelt

Es geschah zur Mittagsstunde. Ein Mann im Militarylook, bewaffnet mit Maschinenpistole und Messer, betrat die Büroräume einer Firma, in der er selbst vor kurzem noch angestellt war. Er eröffnete das Feuer und erschoss annähernd 40 Mitarbeiter. Einer Kollegin, die sich tot gestellt hatte, um dem Massaker zu entgehen, schnitt er die Kehle durch. John Smith, er hielt sich ebenfalls in den Räumen auf, versuchte zu fliehen, als er plötzlich eine Stimme, die Stimme Gottes, hörte, die ihm befahl, sich nicht von der Stelle zu rühren. Dann würde er errettet. Tatsächlich überlebte er als einziger das Massaker. Der Amokläufer richtete sich selbst.

John Smith, ein farbloser, unauffälliger, sich durch nichts auszeichnender Zeitgenosse, war Gott begegnet und wusste, dass er sein Leben ändern musste. Er wollte von nun an gut sein und von Gottes Güte Zeugnis ablegen. Er fühlte sich als ein Berufener, ein Erwählter. Als ein Messias gar? Nein, so stellte es sich nicht dar. Zweifel kamen auf, als bekannt wurde, dass er in höchster Gefahr ein Foto vom Tatort machen konnte, welches den Täter und einige Teile der Opfer zeigte.

Norman Hacker präsentierte dem Publikum über lange Zeit einen Smith, der glaubhaft seine Epiphanie vermittelte. Smith suchte einen Anwalt auf, und präsentierte diesem das Foto. Arnulf Schumachers Anwalt war verschlagen, feist, ordinär im Denken und von korrupter Gesinnung, einer der sofort Witterung aufnahm nach der Farbe des Geldes, als er das blutrünstige Bild sah. Nun, es kann ja wohl nicht schaden, wenn man bei einer göttlichen Mission finanziell gut ausgestattet ist. Darin herrschte Einigkeit. Und ein warmer Dollarregen ging nieder auf den Erleuchteten.

Doch bereits der erste Versuch, ein guter Mensch zu sein, scheiterte. Smith hatte ein Grundstück gekauft und offenbarte seiner Ex-Ehefrau Ginger, dass er an dieser Stelle, mit der sich romantische Erinnerungen verbanden, ein Haus bauen wolle, worin die Familie wieder zusammenkommen sollte. Katrin Rövers Ginger holte Smith nüchtern und bestimmt auf den Boden der Realitäten zurück. Und diese Realitäten besagten, dass John ein beziehungsgestörter Lügner war. Sie beendete die Farce sehr selbstbewusst und verschwand. In diesem Sinn setzte sich die Geschichte fort. Smith versuchte seine Ex-Geliebte Jesse, gestaltet von einer flippig-bissigen Andrea Wenzl, auf seine Seite zu ziehen, um einen Neuanfang unter veränderten Vorzeichen zu wagen. Doch Jesse hatte John längst durchschaut. Auch sie ließ ihn abblitzen und Smith fiel im Zustand der Erregung auffällig oft in seine zynisch verachtende Diktion zurück.

Es war schwer für John Smith, gut zu sein, obgleich er mit dem Brustton der Überzeugung das Gegenteil predigte. So versuchte er auch Gigi, eine Prostituierten und die Tochter der gemeuchelten Kollegin zu einem gottgefälligen Leben zu überreden. Friederike Ott, deren Laszivität immer wieder an den Klippen nüchternen Semantik in der Beschreibung und Darstellung ihrer Profession zerbrach, kreierte ein bedauernswertes Geschöpf. Gigi, die ihren wirklichen Namen angstvoll verleugnete, da sie sich schamhaft ertappt fühlte, war dünnhäutiger, als sie zu vermitteln versuchte. So wurde sie letztlich devotes (und bezahltes) Opfer der verbalen Unterwerfung durch Smith.  

Das eigentliche Desaster hatte Smith allerdings in der Talkshow von Jenny erlitten. Michaela Steigers Jenny, war eine typische Vertreterin einer wahrhaft zynischen Medienwelt, in der die Gäste lediglich als Stichwortgeber für die profilierungssüchtigen und selbstverliebten Moderatoren engagiert werden. So landete seine messianische Botschaft auf recht erbärmliche Weise im Orkus der Lächerlichkeit. Als der Polizeiinspektor, schneidend scharf von Sierk Radzei gegeben, ihm schließlich versprach, ihn und seine Lügen zur Strecke zu bringen, sollte man meinen, Smith gebe auf. Weit gefehlt, wie das letzte Bild verdeutlichte.
 
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Norman Hacker

© Hans Jörg Michel

 

In dieser Welt bahnen sich vornehmlich die absurdesten Ideen und Figuren ihren Weg durch den Dschungel der Orientierungslosigkeit. Das Schlimmstmögliche wird nicht selten das Wahrscheinliche. Oder, wie Oliver Stone über G.W. Bush sinngemäß sagte: Ein Exalkoholiker, der zu Gott gefunden hat, ist das Schlimmste, was uns passieren konnte. (Der Regisseur entstammt einer guten alten republikanischen Familie!)

Regisseur Wilfried Minks erzählte die Geschichte um den Erleuchteten und zum Berufenen aufgestiegenen John Smith schnörkellos und bedrückend nüchtern. Das vom Regisseur geschaffene Bühnenbild war ausschließlich funktional, und in der utilitaristischen Reduktion beeindruckend wie alte  japanische Architektur. Landschaften wurden großflächig projiziert. Wie alle Stücke von Neil LaBute, hat auch dieses einen starken Plot. Auf den verließ sich Regisseur Minks und steuerte seine Inszenierung sicher ans Ziel.

Eine sehenswerte Aufführung, die sehr nachdenklich macht in Zeiten neu aufkeimender Religiosität, die auf allen Seiten in Fundamentalismus zu münden droht. In Zeiten der Orientierungslosigkeit und des Werteverfalls sind moralische Aufhänger gefragt. Es spricht nicht unbedingt für die Spezies Mensch, dass überwiegend religiöse, also scheinbar von Gott (oder Göttern) formulierte Moralgesetze obsiegen. Diese werden als absolut und verbindlich angesehen. Durch demokratische Parlamente erarbeitete Gesetze, die auf der Basis der Vernunft fußen, werden inzwischen von den christlichen Taliban ebenso verleugnet wie von den moslimischen.

Empfehlenswert wäre, ehe wir neuerlich von Erleuchteten zum „wahren Glauben“ und zur „wahren Moral“ erweckt werden, mal wieder in die Heiligen Schriften zu schauen, um zu begreifen, wie widersprüchlich, ignorant und dümmlich versucht wird, Menschenmassen vom Denken abzuhalten. Auslöser für LaBute war die Geschichte der Wandlung des Saulus, der zahllose Christen getötete hatte, zum Paulus, der dann als moralische Instanz das Wort Gottes verkündete. Eine beeindruckende Geschichte, ausgerechnet einen Schlächter zu erwählen. Aber in der selben Heiligen Schrift wird beispielsweise auch die Geschichte von Lot erzählt, der einzige (!) von Gott ausgemachte gute Mensch in Sodom, der mit seiner Familie den Untergang der Stadt überlebte. Nachdem zwei männliche Engel die Behausung Lots besuchten, um ihm zu offenbaren, dass er die Stadt schnellstens verlassen müsse, da sie dem Untergang geweiht sei, rotteten sich die Bürger vor Lots Wohnstatt zusammen. Sie forderten von Lot: „Wo sind die Männer, die zu dir gekommen sind diese Nacht? Führe sie heraus zu uns, damit wir uns über sie hermachen.“ (1. Mose 19,5) Was antwortete der Mann, der von Gott als der einzige moralische Mensch ausgemacht wurde? „Ach, liebe Brüder, tut nicht so übel! Siehe, ich habe zwei Töchter, die wissen noch von keinem Manne; die will herausgeben unter euch, und tut mit ihnen, was euch gefällt; aber diesen Männern tut nichts, denn darum sind sie unter den Schatten meines Daches gekommen.“ (1. Mose 19,7-8)

Es sei noch einmal darauf hingewiesen: Es gibt Menschen, die nehmen die Heiligen Schriften wörtlich, denn ihnen wird von „heiligen Männern“ garantiert, dass es sich um Gottes Wort handelt. John Smith, ein Nobody, glaubte von sich, so ein heiliger Mann zu sein. Wehe dem, der ihm glaubt.

 
Wolf Banitzki
 
 

 


Zur Mittagsstunde

von Neil LaBute

Norman Hacker, Friederike Ott, Sierk Radzei, Katrin Röver, Arnulf Schumacher, Michaela Steiger, Andrea Wenzl

Regie: Wilfried Minks

Residenztheater Die Götter weinen von Dennis Kelly


 


Aderlass im Vorstand

Ein erster Blick ins Programmheft machte neugierig. Darin war die Rede von großen Coups multinationaler Konzerne, in Afrika oder Lateinamerika riesige Flächen von Ackerland aufzukaufen. Diese werden entsiedelt, notfalls mit Hilfe paramilitärischer Truppen, die vor gar nichts zurückschrecken. Auf diesen Flächen pflanzt man Monokulturen an, die zu Biosprit verarbeitet werden, während in unmittelbarer Nachbarschaft Hungersnöte und Dürren wüten. Politische Vertreter und Machthaber, egal ob legitime oder illegitime, werden gekauft und gehandelt, ganz nach Bedarf. Ein gutes Thema für ein Theaterstück? Man konnte gespannt sein.

Der groß angelegte dramatische Entwurf von Dennis Kelly beginnt mit der Vorstandsitzung eines Konzerns, der als global Player weltweit präsent ist. Colm, Begründer der Firma, gibt seine Macht an die jungen Nachfolger ab. Es läuft äußerlich ein wenig wie bei King Lear ab, der sein Reich ungleichmäßig verteilt. Richard und Catherine bekommen jeweils die Hälfte des Imperiums unter ihre Herrschaft. Der leibliche Sohn Jimmy, Colm betont, dass er sich sehr anstrengen musste, ihn lieben zu lernen, geht leer aus. Das Projekt, an dem er gerade arbeitet und das weitestgehend geheim gehalten wurde, entzieht Colm seinem Sohn und übernimmt es selbst. Jimmy fleht den Vater an, ihm noch eine Chance zu geben und erhält einen vierzehntägigen Aufschub. Bei diesem Geschäft handelt es sich um „Land Grabbing“. Der Konzern hat große Mengen Land gekauft und will nun die Nahrungsmittelproduktion zu einem profitablen Geschäft machen. Von „win-win“ ist die Rede, von Aufbau der Infrastruktur, von Wohlstand der Zivilbevölkerung. Alles Lüge, wie Statistiken belegen. Es ist vielleicht die letzte Stufe der Versklavung der Menschheit durch Konzerne. Es regt sich Widerstand in den entsprechenden Regionen. Das Projekt, das Jimmy vertrat, war wegen einer versicherungstechnischen Angelegenheit ins Stocken geraten. Kein Unternehmen war bereit, die acht Spezialisten zu versichern, die in das von Rebellen „verseuchte“ Gebiet reisen sollten. Jimmy hatte inzwischen eine Affäre mit Beth, einer Entscheidungsträgerin im Versicherungsunternehmen. Er erpresst sie mit der Affäre und ihrem alkoholabhängigen Vater. Die Versicherung kommt zustande.

Inzwischen ist ein Machtkampf zwischen Richard und Catherine ausgebrochen, der im zweiten Teil in den totalen Krieg mündet. Colm ist abgesetzt und verschollen, Castile, der Vertraute Colms, seine Augen und Ohren, ist entmachtet und Jimmy ist zum Spielball der Parteien geworden. Die acht Spezialisten sind unmittelbar nach ihrem Eintreffen im Krisengebiet getötet worden. Beth ist folglich ruiniert, hat nur noch Rache an Jimmy im Sinn. Sie schließt sich Richard an und wird, obgleich sie augenscheinlich wahnsinnig ist, zur Anführerin der Leibwache. Es geht zu wie bei Warlords, deren Gefolgschaft aus fanatisierten Kindersoldaten besteht. Catherin unterliegt, da sie Schwäche zeigt. Schwäche heißt hier Liebe, Liebe zu Jimmy. Jimmy indes hat dazugelernt, verschwindet und taucht erst wieder auf, als sich die Parteien aufgerieben oder selbst ausgelöscht haben. „Du musst deine Schwäche zu einer Waffe machen“, hatte Vater Colm ihm erklärt.

Colm indes wird von einem jungen Mädchen namens Barbara gepflegt. Zu ihr zog es den zeitweise umnachteten, verletzen Mann zwanghaft. Er hatte viele Jahre zuvor aus einer Laune heraus den Vater vernichtet. Dadurch wurde die Familie ausgelöscht. Nur Barbara war übrig geblieben. Colm offenbart sich ihr und erntet ihre vollkommene Abscheu. Doch es ist eine „Day after“ Situation eingetreten. Der Krieg hat beide gleichgestellt. Es geht ums Überleben, um Nahrungsmittel, um die Furcht vor Krankheit, die gleichbedeutend mit Tod ist. Zarte Bande entstehen zwischen beiden. Gerade als Hoffnung keimt, bellen Schüsse. Barabara sinkt tödlich getroffen in Colms Arme. Jimmy war der Schütze. Er war gemeinsam mit Castile gekommen, um den Vater heimzuholen, denn die Dinge sind wieder in ihrem Sinn geregelt. Man kann zur Tagesordnung übergehen. Colm betrachtet noch kurz den Leichnam Barbaras und wendet sich dann, weitestgehend ungerührt, ab. Ende.

Bei „Die Götter weinen“ handelt es sich um ein auf shakespearesches Format aufgeblasenes Königsdrama, angesiedelt in den Königreichen der Ökonomie. Es ist in der Dramaturgie nicht viel echte Logik. Die sprachliche Umsetzung kann kaum als meisterlich bezeichnet werden. Shakespeare kommt einem dabei mehrfach in den Sinn. King Lear wurde bereits genannt, und bei Beth drängt sich ein spiegelverkehrter Macbeth auf. Die Astrologin erinnert an die Hexen. Bei näherem Hinsehen, ließen sich bestimmt noch einige Parallelen finden.

Eine Vorstandsschlacht wächst sich zu einem internationalen Krieg aus, bei dem sich ganze Heere in Schlachtordnungen gegenüberstehen wie in Shakespeares Dramen. Ein Shakespeare ist es nicht geworden, davor war die Sprache, ungeschliffen und vielfach alltäglich. Die Figuren hatten kaum Doppelbödigkeit und den Szenen fehlte die Weisheit aufklärender Dramatik. Und aufklären sollte es doch sicherlich, zumindest deutete das Programmheft dies an. Aufklärung sollte, und in diesem Fall trifft das wohl in besonderem Maße zu, Kritik befördern, günstigstenfalls Verhalten ändern oder provozieren.
 
  diegotterweinen  
 

Paul Wolff-Plottegg, Dascha Poisel, Jens Atzorn, Carolin Conrad, Manfred Zapatka, Götz Schulte, Guntram Brattia, Sophie von Kessel, Johannes Zirner

© Tibor Bozi

 

Dušan David Pařizeks Inszenierung erreichte dabei eher das Gegenteil, wofür er am Ende heftige Ablehnung in Form von Buhs erntete. Die Inszenierung führte weg von den Realitäten und erzählte die Geschichte so, das sie nirgendwo wirklich an die Realität ankoppeln konnte. Mehr noch, die zweieinhalb Stunden gerieten über weite Strecken langatmig und erzeugten (im Publikum hörbare) Seufzer der Erschöpfung. Warum das alles, fragte man sich? Es sei an dieser Stelle eine Spekulation erlaubt. Der Regisseur hatte ein brandaktuelles Thema benutzt, um über ein, wie sich bald herausstellte, überambitioniertes Stück, eine großen ästhetischen Wurf zu landen. Doch wenn die Geschichte nicht tauglich ist, bleibt auch die künstlerische Umsetzung irgendwann auf der Strecke. Und wenn nicht, ist das Werk nur ein gelungener Betrug.

Musste Regisseur Pařizek also zwangsläufig scheitern? Mit Sicherheit nicht, hätte er doch den Mut gefunden, kräftig zu streichen und zu straffen. Der Spielgestus war nicht ungeschickt. Alle Darsteller waren durchgängig auf der Bühne, traten in den Vordergrund, zogen die Blicke und die Konzentration des Publikums auf sich und spielten ihre Szenen. Da es sich durchweg um hervorragenden Schauspieler handelte, war die Gefahr von Dekonstruktion sehr gering. Dank des sehr guten funktionalen Bühnenbildes (gleichfalls von Dušan David Pařizek) herrschte eine grundlegende Nüchternheit vor, in der die Konflikte und Auseinandersetzungen verhandelt wurden.

Businessleute sind „cool“. Emotionale Ausbrüche finden im Verborgenen, unter vier Augen statt. Jedenfalls sind Businessleute selten physische Rambos, die schnell mal zur Kanone greifen, aus der Hüfte schießen und dann wie Dirty Harry über die Leichen steigen. Hier taten sie es. Doch dieses Versagen muss wohl auch dem Stück zugeschrieben werden. Da es ein blutiges Spiel war, wurde das Blut in großen Mengen vergossen. Regisseur Pařizek glitt spätestens im zweiten Teil ab in vordergründiges Action-Theater. Das Sch…-Wort erlebte eine Inflation. Nichts ging mehr zusammen. Management, Brokermentalität, menschliche Hybris auf höchste Ebenen der ökonomischen Macht kippten um in einen banalen Bandenkrieg und das Publikum fragt sich irgendwann verzweifelt, wohin das alles führen sollte. Es war nicht mehr, als ein effizienter Aderlass in einem Konzernvorstand. (Hoppla, da könnten ketzerische Gedanken aufkommen.)

Das Thema, Enteignung großer Teile der Erdbevölkerung und die Verwendung der Landmassen zu spekulativen Zwecken, geriet letztlich kaum in den Fokus. Ob die Protagonisten dieser Spekulationsanstalten, oder Oberschurken, wie sie im Programmheft genannt werden, tatsächlich in ihrem Wesen getroffen waren, blieb ebenfalls im Dunkeln. Die Schauspieler gaben immerhin ihr Bestes. Dabei schien einige Male spürbar, dass sie selbst nicht gänzlich vom Sinn ihres Tuns überzeugt waren. Sie erhielten am Ende verdientermaßen artigen Applaus. Die Regie hingegen wurde sehr deutlich abgestraft.

Der letzte Akt, in dem Colm und Barbara auf intime Weise ums Überleben kämpften, wirkte inhaltlich und auch ästhetisch wie ein Appendix. Sollte er wirklich nur dazu gedient haben, Colm mit dessen letzten Blick sagen zu lassen, „Scheiß drauf! (Pardon. W.B.) Wir machen weiter wie gehabt!“, wäre das eine Bankrotterklärung des Autors, die somit von der Regie und letztlich auch vom Theater mitgetragen wurde. Ohne diese Szene hätte es vielleicht eine kleine Katharsis geben können. So war der Abend nur ein Ärgernis.  

 
Wolf Banitzki

 

 


Die Götter weinen

von Dennis Kelly

Jens Atzorn, Guntram Brattia, Carolin Conrad, Sophie von Kessel, Dascha Poisel, Katharina Schmidt, Götz Schulte, Paul Wolff-Plottegg, Manfred Zapatka, Johannes Zirner

Regie: Dušan David Pařízek

Residenztheater Das weite Land von Arthur Schnitzler


 

 

Du sollst nicht begehren …

Warum Arthur Schnitzlers „Das weite Land“? Nun, erst einmal, weil dieses vielgespielte Drama heuer 100 Jahre alt wird und in jedem Fall eine Huldigung verdient. Zudem ist dieser Text, wie die Inszenierungsgeschichte zeigt, eine sichere Bank, bestens geeignet für die Antrittsinszenierung eines neuen Intendanten. Martin Kušej, in der Vergangenheit nicht immer unumstritten, weil unbequem und auch nicht konsequent dem „guten Geschmack“ verpflichtet, landete mit seiner Inszenierung elegant und weich in München und machte seinen „Woyzeck“, mit dem er sich am 21. Juni 2007 am Münchner Residenztheater vorstellte, weitestgehend vergessen. Ein Kritikerkollege konstatierte derzeit: „Kušej wandelt an den Schmutzrändern der Kunst.“ Natürlich ist es nicht gerecht, einen Künstler nur an einer Arbeit zu messen. So darf man auch gespannt sein, was Martin Kušej weiterhin anzubieten hat. Die Herzen des Publikum konnte er mit „Das weite Land“ immerhin schon erobern und seinen Kreditrahmen großzügig abstecken.

„Das weite Land“ ist Schnitzlers erfolgreichstes und wohl auch repräsentativstes Stück. Der Mann, der als Übersetzer der Freudschen Lehren in die Kunst gelten kann, war auch Freund des epochalen Psychoanalytikers. Der Kotau, den er vor dem Wissenschaftler vollführte, wurde von diesem auf gleiche Weise erwidert. Und so kann man von einem symbiotischen Werk sprechen, bei dem Schnitzlers Stücke exzellente Illustrationen der Freudschen Lehren abgeben.

In „Das weite Land“ wird die Geschichte des Fabrikanten Friedrich Hofreiter erzählt, der, verheiratet mit Ehefrau Genia, nicht umhin kann, sämtliche attraktive weibliche Zweibeiner zu hofieren und zu erobern. Die Geschichte beginnt mit dem Selbstmord des Pianisten Korsakow und endet mit dem Mord (vorsätzliche Tötung im Duell) an einem jungen Offizier namens Otto. Beide waren Rivalen des Alphamenschen Hofreiter. Beide bezahlten ihre Zuneigung zur Frau des Fabrikanten mit dem Leben. Ungeklärt bleibt dabei, welchen Rolle Hofreiter bei der Selbsttötung spielte. Im Verlauf des Stückes erobert Hofreiter die junge Erna Wahl, um die sich der Freund Dr. Franz Mauer bemüht, womit Hofreiter seine gesellschaftliche Isolation vollkommen macht, denn Mauer war ihm bis dahin der einzige echte Freund.
 
  dasweiteland  
 

Juliane Köhler, Tobias Moretti

© Hans Jörg Michel

 

Martin Kušej erklärte im Vorfeld der Premiere, dass ihm männliches Verhalten wie das von Hofreiter überaus zeitgemäß erscheint und damit lag er zweifellos richtig. Die psychologischen Strategien des Verführens und des Lügens sind heute ebenso authentisch wie in dem vor einhundert Jahren geschriebenen Stück. Es kann wohl getrost von einer genetischen Verankerung gesprochen werden, wenn es um das Urteilsvermögen von Männern in Bezug auf Ehebruch geht. Was Mann sich selbst unter Aufbietung freiheitlich-liberaler Floskeln zugesteht, wird Frau noch längst nicht bewilligt. Und wenn der Fall eintritt, dass Frau auf Abwegen wandelt, wird der aufgeklärte, freiheitliche Mann zum Höhlenmenschen. So trefflich wie Schnitzler dies herausarbeitete, so deutlich transportierte die Inszenierung von Martin Kušej diese Einsichten. Selbstverständlich kann seine Interpretation die Schlüsselfrage, die Frage nach dem Warum des permanenten Drangs zum Ehebruch, nicht letztgültig beantworten, tat Schnitzler dies in seinem Drama doch auch nicht. Der Dichter rettete sich in zwei indifferente Ausreden: Der Mensch sei ein „kompliziertes Subjekt“ und seine Seele „ein weites Land“. Und doch ging der Regisseur Kušej mit seiner Lesart einen wichtigen Schritt über die Analyse Schnitzlers hinaus. Er rückte die soziale und gesellschaftliche Determination der Protagonisten dezent, aber deutlich in den Fokus. Die dargestellte Gesellschaft lebte ganz augenscheinlich ohne zwingende Verpflichtungen in selbstgefälligem Müßiggang. So traten die Beschäftigung mit sich selbst an die Stelle von gesellschaftlichen Aufgabenstellungen. Besonders deutlich wurde dies in den Tennismatches, die stets mit Blutvergießen einhergingen. Was normalerweise Freizeitbeschäftigung ist, wurde blutiger Wettstreit. Regisseur Kušej schreibt einige wichtige Gründe des destruktiven Handelns der Tatsache zu, dass die Gesellschaftsschicht von Hofreiter und Co. eine weitestgehend sinnentleerte Gesellschaft ist, die mit Egomanien aller Couleurs aufgeladen wird. Bei näherer Betrachtung der heutigen Gesellschaft entpuppte sich diese Lesart als eine sehr sinnvolle. Hofreiter selbst ist zwar ein überaus unternehmerischer und aktiver Mann, doch in seiner Philosophie dominiert auf jeder Ebene das Besitzergreifen.

Auf Martin Zehetgrubers Bühne dominierten in den unterschiedlichen Bildern drei Elemente: Ein dichter Vorhang aus Trauerweiden, der gleichsam ein Dickicht schuf und die Spielfläche auf der Vorderbühne begrenzte; ein Vorhang aus Wasser, durch den die Darsteller mussten, um in das Spiel zu gelangen und eine gewaltige, die gesamte Bühne einnehmende Gerölllandschaft, welche die Dolomiten vorstellen sollte. Die einfach und deutlich angelegten Strukturen schufen Hintergründe für Figurenkompositionen, die beeindruckten. Ebenso klar wie das Bühnenbild war auch die Einrichtung des Spiels, wobei die Zuschauer erstmals viele neue Darsteller erleben konnten, die Intendant Kušej an das Residenztheater verpflichtet hatte.

Allen voran Tobias Moretti, der diesen Abend zu einem außerordentlichen machte. Morettis Präsenz war so dominant wie die Rolle Hofreiters selbst. Sein Spielgestus war dezent, dabei präzise und eindringlich und frei von Manierismen. Mit einem Wort: fesselnd! Moretti gab einen Hofreiter, dem schwer zu widersprechen war, selbst wenn die Logik Kapriolen schlug oder er sich in einem Satz mehrfach selbst ad absurdum führte. Neben Tobias Moretti blieben alle anderen Rollen Nebenrollen. Dennoch erlebte der Zuschauer einen Mannschaftsspieler, der anspielte und abgab. Den größten Raum konnte sich Markus Hering erspielen, der im Drama den moralischen Gegenpol einnahm und zugleich der einzige Verbündete Hofreiters war. Obgleich sein Part im Stück geringer ausfiel als der von Hofreiters Ehefrau Genia, war sein Spiel facettenreicher und komödiantischer, als das von Juliane Köhler. Ihre Darstellung der Ehefrau sollte im Stück vielleicht die Amoral ihres Gatten entlarven, lieferte auf der Bühne allerdings einige (aus männlicher Sicht nachvollziehbare) Gründe für dessen Ehebruch. In ihrer Gequältheit als Betrogene, in ihrem geradezu hysterischer Umgang mit der Wahrheit in Zeiten der Unschuld (auch sie machte sich des Ehebruchs schuldig) schuf sie ein Bild von einer Frau, das vornehmlich eines vermissen ließ: weibliche Anziehungskraft. Um so verständlicher erschien, dass sich Hofreiter mit Frau Natter amüsiert hatte, die vollbusig und unmittelbar erotisch von Katharina Pichler gegeben wurde. Ebenso nachvollziehbar war, dass er sich von Erna Wahl angezogen fühlte. Britta Hammelstein spielte sie frisch und unbefangen mit viel natürlicher Erotik. Du sollst nicht begehren … Leicht gesagt. Vielleicht war es ja auch beabsichtigt und Regisseur Kušej wollte beim (männlichen) Publikum Verständnis und Mitgefühl für Hofreiter erzeugen, der wohl in jedem männlichen Wesen steckt?
Unbedingt erwähnenswert war das Spiel von Barbara Melzl, die in der Rolle der Frau Wahl auf recht grelle Weise die dekadenten Züge der Gesellschaft beschrieb. Viel Applaus erhielt am Ende auch Eva Mattes. Dieser Applaus galt sicherlich der großen Schauspielerin, als die man sie kennt und verehrt. In der sehr kleinen Rolle der Schauspielerin Anna Meinhold-Aigner hatte sie kaum Gelegenheit, eine wirkliche Kostprobe ihres Könnens zu geben. Es war vielmehr eine warmherzige Begrüßung.

Nun ist der erste Vorhang der Spielzeit im Residenztheater aufgegangen und er gab nicht nur den Blick auf eine gelungene Inszenierung frei, sondern verhieß mit neuen Gesichtern, neuen Spielweisen und neuen Lesarten einen Neuanfang. Man kann gespannt sein.

 
Wolf Banitzki

 

 


Das weite Land

von Arthur Schnitzler

Gunther Eckes, Thomas Gräßle, Britta Hammelstein, Markus Hering, Juliane Köhler, Shenja Lacher, Eva Mattes, Barbara Melzl, Tobias Moretti, Gerhard Peilstein, Katharina Pichler, August Zirner

Regie: Martin Kušej