Residenztheater Kasimir und Karoline von Ödön von Horváth
Durchhalten ist die Parole
Warum eigentlich immer wieder Horváth? Die Antwort liegt in der Wirkungsweise seiner wichtigsten Dramen: „Er nannte sie Komödien (seine tragischen Stücke - Anm. W.B.) und bediente sich für sie der Form des ‚Volksstücks’, dessen idyllische Heimeligkeit er – in der Nachkommenschaft Nestroys – ins Unheimliche verkehrt, indem er die Brutalität in der scheinbaren Gemütlichkeit, die Herzensroheit in der scheinbaren Herzlichkeit, die Bestialität in der scheinbaren Sentimentalität spürbar macht, und dies in einer präzise getroffenen Atmosphäre. Seine Arbeitslosen, Proletarier, Kleinbürger, Angestellten benutzen in ihrer dialektgefärbten Umgangssprache die verstiegenen Banalitäten und nichtssagenden Klischees ‚höherer’ Gesellschaftsschichten, was eine ebenso komische wie erschreckende Wirkung hat. Auf diese Weise kommt es zur angestrebten ‚Demaskierung des Bewusstseins’: "Ich habe nur zwei Dinge, gegen die ich schreibe, das ist die Dummheit und die Lüge. Zwei, wofür ich eintrete, das ist die Vernunft und Aufrichtigkeit.’“ (Georg Hensel)
Georg Hensel spricht im Zusammenhang mit einem Horváth-Stück von eklatanter politischer Wirkungslosigkeit, die er mit den Autoren gemeinsam hatte, die den direkten politischen Effekt suchten. Damit meinte er vornehmlich das 1929 in einer Matinee im Lessing-Theater vorgestellten Stück „Sladek, der schwarze Reichswehrmann“. Diese Erwähnung scheint notwendig, denn es dreht sich hier alles um eine Inszenierung des Berliner Volkstheaterintendanten Frank Castorf am Münchner Residenztheater. Es ist in gewisser Weise schon ein Anachronismus, Castorf mit dem Bayerischen Staatstheater in Verbindung zu bringen. (Martin Kušej kann sich das unbedingt als Verdienst anrechnen.) Es ist aber ein ebensolcher Anachronismus, den Berliner Regisseur mit Horváth in einem Satz zu nennen. Tatsächlich ist es überhaupt die erste Inszenierung eines Horváth-Stückes von Frank Castorf. Ein Grund dafür mag sicherlich darin liegen, dass die Dramen von Horváth zum einen auf den ersten Blick zu unpolitisch sind und zum anderen, dass sie einem allgemeinem, um nicht zu sagen indifferenten, heiligen Humanismus entsprungen sind. Tatsächlich gehörte Horváth nie einer künstlerischen noch politischen Richtung an. Dabei wurden seine Dramen in einer Zeit geschrieben, in der die Ideologien aller coleur in der Kunst geradezu ins Kraut schossen. Das politische Agitationstheater war an der Tagesordnung. Horváth gehörte jedoch nicht zu den Weltverbesserern. Seine „Volksstücke“ zeugen vielmehr von einer gewissen Versponnenheit. Dabei reichte seine geistige Gesundheit allemal so weit, auch nicht einmal ansatzweise in die Nähe von „Blut-und-Boden-Dichtung“ zu geraten. Er war nie ein Apologet der falschen Volkstümlichkeit. Er verlieh der Volkstümlichkeit eine reine Stimme. Seine Geschichten sind in der volkstümlichen „Mythologie“ verankert. Er erweckte sie wieder zum Leben. Mit „Kasimir und Karoline“ modernisierte er die Geschichte von den Königskindern, die zueinander nicht finden konnten.
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Shenja Lacher
© Matthias Horn
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Im Grund ist die Geschichte simpel. Zwei Menschen, die einander zugetan sind, verlieren sich auf dem Münchner Oktoberfest. Sie suchen einander scheinbar, verlieren sich aber immer wieder, um am Ende zu resignieren und sich gegenseitig aufzugeben. In der Tristesse eines bier- und lustgeschwängerten Volksfestes wird zeitgeistige Politik plakatiert, werden Arbeitslosigkeit, soziale Schieflage und aufkommende (braune) Gewalt verhandelt. Doch im Kern der Geschichte stehen zwei Menschen, die sich ihrer selbst nicht bewusst werden können und deren Beziehung darum tragisch endet. Kasimir bleibt an Erna kleben, die singt: „Nur der Mensch hat alleinig einen einzigen Mai.“ Und Karoline fühlt sich in den Armen eines kleinbürgerlichen Zuschneiders aufgehoben. In der satirischen Brechung einer Kette von Klischees entsteht echte (Horváthsche) Poesie.
Zurück zu Frank Castorf. Lange Zeit als Enfant terrible des Theater verstanden, musste das deutsche Theaterpublikum inzwischen einsehen, das Castorf (Er ist 60 Jahre alt.) inzwischen erwachsen geworden ist, sich aber nicht „gebessert“ hat. Vielmehr hat der unbeugsame Meister der Anarchie es geschafft, seine Theaterästhetik in Deutschland hoffähig zumachen. Außer in Bayern natürlich. Was in Berlin kaum noch jemanden vom Hocker reißt, ist in München Theaterskandal. Hätte das Münchner Theater nicht eine zwanzigjährige Castorf-Abstinenz gepflegt, hätten sich die Sehgewohnheiten des Publikums und das Verständnis für politisches Theater vielleicht weiter entwickelt. Ein Pollesch allein reicht da nicht aus.
Für Frank Castorf ist die Theaterbühne ein Schlachtfeld, auf dem er nach wie vor den Klassenkampf ausficht. Das ist umso ärgerlicher, als das die politischen Schönredner des Neoliberalismus dem deutschen Volk inzwischen ziemlich erfolgreich eingeblasen hatten, dass er gar keine Klassen in der Gesellschaft gibt. Castorf wird allzu gern als gestriger Sozialist abgetan. Allein, seine Bezüge auf der Bühne sagen etwas anderes. Hinzu kommt, dass der Theatermacher sich, wie bei „Kasimir und Karoline“ zu sehen, nicht auf eine so kleine private Geschichte, die an einem Tag spielt, beschränkt. Er holt weit aus, beginnend mit der Novemberrevolution, und schlägt den Bogen bis in das Konzentrationslager Börgermoor bei Papenburg. Er scheint mit einer unbändigen Lust gesegnet zu sein, politische Ideen, weltanschauliche Quintessenzen, gesellschaftliche Katastrophen und historische Ereignisse miteinander zu verquicken. Dabei wird zitiert und angespielt, dass die Heide wackelt. Castorf schert sich nicht darum, ob etwas bühnentauglich ist, also durch den künstlerischen Schöpfungsakt gebrochen und veredelt wurde. Er benutzt, was er braucht. Seine Haltung in Bezug auf das Theater ist anarchisch. Alles ist tauglich, was der Botschaft dient.
Frank Castorf geht sogar so weit, die Schauspieler „aus den Zwängen des erlernten Berufes“ zu befreien. Will meinen, der Schauspieler kann sich durchaus die Freiheit nehmen, auf der Bühne privat zu werden, zu extemporieren, wenn es die Situation erfordert. In diesem Zusammenhang sei davor gewarnt, sich als Publikum in „kleinbürgerlicher“ Weise lautstark über die Vorgänge zu echauffieren. Da das in vielen Castorf-Inszenierungen geschieht (In der Salzburger „Kokain“ Premiere haben Zuschauer die Bühne geentert, um den Regisseur zu sprechen.), sind die Schauspieler vorbereitet und ehe sich der empörte Mitbürger versieht, ist er auf für ihn peinliche Weise ins Spiel einbezogen. Also, wenn schon verdrücken, dann leise verdrücken. Wer „Kasimir und Karoline“ von Horváth sehen möchte, ist ohnehin fehl am Platz. Dieses Stück geht in den Zitaten und Einfügungen soweit unter, dass der Stückunkundige am Ende nicht einmal weiß, was Horváth geschrieben hatte und damit sagen wollte.
Wer Arbeiten von Castorf kennt, hätte vorhersagen können, was die Münchner Inszenierung bringen würde: Politische und weltanschauliche Provokation und ästhetische Zumutungen (zumindest für das Münchner Staatstheaterpublikum). Die Bühne von Hartmut Meyer besteht aus zwei zu Publikum offene, fahrbare Toiletten, einem Paravent aus (vermutlich) Toilettentüren, einem Tisch, einigen Stühlen und im zweiten Teil einem riesigen Fass. Über allem breitet sich ein roter Himmel. Gemeint war nicht Aurora, die Morgenröte, sondern das über Deutschland scheinende Rot der Nazifahnen. Requisiten waren: an Stangen befestigte Symbole und Bildnisse wie das „hakelige“ Kreuz oder der dreiköpfige Fisch. Letzterer war ein Hinweis auf das bei Horváth reichlich zitierte Abnormitäten-Kabinett, was auf den Oktoberfesten als besondere Attraktion galt. Im Stück wird, wie von Horváth beabsichtigt, bald klar, dass nicht das Gorillamädchen oder die Lippennegerin (Wunderbare Kostüme von Jana Findeklee und Joki Tewes!) die eigentliche Freaks sind, sondern deren Betrachter, die Besucher des Oktoberfestes.
Mehr als vier Stunden wurde (Horváth, Ernst Jünger, Brecht, Friedrich Schröder-Sonnenstern, Esser/Langhoff usw.) gesprochen, gesungen, getönt, gebrüllt, gekalauert und ausgespieen (verbal und physisch), wobei letzteres keinesfalls zum Anlass genommen werden sollte, dieses Theaterereignis zu versäumen. Birgit Minichmayr (Karoline) und Nicholas Ofczarek (Kasimir) erwiesen sich einmal mehr als kongeniales und originäres Bühnenpaar. Birgit Minichmayrs Karoline war penetrant schrill, einschmeichelnd, naiv, verschlagen und ungeheuer sexy. Letzteres konnte von Nicholas Ofczarek nicht behauptet werden. In seinen Strickhosen wirkte er von vertrottelt bis animalisch. Er war der unbestrittene Souverän des Abends, von urgewaltiger Kraft und einer feinen Spitzfindigkeit im Spiel gleichermaßen. Das zweite Bühnenpaar Bibiana Beglau (Erna, Schürzinger, Rosa) und Shenja Lacher (Merkl Franz, Jakob) ließen sich vom ersten allerdings nicht den Schneid abkaufen. Mit extremen körperlichen Einsatz und höchster Konzentration schufen sie einen gelungenen Gegenpol zum Hauptdarstellerpaar in einem Schlachtfest, in dem der so genannte „gute Geschmack“ entleibt wurde.
Was Castorf seinen Schauspielen abverlangte, war bisweilen grenzwertig. Shenja Lacher spielte beispielsweise seinen Part (in der dritten Vorstellung) trotz strömenden Blutes unbeirrt zu Ende. Der Reigen des donnernden Proletariats wurde von Götz Argus abgerundet. Als Karolines Papa spielte er selbstbewusst seine „Gewinnermentalität“ aus, denn als Lokomotivführer war er pensionsberechtigt. Er hatte es geschafft. Doch auch als Bourgeois Rauch trieb er sein Selbstverständnis auf absurde Höhen. Jürgen Stössinger punktete in erster Linie als Karolines Mutter. Seine Karikatur einer alten (Klo-)Frau war Slapstick. Mit Tatjana Lindl (Elli, Lippennegerin) und Mai-Thy Hoang (Maria, Gorillamädchen) wurde das Spektakel erst zu Oktoberfest mit Abnormitäten und prallbusigen Wiesenluder.
Es sollte jedem klar sein, dass im Residenztheater unter „Kasimir und Karoline“ von Ödön v. Horváth nicht „Kasimir und Karoline“ von Ödön v. Horváth zu sehen ist. Zur Aufführung kommt ein dramatischer Diskurs über den (heutigen) Zustand der Welt von Frank Castorf mit dem (mehr oder weniger zutreffenden) Titel: „Kasimir und Karoline“ von Ödön v. Horváth.
Es sollte auch klar sein, dass diese Inszenierung, wie viele andere von Castorf ebenso, die Zuschauer an die Grenzen bringt. Die mehr als vier Stunden bergen Unverdauliches, auch Langatmiges und Banales. Wer diese vier Stunden allerdings durchhält, und das sind erstaunlich viele Zuschauer, erlebt immerhin einige genialische Szenen und die Darsteller von einer (fast privaten) Seite, wie man es sehr selten zu sehen bekommt. Ganz im Sinne Castorfs: „Ein bisschen weh tun muss es!“, bleibt dieser Abend in jedem Fall nachhaltig im Gedächtnis.
Wolf Banitzki
Kasimir und Karoline
von Ödön von Horváth
Götz Argus, Bibiana Beglau, Mai-Thy Hoang, Shenja Lacher, Tatjana Lindl, Birgit Minichmayr, Nicholas Ofczarek, Jürgen Stössinger
Regie: Frank Castorf |
Residenztheater Zur Mittagsstunde von Neil LaBute
Wenn es an Moral mangelt
Es geschah zur Mittagsstunde. Ein Mann im Militarylook, bewaffnet mit Maschinenpistole und Messer, betrat die Büroräume einer Firma, in der er selbst vor kurzem noch angestellt war. Er eröffnete das Feuer und erschoss annähernd 40 Mitarbeiter. Einer Kollegin, die sich tot gestellt hatte, um dem Massaker zu entgehen, schnitt er die Kehle durch. John Smith, er hielt sich ebenfalls in den Räumen auf, versuchte zu fliehen, als er plötzlich eine Stimme, die Stimme Gottes, hörte, die ihm befahl, sich nicht von der Stelle zu rühren. Dann würde er errettet. Tatsächlich überlebte er als einziger das Massaker. Der Amokläufer richtete sich selbst.
John Smith, ein farbloser, unauffälliger, sich durch nichts auszeichnender Zeitgenosse, war Gott begegnet und wusste, dass er sein Leben ändern musste. Er wollte von nun an gut sein und von Gottes Güte Zeugnis ablegen. Er fühlte sich als ein Berufener, ein Erwählter. Als ein Messias gar? Nein, so stellte es sich nicht dar. Zweifel kamen auf, als bekannt wurde, dass er in höchster Gefahr ein Foto vom Tatort machen konnte, welches den Täter und einige Teile der Opfer zeigte.
Norman Hacker präsentierte dem Publikum über lange Zeit einen Smith, der glaubhaft seine Epiphanie vermittelte. Smith suchte einen Anwalt auf, und präsentierte diesem das Foto. Arnulf Schumachers Anwalt war verschlagen, feist, ordinär im Denken und von korrupter Gesinnung, einer der sofort Witterung aufnahm nach der Farbe des Geldes, als er das blutrünstige Bild sah. Nun, es kann ja wohl nicht schaden, wenn man bei einer göttlichen Mission finanziell gut ausgestattet ist. Darin herrschte Einigkeit. Und ein warmer Dollarregen ging nieder auf den Erleuchteten.
Doch bereits der erste Versuch, ein guter Mensch zu sein, scheiterte. Smith hatte ein Grundstück gekauft und offenbarte seiner Ex-Ehefrau Ginger, dass er an dieser Stelle, mit der sich romantische Erinnerungen verbanden, ein Haus bauen wolle, worin die Familie wieder zusammenkommen sollte. Katrin Rövers Ginger holte Smith nüchtern und bestimmt auf den Boden der Realitäten zurück. Und diese Realitäten besagten, dass John ein beziehungsgestörter Lügner war. Sie beendete die Farce sehr selbstbewusst und verschwand. In diesem Sinn setzte sich die Geschichte fort. Smith versuchte seine Ex-Geliebte Jesse, gestaltet von einer flippig-bissigen Andrea Wenzl, auf seine Seite zu ziehen, um einen Neuanfang unter veränderten Vorzeichen zu wagen. Doch Jesse hatte John längst durchschaut. Auch sie ließ ihn abblitzen und Smith fiel im Zustand der Erregung auffällig oft in seine zynisch verachtende Diktion zurück.
Es war schwer für John Smith, gut zu sein, obgleich er mit dem Brustton der Überzeugung das Gegenteil predigte. So versuchte er auch Gigi, eine Prostituierten und die Tochter der gemeuchelten Kollegin zu einem gottgefälligen Leben zu überreden. Friederike Ott, deren Laszivität immer wieder an den Klippen nüchternen Semantik in der Beschreibung und Darstellung ihrer Profession zerbrach, kreierte ein bedauernswertes Geschöpf. Gigi, die ihren wirklichen Namen angstvoll verleugnete, da sie sich schamhaft ertappt fühlte, war dünnhäutiger, als sie zu vermitteln versuchte. So wurde sie letztlich devotes (und bezahltes) Opfer der verbalen Unterwerfung durch Smith.
Das eigentliche Desaster hatte Smith allerdings in der Talkshow von Jenny erlitten. Michaela Steigers Jenny, war eine typische Vertreterin einer wahrhaft zynischen Medienwelt, in der die Gäste lediglich als Stichwortgeber für die profilierungssüchtigen und selbstverliebten Moderatoren engagiert werden. So landete seine messianische Botschaft auf recht erbärmliche Weise im Orkus der Lächerlichkeit. Als der Polizeiinspektor, schneidend scharf von Sierk Radzei gegeben, ihm schließlich versprach, ihn und seine Lügen zur Strecke zu bringen, sollte man meinen, Smith gebe auf. Weit gefehlt, wie das letzte Bild verdeutlichte.
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Norman Hacker
© Hans Jörg Michel
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In dieser Welt bahnen sich vornehmlich die absurdesten Ideen und Figuren ihren Weg durch den Dschungel der Orientierungslosigkeit. Das Schlimmstmögliche wird nicht selten das Wahrscheinliche. Oder, wie Oliver Stone über G.W. Bush sinngemäß sagte: Ein Exalkoholiker, der zu Gott gefunden hat, ist das Schlimmste, was uns passieren konnte. (Der Regisseur entstammt einer guten alten republikanischen Familie!)
Regisseur Wilfried Minks erzählte die Geschichte um den Erleuchteten und zum Berufenen aufgestiegenen John Smith schnörkellos und bedrückend nüchtern. Das vom Regisseur geschaffene Bühnenbild war ausschließlich funktional, und in der utilitaristischen Reduktion beeindruckend wie alte japanische Architektur. Landschaften wurden großflächig projiziert. Wie alle Stücke von Neil LaBute, hat auch dieses einen starken Plot. Auf den verließ sich Regisseur Minks und steuerte seine Inszenierung sicher ans Ziel.
Eine sehenswerte Aufführung, die sehr nachdenklich macht in Zeiten neu aufkeimender Religiosität, die auf allen Seiten in Fundamentalismus zu münden droht. In Zeiten der Orientierungslosigkeit und des Werteverfalls sind moralische Aufhänger gefragt. Es spricht nicht unbedingt für die Spezies Mensch, dass überwiegend religiöse, also scheinbar von Gott (oder Göttern) formulierte Moralgesetze obsiegen. Diese werden als absolut und verbindlich angesehen. Durch demokratische Parlamente erarbeitete Gesetze, die auf der Basis der Vernunft fußen, werden inzwischen von den christlichen Taliban ebenso verleugnet wie von den moslimischen.
Empfehlenswert wäre, ehe wir neuerlich von Erleuchteten zum „wahren Glauben“ und zur „wahren Moral“ erweckt werden, mal wieder in die Heiligen Schriften zu schauen, um zu begreifen, wie widersprüchlich, ignorant und dümmlich versucht wird, Menschenmassen vom Denken abzuhalten. Auslöser für LaBute war die Geschichte der Wandlung des Saulus, der zahllose Christen getötete hatte, zum Paulus, der dann als moralische Instanz das Wort Gottes verkündete. Eine beeindruckende Geschichte, ausgerechnet einen Schlächter zu erwählen. Aber in der selben Heiligen Schrift wird beispielsweise auch die Geschichte von Lot erzählt, der einzige (!) von Gott ausgemachte gute Mensch in Sodom, der mit seiner Familie den Untergang der Stadt überlebte. Nachdem zwei männliche Engel die Behausung Lots besuchten, um ihm zu offenbaren, dass er die Stadt schnellstens verlassen müsse, da sie dem Untergang geweiht sei, rotteten sich die Bürger vor Lots Wohnstatt zusammen. Sie forderten von Lot: „Wo sind die Männer, die zu dir gekommen sind diese Nacht? Führe sie heraus zu uns, damit wir uns über sie hermachen.“ (1. Mose 19,5) Was antwortete der Mann, der von Gott als der einzige moralische Mensch ausgemacht wurde? „Ach, liebe Brüder, tut nicht so übel! Siehe, ich habe zwei Töchter, die wissen noch von keinem Manne; die will herausgeben unter euch, und tut mit ihnen, was euch gefällt; aber diesen Männern tut nichts, denn darum sind sie unter den Schatten meines Daches gekommen.“ (1. Mose 19,7-8)
Es sei noch einmal darauf hingewiesen: Es gibt Menschen, die nehmen die Heiligen Schriften wörtlich, denn ihnen wird von „heiligen Männern“ garantiert, dass es sich um Gottes Wort handelt. John Smith, ein Nobody, glaubte von sich, so ein heiliger Mann zu sein. Wehe dem, der ihm glaubt.
Wolf Banitzki
Zur Mittagsstunde
von Neil LaBute
Norman Hacker, Friederike Ott, Sierk Radzei, Katrin Röver, Arnulf Schumacher, Michaela Steiger, Andrea Wenzl
Regie: Wilfried Minks |