Werkraum Schnapsbudenbestien Folge 2 Etienne  Theaterserie nach Émile Zola


Die Schnapsbudenbestien proben den Aufstand

Der zweite Teil der vierteiligen Theaterserie „Schnapsbudenbestien“ nach Émile Zola ist inspiriert von dem Roman „Germinal“. Darin erzählt Zola die Geschichte eines Streiks in einer Fabrikgesellschaft. Matthias Günther führte im zweiten Teil den Untergang der Familie von Gervaise Macquart weiter voran. Der Sohn Etienne bewirbt sich in einer Fabrik der Gesellschaft, wo er den ehemaligen Preisboxer und Schmied Maheu wieder begegnet, der ihm einstmals eine Ausbildung verschafft hatte. Maheu, er bekleidet den Posten des Vorarbeiters, lebt inzwischen mit Virginie zusammen und hat mit ihr zwei Kinder, Johannes und Katharina. Die beiden sind ebenfalls in  der Fabrik beschäftigt. Virginie lässt sich und somit auch die Familie von einem Geschäftsinhaber namens Pierron aushalten, der die Hoffnung hegt, Katharina in sein Bett zu bekommen. Maheu, der über die Zustände, die Familie mit seiner Hände Arbeit nicht erhalten zu können, verzweifelt, verfällt zunehmend dem Alkohol.

Die Gesellschaft beutet ihre Angestellten gnadenlos aus und kürzt immer wieder willkürlich die Löhne. Der Lebensstandard ist erbärmlich und die Arbeiter können mit ihrem Lohn sich und ihre Familien nicht mehr ernähren. Etienne, der Dank der Fürsprache Maheus einen Job bekommen hat, begehrt auf und organisiert einen Streik. Als Maheu und Etienne, der sich inzwischen in Katharina verliebt hat, als Abgeordnete der Streikenden der Leitung der Fabrik gegenüberstehen, ist das Erstaunen groß, denn der Chef ist niemand anderes als der Parasit Lantier, Etiennes Vater. Lantier hält sich die junge Aubray als Mätresse. Seinen Hofstaat ergänzt der ehemalige Schnapsbudenbesitzer Souvarine. Lantier intrigiert eloquent und versucht die Arbeiterschaft zu spalten, in dem er dem Arbeiter Chaval Avancen macht und ihm einen Führungsposten in Aussicht stellt. Chaval unterhält ein recht ruppiges Liebesverhältnis zu Katharina. Als der Streik schließlich ein Todesopfer fordert, zerbricht die Familie Maheus. Der Streik scheitert und die Arbeiter müssen zu Kreuze kriechen, um die elende Arbeit nicht gänzlich zu verlieren. Lantier, der mit eiserner Hand die Interessen der Gesellschaft bestens vertreten hat, wird in die Leitung nach Paris berufen. Aubray bleibt nichts anderes übrig, als sich dem zurückbleibenden Souvarine an den Hals zu werfen.

Sina Barbra Gentsch hatte auch für diese „schnelle Theaterskizze“ die Bühne bereitet. Ein Podest, auf dem die Firmenleitung, also Lantier und Souvarine, nebst der jungen Aubray, an reich gedecktem Tisch residierten, stellte zugleich mit der unteren Ebene die Produktionsstätten vor. Die Decke des Podestes war so niedrig, dass die Darsteller nicht aufrecht stehen oder gehen konnten. Sie bewegen sich vornehmlich auf Schreibtischstühlen hin und her. Das Wort bedrückend, und die Verhältnisse, in denen die Arbeiter vegetieren mussten, verdienen dieses Attribut, bekam so einen physischen Ausdruck. Im Gegensatz zum ersten Teil, wurden in dieser Inszenierung die gesellschaftlichen Zusammenhänge deutlicher herausgestellt. Es wurde eine Kapitalismuskritik formuliert, die allerdings nur grob umrissen artikuliert wurde. Es war die Zeit des beginnenden Klassenkampfes, also einer Zeit, als die Konflikte noch nicht die heutige Komplexität und Undurchschaubarkeit besaßen. Dennoch waren die Parallelen zu heute zwingend, denn der Charakter der Gesellschaft hat sich seither nicht verändert, nur ihr Erscheinungsbild.

Im Gegensatz zum ersten Teil, in dem eine deutliche Überzahl an Schauspielern der Kammerspiele zu erleben waren, rekrutierte sich das Ensemble nun überwiegend aus SchauspielstudentInnen der Otto Falckenberg Schule. Das machte sich natürlich im Spiel deutlich bemerkbar. Während Walter Hess (Souvarine), Oliver Mallison (Maheu) und Edmund Telgenkämper (Lantier) mit darstellerischer Konstanz an die Gestaltung im ersten Teil anknüpfen konnten, erwies sich beispielsweise die Rollengestaltung Alina Stieglers als Virginie problematisch. Im ersten Teil gab sie eine stimmige Vorstellung von einem Mietskasernenmädchen, das dümmlich und devot genug war, sich von Lantier verführen zu lassen. Im zweiten Teil hingegen agierte sie so schrill und entfesselt, dass sie übers Ziel hinausschoss und an Glaubwürdigkeit verlor. Ganz anders hingegen stellte sich die Entwicklung Etiennes dar. Im ersten Teil der pubertierende, linkische und hysterische Knabe, brillierte Merlin Sandmeyer im zweiten Teil als gereifter, selbstbewusster junger Mann, der seine auffälligen Anlagen nicht verleugnete. Er erinnerte physisch und gestisch an den jungen Woody Allen, nur mit einer besseren Sprechkultur als dieser. Seine außerordentliche Begabung war, wie auch schon bei Anna Drexler, die die Aubry gab und die nach ihrer Aushilfe in „Onkel Wanja“ sofort ins Ensemble übernommen wurde, nicht zu übersehen.

Der Rolle des Chaval konnte Philipp Basener einen recht herben Charakter verleihen, dem sowohl der anpackenden Arbeiter, als auch der unsensiblen Liebhaber innewohnte. Nurit Hirschfeld hatte als Katharina eine große Rolle, dennoch gelang es ihr nur bedingt, einen tieferen Eindruck zu hinterlassen. Ähnlich erging es auch den anderen jungen Darstellern. Das war ganz sicher kein Ausdruck mangelnden Talents, sondern das Ergebnis des Konzeptes. „Schnelle Theaterskizzen“ bedeuten kurze Probenzeiten. Da darf man unmöglich erwarten, dass die Schauspielstudenten, die gerade einmal im zweiten Ausbildungsjahr sind, zudem noch über wenig Bühnenerfahrung verfügen, vielschichtige Charaktere präsentieren können. Dennoch muss man den engagierten und hoch motivierten Darstellern Lob zollen, gelang es ihnen unter der Federführung Matthias Günthers immerhin, die Geschichte glaubhaft zu erzählen. Und darauf kommt es wohl am ehesten an. In jedem Fall ist es lobenswert, dass die Münchner Kammerspiele der jungen Generation überhaupt so eine Chance einräumt. Auch nach dem zweiten Teil bleibt die Spannung auf die Fortsetzung.


Wolf Banitzki

 


Schnapsbudenbestien Folge 2 Etienne 

Theaterserie nach Émile Zola

Philipp Basener, Jonathan Berlin, Anna Drexler, Daniel Gawlowski, Walter Hess, Nurit Hirschfeld, Oliver Mallison, Merlin Sandmeyer, Alina Stiegler, Edmund Telgenkämper

Regie: Matthias Günther

Werkraum Schnapsbudenbestien Folge 1: Gervaise nach Émile Zola


 

 

Gervaise oder Abwärts

Émile Zola war schon frühzeitig von seiner literarischen Begabung und von einem unausweichlichen Erfolg als Schriftsteller überzeugt. Sein Leben verlief, obgleich er aus einer gutbetuchten Familie stammte, nicht frei von Höhen und Tiefen. Dreizehnjährig musste er nach dem überraschenden Tod des Vaters den finanziellen Ruin der Familie miterleben. Neunzehnjährig fiel er zweimal bei den Baccalauréats-Prüfungen (Abitur) durch und musste sich als Ungelernter auf dem Arbeitsmarkt begeben. Seinen ersten Job als Schreiber im Zollamt warf er bereits nach zwei Monaten wieder hin. In dieses Jahr (1860) fiel auch seine erste große Liebe. Das Mädchen hieß Berthe und war Prostituierte. Diese Beziehung wurde für Zola zum ersten sozialen Experiment, das an der harten Realität der Pariser Armenviertel scheiterte. Er versucht Berthe zur Arbeit und zu einem geordneten Leben zu motivieren, um sie aus der Lethargie ihres elenden Daseins zu befreien. Sieben Jahr später hatte Zola mit dem Roman „Thérèse Raquin“, die Geschichte einer Ehebrecherin und Mörderin im Pariser Kleinbürgermilieu, seinen literarischen Durchbruch. Das Buch avancierte wegen seiner ungeschönten Darstellung der Verhältnisse zum Manifest des Naturalismus. Als unermüdlich schreibender Journalist hatte Zola stets den Finger am Puls der Zeit. An Stoffen mangelte es nicht und sein literarisches und journalistisches Gesamtwerk ist schier unüberschaubar.

Drei Romane aus der Feder des großen französischen Romanciers werden heute noch gelesen: „Der Totschläger“ (1877) beschreibt das Schicksal einer Wäscherin und den Verfall ihrer Familie durch die Folgen des Alkoholismus im Pariser Unterschichtenmilieu. Im 1879/80 entstandenen Roman „Nana“ wird vom Aufstieg und Fall einer mit auffällig schönen körperlichen Reizen ausgestatteten jungen Frau berichtet, die sich zu einer kostspieligen Kurtisane entwickelt und am ausschweifenden und zügellosen Leben zugrunde geht. Der Roman „Germinal“ hingegen greift über persönliche Schicksale der Protagonisten hinaus und entblößt gesellschaftliche Mechanismen, die im Spannungsfeld eines dramatischen Bergarbeiterstreiks deutlich werden. Zola war ein sozial engagierter Bourgeois, dem die aufkommenden Lehren der Arbeiterbewegung bekannt waren und deren Ziele er durchaus guthieß.

Regisseur Matthias Günther hat aus dem Material dieser Romane eine Theaterserie entwickelt, deren Dramaturgie sich am Lebensweg einiger ausgewählter Protagonisten entlang hangelt. Der erste Teil erzählt von der Wäscherin Gervaise Macquart, die von ihrem Liebhaber Auguste Lantier verlassen wurde, nachdem sie gemeinsam zwei Knaben gezeugt hatten, Claude und Etienne. Gervaise ist eine fleißige und tugendhafte Frau, die plötzlich völlig mittellos ist. Verzweifelt und widerstrebend erliegt sie dem Werben des ehrbaren, aber auch leichtfüßigen Zinkarbeiters Coupeau. Sie bekommen eine Tochter namens Nana. Und da beide hart arbeiten, scheint ein gewisser Wohlstand greifbar zu sein. Gervaise träumt von einer eigenen kleinen Wäscherei. Als Coupeau einen Arbeitsunfall erleidet und Monate ans Bett gefesselt ist, schmilzt das Ersparte schnell dahin. Wieder genesen, findet Coupeau, der sich an das Nichtstun gewöhnt hat, nicht mehr ins Arbeitsleben zurück und wird Stammgast in der Schnapsbude Souvarines. Gervaise borgt sich Geld und mietet einen Laden an, in dem sie eine Wäscherei betreibt. Sie schafft es eine zeitlang, die Familie durchzubringen. Sohn Etienne geht zu dem befreundeten Preisboxer und Schmied Maheu in die Lehre. Als Coupeau eine Freundschaft mit Gervaises Ex-Liebhaber Lantier eingeht, wird das letzte Kapitel der Familie eingeläutet. Die Jungen werden zur Arbeitssuche aus dem Haus geschickt, nachdem Gervaises Geschäft in den Bankrott geschlittert ist, weil sie sich, ermüdet von der übermenschlichen Aufgabe, gehen ließ und ihre Kunden verlor. Sie beginnt ebenfalls zu trinken und sinkt auf das Niveau einen Straßenhure hinab. Die boshafte Nachbarin Virginie Lorilleux, mit deren Schwester sich Lantier dereinst aus dem Staub gemacht hatte, triumphiert über Gervaise. Die Ahnungslose wird das nächste Opfer des Parasiten Lantier und verliert alles. Nana wächst zu einem berechnenden und egoistischen Mädchen heran, das sich schon früh von Männern aushalten lässt. Das einstündige Drama im Werkraum endete damit, dass der betrunkene Coupeau, im Roman endet er in der Irrenanstalt, auf dem Tisch der Schnapsbude ein endloses Geheul anstimmte.

Matthias Günther testete diesen Stoff auf seine Tauglichkeit für das Theater im Heute und schnell wurde klar, er ist tauglich. In einem minimalistischen Bühnenbild von Sina Barbra Gentsch, bestehend aus zwei Biergartengarnituren und einer Toilettenzeile, agierten die Darsteller in z.T. prolligen Kostümen, wie man sie täglich im Privatfernsehen bewundern kann, wenn die als Talkshows getarnten Menschenzoos öffnen, in denen man die Unterprivilegierten der Gesellschaft ausstellt. Çigdem Teke gab überzeugend eine eingangs kämpferische, zuletzt aber erschöpft resignierte Gervaise. Edmund Telgenkämpers großer Zampano Lantier überzeugt schon durch seine Physis. Bei ihm reichen bereits Andeutungen, um Furcht erregend und einschüchternd zu wirken. Er repräsentierte den Typ Alphamännchen, das großmäulig ins Leben startet, alles bekommt, was er will, vornehmlich die empfängnisbereiten Schönen wie Virginie, Alina Stiegler als billige Kokette im Legginsdarm, und dann erbärmlich scheitert. Stefan Merki spielte einen unglaublich agilen und liebenswerten Coupeau, dem man seinen Verfall wegen seiner lebenslustigen und sinnlich überschäumenden Art nur schwer übel nehmen konnte. In ihm steckte eine gehörige Portion Opfer seiner selbst. Das Knabenpaar Etienne und Jacques, körperlich clownesk und stark überzeichnet in ihrer pubertären Geisteshaltung gespielt von Merlin Sandmeyer und Christian Löber, trugen enorm zur Erheiterung des Publikums bei. Als Schnapsbudenbesitzer Souvarine kommentierte Walter Hess die Vorgänge von durchaus moralischen Positionen herab. Oliver Mallisons zurückhaltender Preisboxer und Schmied Maheu brachte eine fühlbare Melancholie in ein Spiel, das eigentlich tiefe Trauer erzeugen sollte, es aber (Matthias Günther sei Dank!) nicht tat. Marie Jung hielt sich als „Lolita“ Nana vorerst noch zurück und deutete nur an, was in einer der kommenden Folgen hoffentlich noch erzählt wird.

Das einstündige Drama war ein verknapptes, rasant von einer Lebenssituation in die nächste springendes Kunstkonstrukt aus dichter, praller Sprache, das dem Publikum nicht mit Sozialstudien oder moralinsauren Gesellschaftsbetrachtungen auf den Leib rückte. Der Autor/Regisseur behandelte das Publikum als mündige Bürger, bei denen man voraussetzen konnte, dass sie die Parallelen sehen und ihre Schlüsse ziehen können. Nach diesem Abend drängte sich zum Beispiel die Frage auf: Kann es wirklich sein, dass der Mensch und auch die Gesellschaft sich in den letzten einhundertfünfzig Jahren so wenig entwickelt hat?
Man kann gespannt sein, wie es weitergehen wird. Der nächste Teil ist mit Etienne überschrieben und behandelt den Lebensweg der Kinder von Gervaise.

 

Wolf Banitzki

 

 


Schnapsbudenbestien Folge 1: Gervais

Eine Theaterserie nach Émile Zola

Walter Hess, Marie Jung, Christian Löber, Oliver Mallison, Stefan Merki, Merlin Sandmeyer, Alina Stiegler, Çigdem Teke, Edmund Telgenkämper

Regie: Matthias Günther

Werkraum Bauern Sterben von Franz Xaver Kroetz


 

 


Mehr Ärgernis als sinnstiftende Kunst

 

Schwer vorstellbar, dass dieses Thema aktuell sein könnte, und so richtig springt es einen auch nicht an. Schleichend hat sich die Industrialisierung der Landwirtschaft vollzogen und niemand schert sich darum. Hauptsache ist, die Nahrungsmittel sind billig. Und wer gehobenere Ansprüche an die Herstellung der Nahrung hat, der geht in einen der teuren Ökoläden, die Hochkonjunktur haben. Doch darum ging es Franz Xaver Kroetz in seinem 1985 an den Kammerspielen uraufgeführten Drama nicht. Ihm ging es um den Generationenkonflikt, den Wertewandel, die Urbanisierung des Lebensraums und um den daraus resultierenden Niedergang einer ganzen bäuerlichen Kultur. Der Bauer ist ein Mensch von ganz besonderer Prägung. Seine jahrhundertealte Verbundenheit zur Scholle hat ihn zum Teil derselben gemacht. Sie hat ihn ernährt und sie hat ihn beschützt. Wen wundert es da, dass er sich ungern von ihr trennt und wenn es auch nur auf dem Weg des Vererbens ist. Was aber, wenn die junge Generation ein anderes Leben leben möchte, eines ohne die immensen Zwänge des täglichen Hamsterrades.

 

André Jung gab im Werkraum der Münchner Kammerspiele einen solchen knorrigen Bauern, der kein Jota von seinem Besitzanspruch abwich. Nichts würde er hergeben, auch und vor allem den Fernseher nicht. Seine Frau, gespielt von Michael Tregor, nahm es gelassen. Sie hatte sich in das patriarchalische System eingefügt, dachte nicht einmal an Aufbegehren, und schaute, dass die Arbeit gerecht verteilt war, also vornehmlich auf die anderen. Zu kurz bei der Arbeit kamen die Tochter, eine in Sackleinen versunkene Marie Jung, und der Sohn, proper-ländlich gespielt von Thomas Schmauser, nicht. Sie ergriffen schließlich die Flucht vor der väterlichen Willkür und dem bäuerlichen Dasein. Die Stadt war dennoch kein Zuckerschlecken, auch wenn sie im Rohbau eines Appartements unterkamen. Der Traktor war gegen diesen Luxus eingetauscht worden. Jetzt hieß es arbeiten. Der Bruder arbeitete und büßte Finger ein. Schmerzhaft und blutig stellte sich das Ganze dar. Langsam aber sicher wurde die Stadt als feindlich ausgemacht.

 

Eine Menschin schickte sich an, den freiwilligen Feuertod zu sterben. Ursula Werner ließ in ihrer Abgeklärtheit keinen Zweifel daran. Und die Schwester? Sie begann, das Haus zu verlassen. Das war nicht, was der Bruder im Sinn hatte. Er wollte einen Mann erwählen, mit dem sie, in der sich Selbstbewusstsein regte, das Haus verlassen könnte. Doch dazu musste sie sauber sein. Eine Unsaubere nimmt niemand. Das hatte man auf dem Dorf gelernt. Und Jesus lächelte dazu. Lasse Myhr, mit Lendenschurz und Ährenkrone nur dürftig verhüllt, wandelte über den Köpfen der Darsteller und wunderte sich, bis auch er zu Bruch ging und verendete. Ein Bauer aus Kroatien fuhr nach zwei Jahren Gastarbeit in Deutschland in die Heimat, um seine Frau und seine Kinder zu töten, und um danach wieder nach Deutschland zurückzukehren. Im Wald machte sich ein Bauer im wahrsten Sinn des Wortes zum Affen, als er um seine Scholle kämpfte. Am Ende erfuhren die Zuschauer in einem Rückblick, warum sich die Menschin aus dem Leben verabschieden wird …

 
  Bauernsterb  
 

Marie Jung, Lasse Myhr, Thomas Schmauser

© Conny Mirbach

 

 

Es ist ein Stück aus archaischen Bildern, holzschnittartig und übermächtig. Neben Kroetz kommen Heiner Müller und Nicholas St. John zu Wort, was Sinn machte, angesichts des Damoklesschwertes, denn so stellte sich ihre Existenz dar, das über diesen Menschen schwebte. Allein, der Rahmen, den Armin Petras den existenzialistischen Szenen einräumte, war eng, zu eng. Dabei war es nicht einmal das labyrinthische Bühnenbild von Olaf Altmann aus Baurüstungen, das nur Ducken und Kriechen, oder Klettern und Hangeln zuließ, das die Vorgänge banalisierte. Es war das über weite Strecken laxe, unartifizielle, zum Teil private Spiel der Darsteller. Während Lasse Myhr sich allzu oft ein Lächeln des persönlichen Amüsements nicht erwehren konnte, gab Thomas Schmauser, der den tragenden Part im Stück hatte, dem Affen Zucker. Wie schon im „König Lear“ entstand der Eindruck, dass dieser wunderbare Darsteller an seiner Rolle verzweifelte. Es wurde hemmungslos mit dem Publikum kommuniziert; es wurde gekalauert, und vermutlich auch kräftig extemporiert. Dabei wurde nicht geblutet, sondern viel Blut verspritzt; es wurde nicht gelitten, sondern Leid wurde bloße Behauptung, obgleich sich exzessiv in Dreck und Blut gewälzt wurde.

 

Petras szenische Lösungen waren selbstgefällig und oberflächlich. Sie gerieten nur aus einem einzigen Grund nicht zum Desaster: weil die Darsteller in die Bresche gingen und die Zuschauer durch menschliche Nähe versöhnten. Schließlich, und das ist ein alter dramaturgischer Trick, gelangen es André Jung als Bauer aus Kroatien und Ursula Werner als Menschin mit großer Gelassenheit und erschütternder Intensität einen Schlussstein in ein bis dahin vom Einsturz gefährdeten Gebäude zu setzen.

 

Das durchaus übersichtliche und in sich schlüssige Konzept, wie im Programmheft in Form von Textauszügen abgedruckt war, kam in der Inszenierung kaum zum Tragen. Große, archaische Bilder vertragen eben keinen zappeligen Aktionismus. Die Fragen zur Ästhetik blieben jedenfalls unbeantwortet. Diese Ästhetik war von durchschlagender Wirkungslosigkeit, zumindest was die Botschaft des Stückes betraf. Dreckfresserei, wenn es Schauspieler machen müssen, erzeugt beim Publikum Mitleid mit den Schauspielern und nicht mit den Figuren, die sie darstellen. In diesem Sinn war der Abend mehr Ärgernis als sinnstiftende Kunst. Daran änderte auch die wunderbare Musik von Miles Perkin nichts.

 

 
 
Wolf Banitzki


 


Bauern Sterben

von Franz Xaver Kroetz

 

Marie Jung, André Jung, Lasse Myhr, Miles Perkin, Thomas Schmauser, Michael Tregor, Ursula Werner

Regie: Armin Petras

Werkraum Erklär mir Leben nach Olgas Raum von Dea Loher


 


Der Mensch als Folterer und Gefolterter

 

Der Abend unter dem Titel „Erklär mir, Leben“ im Werkraum der Münchner Kammerspiele erzählte die Geschichte der kommunistischen Jüdin Olga Benario, die 1942 nach einem langen Leidensweg durch verschiedene Gefängnisse und Konzentrationslager in der Tötungsanstalt Bernburg vergast wurde. Grundlage für die von Thomas Schmauser eingerichtete Inszenierung war der Text „Olgas Raum“ von Dea Loher. Die 1908 in München geborene Olga war bereits mit zwanzig Jahren militante Kommunistin, die 1928 an der Befreiung des Kampfgefährten Otto Braun aus dem Moabiter Untersuchungsgefängnis beteiligt war. Es folgte Flucht in die Sowjetunion und schließlich das Zusammentreffen mit dem Brasilianer Luiz Carlos Prestes, in den sie sich verliebte und mit dem sie zusammen im brasilianischen Untergrund kämpfte. 1935 schlug die brasilianische Armee den Aufstand nieder. Prestes erhielt eine Gefängnisstrafe von 47 Jahren. Olga, von Prestes schwanger, übergaben die Behörden 1936 der Gestapo. Per Schiff brachte man sie nach Deutschland, wo sie im Gefängnis von ihrer Tochter Anita entbunden wurde.

Regisseur Thomas Schmauser lässt die Geschichte aus der Zelle im brasilianischen Gefängnis von Olga Benario heraus erzählen. Aufgefordert wurde sie von der Mitgefangenen Genny, die an den Bedingungen in der Haft zu zerbrechen drohte. Olga erzählte ihr an der Mutter statt Geschichten, damit Genny schlafen konnte. Es waren nicht immer wahre Geschichten, denn diese eigneten sich wahrlich nicht zum Einschlafen. Schließlich gab es noch Filinto Müller, einst verdienstvoller Major unter dem Kommando von Prestes, dann übergelaufen und jetzt oberster Folterknecht der Junta. „Ich bin auf der Seite des Stärkeren, ja, ich kämpfe für die Seite der Macht, für die Seite des Rechts. Der Schwache hat kein Recht zu existieren…“ Im Verlauf der Handlung stellte sich heraus, dass dieser Mann längst den Verstand eingebüßt hatte, ebenso, wie die Gefolterten den Verstand zu verlieren drohten. Filinto Müller wiegelte die Gefangenen durch gezielte Fehlinformationen gegeneinander auf. Am Ende blieb für Olga nur noch die Einsicht: „Der einzige Weg, keine Heldin zu sein, keine Märtyrerin, kein Opfer, ist, ich mache mich zur Mitwisserin, Mittäterin. Ich foltere selbst. Foltere jeden. (…) Mich eingeschlossen. Ich foltere mir mein Hirn tot.“

Obgleich der Text von Dea Loher durch starke Bilder und direkte Sprache sehr unmittelbar das Gefühlsleben der Gefolterten und der Folterer transportiert, inszenierte Thomas Schmauser einen philosophischen Ansatz, der weiter reichende Fragen stellte, als die nach menschlicher Schwäche. Er hinterfragt die Weltgeschichte nach der Möglichkeit, diese Gewaltorgien, wie sie sich durch die Jahrhunderte zogen und immer noch ziehen, die permanente Zerstörung der menschlichen Würde zu beenden. Der Satz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ bekommt angesichts dieser Geschichte einen zynischen Beigeschmack, ebenso wie die Behauptung, die heutige (deutsche) Demokratie ist die bestmögliche. Wenn sie die bestmöglich ist, so kann das nur traurig stimmen.

Wie schon in „Du mein Tod“ (Premiere am 13.05.2012) arbeitete Thomas Schmauser auch diesmal mit Ursula Werner, Peter Brombacher, Barbara Dussler, Morgane Ferru und dem Musiker Ivica Vukelic, mit seiner „Theaterfamilie“, wie Schmauser sie nennt. Schmausers Bühne beschrieb mittels zwei Eckwänden, einer schwarzen für Deutschland und einer gelben für das Ausland, die Topografien der Geschichte. Einige wenige Utensilien, wie ein Amboss oder eine Schleifmaschine, brachten immer wieder die Folter oder Assoziationen davon in den Fokus des Betrachters. Die Darsteller agierten narrativ in einer schwebenden Szenenfolge. Anstelle der Aktion trat der Gestus, der mit äußerster Intensität dargeboten wurde. Barbara Dussler (Ana Libre) und Morgane Ferru (Genny) oblag es, den Folgen der Folter und ihrer Perversion ein Antlitz zu verleihen. Es war gerade die Schönheit und die Jugend der beiden Frauen, die bittere Kontraste schufen. Wirklich erschüttern und beängstigend war allerdings das Spiel Peter Brombachers als Filinto Müller. Er verkörperte nicht die Banalität des Bösen, sondern das Böse in seiner aktiven, bewussten und vorsätzlichen Form. Diese Wirkung konnte er natürlich nur freisetzen Dank der starken und intensiven Darstellung der Olga Benario durch Ursula Werner. Sie agiert, wie Brombacher auch, mit minimalistischen Mitteln.

Thomas Schmauser verband mit seiner Inszenierung einen Appell, dessen Sinn er gleichsam infrage stellte. Mit „Was wäre wenn, Deutschland …“ ließ er von Ursula Werner einen politischen Text einlesen, der einen adäquaten Umgang mit der Geschichte einforderte, um sie endlich aufzuarbeiten. Allein, die Geschichte hat bewiesen, dass es bei dem wunderbaren Gedanken „Was wäre wenn …“ in der Regel auch bleibt. Furcht vor der eigenen Schuld, Ignoranz oder einfach nur Gleichgültigkeit haben es stets erfolgreich verhindert. Auch wenn dieser Text, der wirkte, als hätte Thomas Schmauser ihn kurz vor Ultimo noch eingeschoben, aufrüttelnd und anrührend war, so verstärkte er die Wirkung der Inszenierung nicht unbedingt. Er wirkte vielmehr wie ein Appendix.

Thomas Schmauser qualifizierte den Loher Text im Programmheft wie folgt: „Es ist ein großer Text über Schmerz, der nicht über Einfühlen oder Nachempfinden funktioniert, sondern über eine Klangqualität.“ Genau diese Qualität konnte er in seiner Inszenierung sichtbar machen. Die artifizielle Ästhetik war zwingend und fesselnd. Damit hob er das Thema Folter auf eine über die sinnliche Wahrnehmung hinausreichende Stufe, ohne dem Gegenstand den Schrecken zu nehmen.

Dennoch ist ein Einsspruch angebracht. Der dargebotene Text lieferte keine realistische Charakterisierung der historischen Figuren. Es darf nicht übersehen werden, dass Olga Benario, von der DDR-SED zur Revolutionsikone stilisiert, eine durchaus gewaltbereite Frau war, die die Befreiung Otto Brauns mit Waffen angeführt hatte. Sie ließ sich in der Sowjetunion an Waffen ausbilden und die geplante Revolution in Brasilien gipfelte am 27. November 1935 in einem Putsch gegen das diktatorische Regime unter Staatspräsident Getúlio Vargas, der fehlschlug und zur fanatischen Verfolgung der Linken führte. Prestes verbüßte keine 47jährige Gefängnisstrafe, wie im Stück suggeriert, sondern kam 1945 Dank der Intervention des Schriftstellers Jorge Amado wieder frei. Er war viele Jahre kommunistischer Parteivorsitzender und bekleidete das Amt eines Distriktsenators. Die Geschichte weiß auch zu berichten, dass die Ehefrau des Generalsekretärs der KP Brasiliens nach dem Scheitern der Revolution von den Genossen als vermeintliche Verräterin ausgemacht wurde. Die Genossen, unter ihnen auch Prestes, beschlossen ihre Exekution. Sie wurde, ohne dass ihre Schuld erwiesen war, durch Strangulation hingerichtet. Prestes verließ 1982 die KP und wurde Sozialdemokrat. Nur soviel: Hier ist Vorsicht angemahnt, um nicht in eine Propagandafalle zu tappen.

 

Wolf Banitzki


 


Erklär mir Leben

nach Olgas Raum von Dea Loher

Peter Brombacher, Barbara Dussler, Morgane Ferru, Ivica Vukelic, Ursula Werner, Joachim Wörmsdorf

Regie: Thomas Schmauser

Werkraum Woyzeck / Wozzeck nach Georg Büchner, Alban Berg


 

 


Ästhetik mit Sinn

Büchners Woyzeck ist aus den deutschen und auch aus den ausländischen Spielplänen nicht mehr wegzudenken. Das Dramenfragment gehört mit Sicherheit zu dem Bedeutendsten, was an deutschsprachiger Dramenliteratur bisher geschaffen wurde. Fragt man nach dem Warum, so drängt sich eine Antwort in den Vordergrund: Woyzeck ist in seiner tiefen Tragik wohl eines der anrührendsten menschliche Wesen in der Literatur. Der einfache Soldat Woyzeck hat die Größe eines Prometheus’, nicht, weil er, abgesehen von einem Mord, eine bedeutende Tat vollbrachte, sondern weil er eine Offenbarung über das menschliche Wesen war und ist. Unter gesellschaftlichen Aspekt betrachtet, verkörpert Woyzeck die unterdrückte Kreatur an sich. Woyzeck ist der Archetypus der geschundenen Kreatur, die auf sein Menschsein nicht verzichten will.

Büchners Werk ist unzählige Male inszeniert und damit auch interpretiert worden. Man möchte meinen, aus diesem Stoff ist mehr nicht herauszuholen. Jetzt geht es nur noch darum, die ästhetischen Variablen auszuloten. Das ist wohl wahr und doch auch nicht, denn Büchners Text ist nicht so festgeschrieben, wie es scheint. Die gesellschaftliche Entwicklung, und dabei spielt die geschundene Kreatur noch immer eine bedrückend große Rolle, verändert auch Büchners Drama. Es will und muss stets neu interpretiert werden, denn es ist hilfreich zum Verständnis der jeweiligen Realität. Woyzeck ist das Fundament der menschlichen Existenz, von dem aus wir die Facetten des neuen oder auch modernen Menschen erkunden können. Woyzeck ist in uns allen. Es bedarf nur der entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnisse und deren Zuspitzung, und Woyzeck wird wieder sichtbar. Beispielsweise wenn in einer Arbeitsagentur eine Mitarbeiterin niedergestochen wird.

Auf den ersten Blick erscheint die Inszenierung des Büchnerschen Dramas durch die junge polnische Regisseurin Barbara Wysocka wie ein ästhetisches Experiment. Sie verquickte das Schauspielfragment Büchners mit der Opernfassung von Alban Berg. Dadurch gelangte sie auf den künstlerischen Interpretationslevel von Musiktheater, ohne dabei auch nur ein Quäntchen an Direktheit, von dem der Text schließlich so lange und so gut lebt, auszusparen. Die Inszenierung im Werkraum war recht aufwendig. Die Bühne (Teresa Vergho, Barbara Wysocka ) bestand aus einem Wasserbecken, umgeben von Laufstegen. Gespielt wurde vornehmlich im Wasser. Damit wurde das letzte Bild, Woyzeck tötet Marie am See und versenkt die Mordwaffe darin, bereits an den Anfang gestellt.
 
 Wozzeck

Marie Jung, Anno Kesting, Stefan Hunstein, Kristof Van Boven

© Julian Röder

 

Auf den ersten Blick erscheint die Inszenierung des Büchnerschen Dramas durch die junge polnische Regisseurin Barbara Wysocka wie ein ästhetisches Experiment. Sie verquickte das Schauspielfragment Büchners mit der Opernfassung von Alban Berg. Dadurch gelangte sie auf den künstlerischen Interpretationslevel von Musiktheater, ohne dabei auch nur ein Quäntchen an Direktheit, von dem der Text schließlich so lange und so gut lebt, auszusparen. Die Inszenierung im Werkraum war recht aufwendig. Die Bühne (Teresa Vergho, Barbara Wysocka ) bestand aus einem Wasserbecken, umgeben von Laufstegen. Gespielt wurde vornehmlich im Wasser. Damit wurde das letzte Bild, Woyzeck tötet Marie am See und versenkt die Mordwaffe darin, bereits an den Anfang gestellt.

Die Verbindung von Woyzeck (Büchner) und Wozzeck (Berg) schuf Janek Duszynski mit seinen Kompositionen. Die fast durchgängige musikalische Begleitung des Spiel wurden von den Musikern Tatjana Zivanovic-Wegele, Anno Kesting und Tobias Weber realisiert. Die Musik war zwar sehr prägnant, doch nie aufdringlich oder gar vordergründig. So recht ins Bewusstsein kam sie erst, als der Sänger Tobias Hagge die Texte des Doktors interpretierte. Barbara Wysocka vertritt bezüglich der Verquickung von Kunstformen die Ansicht: „An den Grenzen der Kunstformen entstehen die schönsten Qualitäten.“ Mit ihrer Inszenierung trat sie den Beweis an und überzeugte.

Ohne Frage war die Inszenierung ein ästhetisches Experiment, ein gelungenes wohlgemerkt, und doch ging sie darüber hinaus. Das verdankte sie in erster Linie der Interpretation der Rolle des Woyzeck durch Kristof Van Boven. In Büchners Drama haben wir es bei Woyzeck mit einem schlichten Gesellen zu tun, der, wie man heute sagen würde, einer bildungsfernen Schicht angehörte. So blieb Woyzeck nur seine Emotionalität, um die Realität (mit dem Bauch) zu begreifen. Er kann sich nicht differenziert artikulieren. Kristof Van Boven hatte ebenfalls nur den Büchnerschen Text, der sehr deutlich die intellektuellen Grenzen des Soldaten aufzeigt, doch seine körperliche Interpretation ging weit über diesen Text hinaus. Van Bovens Woyzeck war ein unter den „Schlägen des Schicksals“ vibrierendes Wesen voller Leuchtkraft. Der von den gesellschaftlichen Umständen zum „Vieh“ degradierte Mensch Woyzeck war in seiner Transparenz, in seiner Agilität, auf alles direkt reagieren zu müssen, ein schönes Wesen. Das unterschied diese Inszenierung über die Ästhetik hinaus von vielen anderen. Kristof Van Boven leistete Ungewöhnliches. Er wird mit dieser Interpretation ganz sicher im Gedächtnis der Zuschauer bleiben.

Marie Jungs Darstellung der Marie lebte von der natürlichen Unschuld der Figur. Sie, ebenfalls ein schlichtes Geschöpf, suchte einfach nur die schönen Momente im Leben. So erlag sie, ohne sich einer wirklichen Schuld bewusst zu sein, dem feschen Tambourmajor. Stefan Hunstein spielte den Macho nicht, sondern behauptete ihn. Und man glaubte ihm. Sein Lachen, seine Haltung, das Knöpfen seiner Uniform waren Rituale, die den Vorsteher der Musikkapelle zu einem selbsternannten, unerschütterlichen Gott hochstilisierten. Olliver Mallison gab den einzigen Freund Woyzecks, Andres. Mallison gestaltete nicht den seelenverwandten, mitleidenden Genossen, sondern einen Mann, den das Leben in dieselbe Reihe mit Woyzeck gestellt hatte. Er war den selben Schlägen ausgesetzt. Was liegt da näher, als sich im Leid zu verbünden. Dadurch wird es leichter. Mallisons Andres zeigte nur begrenzt Mitgefühl, gab sich nicht selbst auf und forderte auch schon mal sein Recht auf sich selbst ein. Diese Sicht auf die Figur war sehr wohltuend, liegt doch besonders hier die Neigung zum säuselnden Kitsch nahe: „Ich hat einen Kameraden, ...“

Stefan Merkis Hauptmann war gleichsam nicht nur auf den tumben Militär reduziert, der die blödsinnigsten Theorien ausschwitzen darf, nur weil sein Dienstgrad und -rang keinen Widerspruch duldet. Es war ein Mann, der zwar Angst vor Hast hatte (Was sollte er mit der gewonnen Zeit schließlich auch anfangen?), der bei Merki aber dennoch ein Umtriebiger war. Das verlieh der Figur etwas Unentschiedenes. Allzu oft wird diese Figur, auch um die Komik zu forcieren, sehr zweidimensional angelegt. Nicht so in dieser Inszenierung, die der Figur mehr Raum als üblich gab. Gleiches galt für Tobias Hagge, der den Doktor stimmgewaltig und mit starker physischer Präsenz gestaltete. Gern lockern Regisseure die Schwere des Stückes mit diesen beiden Rollen auf. Doch wenn man sich ernsthaft dem Wesen des Menschen Woyzeck nähern will, sollte man dabei nicht vergessen, dass auch diese beiden Figuren menschliche Wesen sind und respektiert werden wollen.

Barbara Wysockas Inszenierung im Werkraum ist unbedingt sehenswert. Es ist ein gelungenes ästhetisches Experiment, das allerdings nicht selbstgefällig in der Pose der Andersartigkeit verharrt, sondern wirkliche interpretatorische Neuansätze liefert. Es war ein künstlerisch fruchtbare Arbeit, die den Machern zur Ehre gereicht.
 
 
 
Wolf Banitzki


 


Woyzeck / Wozzeck

nach Georg Büchner, Alban Berg

Fassung von Barbara Wysocka und Koen Tachelet

Tobias Hagge, Stefan Hunstein, Marie Jung, Anno Kesting, Oliver Mallison, Stefan Merki, Kristof Van Boven, Tobias Weber, Tatjana Zivanovic-Wegele


Regie: Barbara Wysocka