Volkstheater Drei Schwestern von Anton Tschechow




Etikettenschwindel

Das Drama „Drei Schwestern“ von Anton Tschechow hat seit seiner Uraufführung am 31. Januar 1901 unaufhaltsam die Bühnen der Welt erobert. Die von Stanislawski besorgte Inszenierung am Moskauer Künstlertheater war in ihrer Lesart durchaus universell und zeitlos: „Es zeigt sich, dass sie (die Menschen Tschechows) ganz und gar nicht nur Schwermut und Langeweile mit sich herumschleppen, im Gegenteil, es sind Menschen, die Fröhlichkeit, Lachen und Munterkeit suchen, die leben wollen, nicht nur vegetieren.“ So Stanislawski, der damit ganz genau die Intentionen Tschechows traf. Beide Künstler verfügten über eine besondere Sensibilität für die Zeit und die Menschen. Nebenher waren sie exzellente Analytiker und begriffen, das Russland an der Schwelle zu großen Veränderungen standen. So sind die Menschen in Tschechows Stücken Spiegelungen einer Gesellschaft, die in Stagnation gefallen war. Sie handelten von Menschen, die einen Endpunkt erreicht hatten, den sie scheinbar aus eigener Kraft und mit eigenem Willen nicht zu überwinden vermochten. Tschechows Stücke sind bei näherer Betrachtung gute Begründungen für die russische Revolution. Es geschieht in ihnen wenig an Handlung, dafür aber um so mehr an Psychologie.

Im aus dem Jahr 1900 stammenden Drama in vier Akten dreht sich alles um die Schwestern Olga, Mascha, Irina und ihren Bruder Andrej. Sie sitzen seit elf Jahren in einer Provinzstadt fest. Ihr Vater war als Brigadegeneral von Moskau in die Provinz versetzt worden. Ihr Leben ist trist, abwechselungsarm und unaufgeregt, was die Damen zermürbt und an ihre Grenzen gebracht hat. Ihre Hoffnungen richteten sich die ganze Zeit über auf den Bruder Andrej, dem man eine große Karriere als Wissenschaftler zutraute und der sie zurückführen würde in das geliebt, märchenhaft verklärte Moskau. Andrej indes ist ein kleinbürgerlicher Spießer geworden, dessen beschränkte Frau Natalja sich selbst genügt. Der Bruder verspielt den Besitz der Familie und damit auch den der Schwestern, die sich doch immerhin selbst ernähren können. Olga ist Lehrerin am Mädchengymnasium. Mascha ist mit dem langweiligen Gymnasiallehrer Kulygin verheiratet und Irina, bislang ohne Beruf, arbeitet als Telefonistin.

Einziger Trost, den der Ort zu bieten hat, ist das Regiment, zu dem die Generalstöchter noch immer Kontakt haben. Mascha liebt den Batteriechef Oberstleutnant Werschinin, dessen Frau regelmäßig Selbstmord zu begehen versucht. Irina, deren Glaube an eine wirkliche längst Zukunft geschwunden ist, entschließt sich, dem Werben des Offiziers Baron Tusenbach nachzugeben und ihn zu heiraten. Doch dazu kommt es nicht, da Tusenbach in einem Duell fällt. Zuletzt, es hatte sich als Gerücht angedeutet und wurde schließlich Gewissheit, wird auch noch das Regiment abgezogen und verlegt. Die Isolation der Schwestern ist nun vollkommen und ausweglos. Irina resümiert unter den Klängen der Marschmusik der abziehenden Soldaten über ihr Leid und die vermeintliche Sinnlosigkeit ihres Daseins: „Es wird eine Zeit kommen, da alle klar sehen werden, da es keine Geheimnisse mehr geben wird. Vorläufig aber heißt es arbeiten, nur arbeiten!“

„Drei Schwestern“ ist ein sehr atmosphärisches Stück, dessen Sprache (wenn sie denn die Sprache Tschechows ist) hinreichend genügt, die Welt der vergehenden Belle Époque zu beschwören. So grandios Tschechows Stücke auch sein mögen, so groß ist auch das Risiko des Scheiterns, wenn man zu grob Hand anlegt an das feine psychologische Gespinst. Was in der Inszenierung von Thomas Dannemann am Volkstheater nun gänzlich fehlte, war die dem Stück eigenen Atmosphäre. Einen entscheidenden Beitrag zu dieser „Fehlleistung“ leistete Stefan Hageneier mit seinem Bühnenbild. Es bestand aus dem Fachwerkgerüst einer größeren Gartenlaube, die fahr- und drehbar war. Die Wände des Häuschens waren mit durchsichtiger Folie bespannt, sodass der Innenraum bespielt werden konnte. Diese Baumarktlösung, die am Ende von den Schauspielern auch noch demontiert wurde, hatte den Charme eines Ikeamöbels. Und um die Desillusion perfekt zu machen, wurde die erste Zuschauerreihe zur Garderobe der Darsteller umgewandelt. So ging man nicht von der Gasse auf oder in die Gasse ab, sondern über eine hölzerne Treppe ins Publikum.

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Mara Widmann, Pascal Fligg, Lutz Salzmann, Max Wagner

© Arno Declair


Auch am Text (Übersetzung Peter Urban) hatte Regisseur Dannemann kräftig Hand angelegt. Heraus kamen Sprachtorsi, die selten poetisch, dafür oft rüde, die selten ausgewogen, dafür oft alltagssprachlich bis rotzig waren. Es wurde auch gekalauert, egal ob es sich anbot oder nicht. Und um das recht deutlich bewerkstelligen zu können, erhielt die Rolle des Militärarztes Iwan Romanowitsch Tschebutykin großen Raum. Lutz Salzmann ließ es denn auch richtig krachen, torkelte besoffen oder in vermeintlicher Amnesie durch Raum und Zeit, ließ die Hosen herunter und verspritzte auch schon mal Urin aus dem Auffangbeutel seiner katheterisierten Blase. Das sorgte für Heiterkeit. Die drei Schwestern hingegen waren sichtlich bemüht, ihren Rollen Ernsthaftigkeit zu verleihen. Angesichts dessen, was möglich gewesen wäre mit dem Text von Tschechow, schnitten alle drei recht mager ab. Dabei hätten sie es sicher umfänglich leisten können, doch es schien, als wollte man alles andere aufkommen lassen, nur kein differenziertes Bild jeder einzelnen Schwester. Mara Widmanns Olga definierte sich über die Adjektive, die ihr in den verkürzten, holzschnittartigen Texten gegeben waren. Xenia Tilling versuchte ihrem Innern einen gestischen Ausdruck zu verleihen und füllte den Raum sehr häufig mit melancholischen Posen. Lenja Schulze war die einzige der Schwestern, der genügend Raum und Text gelassen wurde, ihrer Irina eine menschliche Gestalt zu verleihen. Schade, denn den drei bezaubernden Frauen hätten wesentlich mehr leisten können.

Die männlichen Darsteller überzeugten hingegen mit Aktionismus, der allerdings nicht selten die inneren Vorgänge wenig überzeugend konterkarierten. Allen voran Max Wagners Soljony, der sich seiner Angebeteten Irina auch schon mal gewaltsam näherte. Er verkörperte die tickende Bobe, die den Baron Tusenbach ins Verderben stürzten sollte. Pascal Fligg spielte den Baron sehr zurückgenommen. Er entpuppte sich als physisch feiger Mensch, der aufrichtig liebte und sich dabei seiner Unattraktivität bewusst war. Fliggs Tusenbach ging nur mit geringen Beschädigungen aus dem Spiel hervor. Ebenso Jean-Luc Bubert, der sich auf den Habitus eines Oberstleutnants retten konnte. Sein Alexander Ignatjewitsch Werschinin ließ sich allerdings auch von gar nichts wirklich anfechten und so war sein Abschied von den Schwester mehr als nüchtern. Natascha, wasserstoffblond bis ins Mark von Christina Pauls gespielt, wurde hingegen reichlich denunziert. Ihre Rolle war auf die ständig mit dem Handy telefonierende, fremdgehende Mutter reduziert, die eine Reduktion in sich darstellte und die sich nur durch vordergründige Dümmlichkeit profilieren konnte. Oliver Möller spielte den Bruder Andrej, selbstquälerisch und ebenfalls mit großem körperlichen Aufwand. Bei ihm hatte man allerdings das Gefühl, er sei ein Fremdkörper in dem kleinen Universum, den man nur sehr ungern hervorlockte. Stefan Ruppes Lehrer Kulygin (Maschas Gatte) war eine Karikatur auf den heutigen Lehrer, der, ökologisch bewusst mit dem Fahrrad fährt und dabei vorschriftsmäßig den Schutzhelm trägt.

Keine der Figuren erlangte auch nur annähernd das Format, das Tschechow angedacht hatte. Vielmehr drängte sich der Verdacht auf, dass Tschechow wohl als Stichwortgeber tauge, darüber hinaus allerdings als lästig empfunden wurde. Nur keine tragenden Gefühle, nur keine tieferen Einsichten, nur keine Imagination des wahren Dramas, wie es geschrieben steht. Tschechows Werk wurde zum Supermarkt für szenische Grundversorgung degradiert. Heraus kam eine „hippe“ Geschichte, die sich beim Publikum peinlichst anbiederte und auf der Tschechow stand. Doch es war kein Tschechow drin. Schade, denn  wieder einmal werden viele junge Zuschauer, die noch keine Erfahrungen mit Tschechow gemacht haben, glauben, sie hätten „Drei Schwestern“ von Tschechow gesehen. Doch es war ein Etikettenschwindel.


Wolf Banitzki


 

 


Drei Schwestern

von Anton Tschechow

Jean-Luc Bubert, Pascal Fligg, Oliver Möller, Kristina Pauls, Stefan Ruppe, Lenja Schultze, Xenia Tiling, Max Wagner, Mara Widmann, Lutz Salzmann

Regie: Thomas Dannemann

Volkstheater Unendlicher Spaß nach dem Roman von David Foster Wallace




Und ewig blühen die Legenden

Wieder „eroberte“ ein Roman die Theaterbühne! „Infinite Jest“ von David Foster Wallace erschien in Deutschland unter dem Titel „Unendlicher Spaß“ in der Übersetzung von Ulrich Blumenbach. Der hatte gut fünfundeinhalb Jahre damit zugebracht, den 1079 Seiten langen Roman ins Deutsche zu übersetzen. Nebenher, 98 Seiten waren allein Fußnoten. Blumenbach bekam für seine titanische Leistung 2010 den Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse. Wallace’ Roman machte den Autor zum „Superstar“ der Literaturszene. Die Superlative, mit denen man ihn fortan belegte, waren astronomisch. Schließlich nahm er sich das Leben und machte sich damit unsterblich, denn seither blüht die Legendenbildung.

Dabei ist es zum Heulen, wie verlogen oder blödsinnig der Kulturbetrieb sich immer wieder geriert. Erst bringt er die Künstler um, oder beteiligt sich daran, ihn zur Strecke zu bringen, und dann zerknirscht er sich geradezu in tiefenpsychologischer Suche nach den Ursachen. Schon Wilhelm Waiblinger beschloss, nachdem er ein Angebot von einem derzeit bekannten Verleger bekam, eine spektakuläre Künstlerbiografie zu schreiben: „Ich brauche einen wahnsinnigen Künstler!“ Er machte Hölderlin aus und den Dichter zu einem wahnsinnigen Menschen. Nichts liebt der Spießer, der keine Ahnung hat, wie er sich Kunst eigentlich nähern soll, zu allen Zeiten mehr, als wahnsinnige Künstler. Genie und Wahnsinn, diese Kombination versetzt ihn in höchste Erregung, vermutlich, weil er von beidem nichts hat. Nirgendwo genießt der Typ „genialer Underdog“ höhere Bewunderung, als in den Vereinigten Staaten von Amerika. Siehe Charles Bukowski, um nur einen zu nennen. Was zeichnet seine Literatur aus? Z.B. steht darin ganz selbstverständlich der Name Alexander Skrjabin (Wer kennt den schon?) neben dem einer zahnlosen Blasnutte. Es ist die Mischung aus Gosse und Geist (wobei Geist nicht selten Behauptung bleibt), die als prickelnd empfunden wird. Das jagt heilige Schauer über die im Solarium gebräunten Rücken.

Nach Wallace’ Suizid kamen die üblichen, die Auflagen steigernden Fragen: War Wallace verkannt? Was hat ihn ruiniert? War es sein einmaliger Erfolg und die Angst vor dem zukünftigen Versagen? Oder gar der Narzissmus des Wunderkindes Wallace? Dabei ist es immer gut zu wissen, dass der Dichter zwanzig Jahre lang unter Depressionen litt, die er mit dem Medikament Nardil behandelte. Gut zu wissen ist auch, dass Wallace nach seiner Heirat das Medikament absetzte, weil er um seine Kreativität fürchtete oder die Tabletten einfach nicht vertrug. Danach schlug bei ihm kein Medikament mehr an! Folge: Suizid. Wen, außer der breiten Masse intellektueller Voyeuristen, die häufig gar nicht lesen oder rezipieren, sondern sich von den Gazetten die Kunst erklären lassen, interessiert das eigentlich? Verbindlich ist, was geschrieben steht, also das Werk des Künstlers. Warum nur spielt die Figur des Künstlers in unserer heutigen Zeit häufig eine größere Rolle als sein Werk? Weil die Verflachung und Verblödung rasant voran schreitet. Das wusste auch David Foster Wallace und er schrieb es nieder. Vielleicht haben ihn ja ganz einfach die eigenen Einsichten, im Buch nachzulesen, in den Tod getrieben. Dann war er doch immerhin ein konsequenter Mensch.

Es soll an dieser Stelle gar nicht erst der Versuch unternommen werden, die Geschichte, für die Wallace, wie bereits erwähnt, 1079 Seiten, inklusive 98 Seiten Fußnoten, benötigte, zu umreißen. Der Themenreigen reicht, grob formuliert, von Drogenabhängigkeit über Hedonismus, Depressionen, vordergründigen Materialismus, die geistig völlig verwahrloste Unterhaltungsindustrie, Kindesmissbrauch, den Unabhängigkeitskampf von Quebec bis hin zu Tennis.

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Pascal Fligg, Justin Mühlenhardt, Oliver Möller, Kristina Pauls, Pascal Riedel, Lenja Schultze, Xenia Tiling

©Arno Declair


Regisseurin Bettina Bruinier hatte gemeinsam mit Katja Friedrich eine Spielfassung erarbeitet, die, inszeniert, gut zwei Stunden dauerte. Zwei Stunden, für 1079 Seiten, inklusive 98 Seiten Fußnoten! Hört, hört! David Foster Wallace kann sich nicht mehr wehren und den Erben und Nachlassverwaltern geht es vermutlich sowieso nur um die Tantiemen. Bettina Bruinier muss sich an dieser Stelle die Frage gefallen lassen, ob das, was sie auf die Bühne gebracht hat, den Verrat am Werk von Wallace rechtfertigen kann. Diese Frage soll der mündige und auch kenntnisreiche Zuschauer beantworten. Doch ich will mich als Kritiker nicht aus der Verantwortung stehlen und sage: Nein! Bereits in ihrer Arbeit „Solaris“ brillierte sie mit ihrer künstlerischen Intelligenz, wenngleich das Publikum im Wesentlichen unerreicht blieb. Dem Lemschen Werk tat es keinen Abbruch. Das liegt gedruckt vor und ist bereits von Millionen Menschen gelesen worden.

Mit „Unendlicher Spaß“ hat Bettina Bruinier nicht nur das Publikum, insbesondere das, welches den Roman nicht kennt, überfordert, sondern sie ist dem Werk selbst nicht gerecht geworden. Sie konnte es gar nicht. Das ist allerdings ein Fall, der an Missbrauch grenzt. Wer sich aus einem so komplexen Werk herausklaubt, was sich scheinbar für eine spektakuläre Bühnenfassung eignet, um am Ende ein eher schwaches Exposé in Form einer Theaterinszenierung vorzuzeigen, handelt zudem anmaßend.

Bettina Bruinier setzte auf  den Kick, der sich aus den intellektuellen Inhalten, die sowohl naturwissenschaftlicher, als auch psychologischer Natur waren, und einem „coolem“ Gossenslang ergab. Es ist genau die Mischung, die US-Fernsehserien bei Pseudointellektuellen so beliebt macht. Deren Lachen war denn auch hier und da im Volkstheater zu hören. Auch ist es den beiden Spielfassungsschreiberinnen nicht gelungen, die apokryphen Textbestandteile von den tradierten soweit zu trennen, dass eine Orientierung möglich war. Mit einem Wort, die Sprache war keine dramatische, sondern eine reflexiv epische. So blieb letztlich das meiste kryptisch. Durch das hochtourige Spiel der Darsteller rauschten die Aussagen, gleichgültig ob objektiv oder poetisch, an den Zuschauern vorbei, ohne einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen.

Einzig den Darstellern war kein Vorwurf zu machen. Sie versuchten, ihre Rollen engagiert zu gestalten. Im Stück gab es sogar einen wirklichen komödiantischen Höhepunkt, als Oliver Möller in der Rolle des Tennistrainers Gerhard Schtitt eine ähnlich absurde Rede hielt wie Charles Chaplin als Hinkel in „Der große Diktator“.

Die Süddeutsche Zeitung erklärte sehr treffend zum Erscheinen des Buches: „Infinite Jest war mit den Mitteln des postmodernen Erzählens ein Generalangriff auf die läppische postmoderne Ironie, den hochglanzverspiegelten Nihilismus, Wallace ging es tatsächlich ums ‚echte Menschsein‘. Er wollte die total medialisierte Welt abbilden, ohne aber dünnsuppige Popaffirmation zu servieren.“ Die Inszenierung am Volkstheater war eine „dünnsuppige Popaffirmation“, die vorgab, den „hochglanzverspiegelten Nihilismus“ zu entlarven. Könnte es sein, dass Bettina Bruinier übersehen hatte, dass Wallace mit den postmodernen Mitteln des Erzählens einen Generalangriff auf die sich selbst längst überlebte Postmoderne gestartet hatte. Wer das aus den Augen verliert, spricht (sicherlich ungewollt) denen das Wort, für die der Suizid schon die halbe Künstlerschaft ausmacht.  
Also lassen wir die Legenden weiterblühen, bis wir endlich auch in David Foster Wallace eine neue Ikone haben, die auf Markenklamotten gepappt werden kann, und er zu einem Klassiker mit durchschlagender Wirkungslosigkeit wird.


Wolf Banitzki

 


Unendlicher Spaß

nach dem Roman von David Foster Wallace

Jean-Luc Bubert, Pascal Fligg, Justin Mühlenhardt, Oliver Möller, Kristina Pauls, Pascal Riedel, Lenja Schultze, Xenia Tiling

Regie: Bettina Bruinier

Volkstheater Der Stellvertreter von Rolf Hochhuth




Von Heiligen und Höllenhunden

Die Parallelen drängen sich auf. Braune Horden ziehen durch das Land und morden Menschen anderer Herkunft als sie selbst. Und die weltliche Macht starrt wie ein hypnotisierten Karnickel in die linke Ecke, als schicke sich der Teufel gerade an, die Büchse der Pandora zu öffnen. Das Gespenst des Kommunismus geht schon lange nicht mehr um in Europa. Warum also bespitzelt man eine Partei und deren legitim gewählten Vertreter, die sich gerade mit der Forderung nach Kiffer-Clubs vollends lächerlich macht? Vielleicht, weil diese Partei einstmals die Abschaffung des Besitzes forderte und, was noch viel bedrohlicher ist, weil sie atheistisch ist. Was atheistisch ist, kann nur der Teufel sein, oder?

Kaum ein Werk in den letzten 50 Jahren hat die deutsche Nation so in Rage gebracht wie Rolf Hochhuths „Der Stellvertreter“. Man kann wohl getrost so weit gehen und behaupten, es habe die Nation verändert. Nicht nur, dass Hochhuth sich dem stillen Einverständnis widersetzt hat, die Geschichte des „Dritten Reiches“ und seiner Verbrechen endlich ruhen zu lassen, er hat zudem eine heilige Kuh geschlachtet und die katholische Kirche in der Person des Papstes Pius XII. wegen dessen Haltung der Mittäterschaft bezichtigt. Das Theaterstück, von Hochhuth selbst als „christliches Trauerspiel“ bezeichnet, wurde am 20. Februar 1963 an der Freien Volksbühne in Westberlin von Erwin Piscator zur Uraufführung gebracht. Piscator, ein linker Theaterpionier, dessen frühe Arbeiten in der Weimarer Republik wurzelten, hatte das Theater zum Leidwesen vieler bürgerlicher Theatermacher zu einem „politischen Tribunal“ gemacht, was seiner künstlerischen Leistung allerdings keinen Abbruch tat. Brecht und sein „Episches Theater“ z.B. wäre ohne Piscator so nicht denkbar gewesen. Die Aufführung führte zu der berühmt gewordenen „Stellvertreter-Debatte“ und zu internationalen diplomatischen Kontroversen.

Erwähnenswert ist, um die Wirkung der Erstaufführung zu beschreiben, den Theaterkritiker Henning Rischbieter zu zitieren, der meinte, „Der Stellvertreter“ habe das Vermögen, „direkte politische Wirkungen zu zeitigen. Allen (berechtigten) ästhetischen Einwänden entgegen hat es durch seine Fragestellung und die leidenschaftliche Anklage, die der Autor durch seine Hauptfigur ausspricht, eine erregte Diskussion ausgelöst, die Reformbewegung innerhalb der katholischen Kirche beeinflusst und die Zeitgeschichtsschreibung zur Auseinandersetzung mit einem vorher wenig beachteten, ja tabuisierten Thema genötigt: Wie hat sich die katholische Kirche und ihr damaliges Oberhaupt, Papst Pius XII., zum nationalsozialistischen Massenmord an den europäischen Juden verhalten?“

Inzwischen wurde das Drama in mehr als 25 Ländern aufgeführt. In diesem Zusammenhang sei auch auf die 2002 entstandene Verfilmung von Constantin Costa-Gavras verwiesen. Sie zählt zu den besten Umsetzungen dieses Stoffes. Nebenbei: Piscator brachte 1965 auch das Theaterstück zum Auschwitz-Prozess „Die Ermittlung“ von Peter Weiss auf die Bühne. Daran, dass Hochhuths „Der Stellvertreter“ von Anbeginn sehr kritisch in Bezug auf die Ästhetik beäugt wurde, wird sich nichts ändern, denn die Dramaturgie des Stückes ist nicht sonderlich schlüssig. Es ist mehr ein großes intellektuelles Konstrukt, dass unter der Last der Fakten, der moralischen und politischen Statements ächzt, als ein in sich geschlossenes „Schicksalsdrama“ mit politischen Hintergrund. Hinzu kommt, dass das Drama von den heutigen Regisseuren auf ihren Ideologiegehalt hinterfragt und keinesfalls unkritisch umgesetzt wird. Diesen Schritt tat auch Regisseur Christian Stückl in seiner Inszenierung am Münchner Volkstheater. Stückl strickte zu diesem Zweck um das Stück herum eine kleine Rahmenhandlung. Zwei Redakteure unterhielten sich über das historische Geschehen um Papst Pius XII. und den Holocaust. Beide Redakteure vertraten unterschiedliche Ansichten. Einig waren sie sich zumindest bis zu einem gewissen Grad in der Ansicht, dass die Kirche in Person des Papstes viel Diskussionsstoff hinterlassen hat, der Aufarbeitung einfordert. So glitten beide Redakteure nahtlos in das Hochhuthsche Stück als Akteure hinüber und das eigentliche Spiel begann.

Das Drama erzählt die Geschichte des Jesuitenpaters Riccardo Fontana (fiktiv), der durch eine Begegnung mit dem Offizier der Waffen-SS Kurt Gerstein (authentisch) von den Gräueltaten der Nazis in den Konzentrationslagern erfährt. Gerstein war bereits mehrfach inhaftiert und  aus der NSDAP ausgeschlossen worden. Durch die Mitgliedschaft bei der Waffen-SS erhoffte er sich die notwendigen Informationen, um den Völkermord an den Juden öffentlich machen zu können. Allein, seine Anschuldungen finden weder bei internationalen Regierungen, noch bei der protestantischen und auch nicht bei der katholischen Kirche Gehör. Riccardo Fontana setzt sich nun seinerseits beim „Heiligen Vater“ dafür ein, dass der öffentlich gegen das Deutsche Regime und seine Verbrechen protestiert. Als ihm ein Ferienaufenthalt auf dem vatikanischen Besitz Castel Gandolfo angeraten wird, 'damit sich bei ausgedehnten Spaziergängen und leichter Lektüre seine überreizten Nerven beruhigen’, legt er den gelben Stern an und lässt sich mit den jüdischen Leidensgefährten ins Konzentrationslager Auschwitz abtransportieren, wo er nach zynischen physischen und psychischen Folterungen durch den KZ Arzt Josef Mengele exekutiert wird. In der Inszenierung von Christian Stückl standen zum Schluss die beiden Redakteure auf der Bühne und formulierten eine andere Wahrheit. Warum eigentlich immer über den Stellvertreter reden? Wo war sein Chef? Vorhang.

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Max Wagner, Oliver Möller, Pascal Riedel

© Arno Declair

Hier endete die Geschichte im Volkstheater, im Gegensatz zum Film von Costa-Gavras, der die authentischen Vorgänge um Kurt Gerstein und Josef Mengele erzählt. Gerstein wurde nach dem Krieg von den französischen Truppen in Rottweil interniert, wo er einen umfassenden Bericht über die Vorgänge verfasste. Ungeachtet seines permanenten Widerstandskampfes gegen die Nazis wurde er wegen Kriegsverbrechen angeklagt. Kurt Gerstein nahm sich in seiner Zelle das Leben, auch, weil er von seiner Mitschuld überzeugt war. Dem KZ-Arzt Mengele, auch der „Todesengel von Auschwitz“ genannt, gelangte (wohlgemerkt im Film) mit Hilfe des Vatikans unerkannt die Ausreise nach Argentinien.  

Dass Christian Stückl ein religiöser Mensch ist, ist hinlänglich bekannt. Dass sein Verhältnis mit der (historischen) Institution Kirche problematisch ist, ihr durchaus kritisch gegenüber steht, konnte man seinen früheren Inszenierungen (z.B. „Don Carlos“) entnehmen. Trotzdem winkt er das Hochhuthsche Stück nicht einfach nur durch. Er ringt um Objektivität und baut heutige Stimmen ein, die Partei ergreifen für Papst Pius XII. Das ist redlich und durchaus legitim. Aber es führt auch zu einer indifferenten Aussage in der Schuldfrage, wenn Stückl das Stück nutzt, um schlussendlich die allgemeinste aller philosophischen Fragen zu stellen: Gibt es Gott? Leider musste man konstatieren, dass man in der Schuldfrage am Ende „so klug ist als wie zuvor“ war, einmal abgesehen von einigen historischen Fakten, die allerdings eher verstörend sind für den Uneingeweihten. Immerhin, gut, dass wir drüber geredet haben …

Regie und Dramaturgie (Katja Friedrich) fanden ästhetisch eine interessante Lesart. Sie siedelten die Vorgänge durchgängig in der Institution Bürokratie an. Stefan Hageneier hatte dafür zwei hintereinander liegende Großraumbüros gebaut, die identisch waren, jedoch in unterschiedlichen Szenen unterschiedliche Topografien beschrieben. Wenn auf der vorderen Bühne im nationalsozialistischen Beamtenapparat verhandelt wurde, blieb die hintere Bühne, durch eine durchsichtige Gaze abgetrennt, im Dunkeln. Reagierte man beispielsweise im Vatikan auf die Vorgänge in Deutschland, erhellte sich die hintere Bühne und die Vorgänge in der etwas unscharfen Ferne wurden sichtbar. Ein gelungenes Konzept. Als die transparente Zwischenwand gehoben wurde, verschmolzen die Orte, wie auch die Vorgänge miteinander.

Es liegt in der Natur des Theaters, dass die Rollen der Bösewichter zumeist die interessanteren sind. In Stückls Inszenierung wurde das einmal mehr deutlich. Die Nazis Eichmann, Witzel, Sturmbannführer Fritsche (Stefan Ruppe) und Salzer (Justin Mühlenhardt) wurden von den Darstellern dezent persifliert und bekamen damit komödiantisches Format. Die Vertreter und Abgesandten der Kurie hingegen mussten gediegene Haltung zeigen und so blieben Pascal Fligg (Ordensgeneral), Jean-Luc Bubert (Apostolischer Nuntius zu Berlin, Kardinal) und Oliver Möller (Papst, Kardinal) nur wenig mehr als die Sprache, um Expression zu erzeugen. Gerade dabei haperte es gelegentlich, denn die Hochhuthsche Sprache hat keinen wirklichen eleganten Fluss, ist naturgemäß spröde, wenn es ums philosophische oder moralische Argumentieren ging. Ausgenommen Oliver Möller, der als Doktor eine geradezu lustvoll-diabolische Vorstellung bot. So blass, wie er als Papst wirkte, so schillernd agierte er als KZ-Arzt. Das war insofern tragisch, als dass seine bravouröse Spielweise den Argumenten des Diabolischen ein gewaltiges Gewicht verlieh. Ihm hatte keiner der Darsteller wirklich etwas entgegen zu setzen, weder Pascal Riedel als Pater Riccardo Fontana, noch Pascal Fligg als bemüht vermittelnder, die Vernunft und die christliche Moral nie aus den Augen verlierender Ordensgeneral. Pater Riccardo hat im Stück seine Momente des Aufbegehrens, z.B. wenn er erklärt: „Ein Stellvertreter Christi, der das vor Augen hat und dennoch schweigt, aus Staatsräson, der sich nur einen Tag besinnt, nur eine Stunde zögert, die Stimme seines Schmerzes zu erheben zu einem Fluch, der noch den letzten Menschen dieser Erde erschauern lässt – ein solcher Papst ist … ein Verbrecher.“ Im Angesicht des Papstes rebellierte der junge Pater sehr handgreiflich, fegte Bücher von den Tischen und stürzte die Möbel um. Doch dann fügte er sich in die Rolle des Märtyrers und wurde letztlich zum Spielball des Nihilisten Mengele. Am Ende blieb ihm sogar noch das Märtyrertum versagt. Max Wagner stach als Kurt Gerstein noch am ehesten aus dem Politklüngel beider Parteien heraus. Wagner spielte die Rolle des Gerstein als einen selbstbewussten, mutigen, intelligent agierenden und mitfühlenden Mann, also geradezu heldenhaft. Wie sich am Ende herausstellte, war er auch der eigentliche Held der (historisch verbürgten) Geschichte, denn ein solcher kann nur ein bewusst und zielstrebig handelnder sein.

In Stückels Inszenierung ruhte der Focus nicht unbedingt auf dem Aspekt der Moral. Vielmehr entlarvte sie die Geschichte als ein Zusammen- oder Gegenspiel von politischen Akteuren und ihrer Apparate. Die Verbrechen und die Feigheit vor den Verbrechern begannen an den grünen Tischen der Macht. Wenn Prioritäten sich derart von unbedingter Nächstenliebe und unbedingtem Glaube, also der Botschaft Christi, hin zum politischen Kalkül verschieben, hat der Vatikan allen Anspruch verspielt, als moralische Instanz zu gelten. Und genau so geschah es im Stück, wenn der Papst Pater Riccardo erklärte: „Fontana! ... Sehen Sie nicht, dass für das christliche Europa die Katastrophe naht, wenn Gott nicht Uns, den Heiligen Stuhl, zum Vermittler macht. Die Stunde ist düster: zwar wissen Wir, den Vatikan rührt man nicht an. Doch Unsere Schiffe draußen, die Wir steuern sollen. Polen, der ganze Balkan, ja Österreich und Bayern noch. In wessen Häfen werden sie geraten. Sie könnten leicht im Sturm zerschellen. Oder sie treiben hilflos an Stalins Küsten.“

Und wieder einmal wurde die Moral und mit ihr zahllose Menschen der Macht geopfert. Vielleicht sollte man mal anfangen darüber nachzudenken, ob politische Macht wirklich die Lösung der Probleme bedeutet, sondern vielmehr die Ursache der Probleme ist. Man stelle sich einmal vor, es gäbe keinen Gott. Nach diesem Drama wäre das kein so abwegiger Gedanke. Dann wäre politische Macht auch nicht gottbefohlen…

Beim Verlassen des Theaters wurden die Zuschauer auch schon von einem Verteidiger des Papstes und wohl auch der katholischen Kirche empfangen, der freundlich eine Sammlung von Zeitungszitaten verteilte, worin Pius XII. zum verkappten Widerstandskämpfer gekürt wurde. Selbstredend fand das Engagement des Heiligen Vaters mehr im Geheimen statt, schließlich möchte man als Papst ja keinesfalls auffallen.

Wolf Banitzki

 

 


Der Stellvertreter

von Rolf Hochhuth

Jean-Luc Bubert, Pascal Fligg, Justin Mühlenhardt, Oliver Möller, Kristina Pauls, Pascal Riedel, Stefan Ruppe, Max Wagner


Regie: Christian Stückl

Volkstheater Magdalena von Ludwig Thoma




Die Jagd ist eröffnet

100 Jahre hat Ludwig Thomas Volksstück in drei Aufzügen bereits auf dem Buckel. In Bayern ist das Drama allein drei Mal verfilmt worden. Auch wenn die äußeren Umstände, die das Drama möglich machte, überwunden zu sein scheinen, im Denken und Fühlen ficht die Geschichte noch immer heftig an. Warum das so ist, erklärt vielleicht die Anmerkung Alfred Kerrs zur Uraufführung im Jahr 1912 an den Barnowsky-Bühnen: „Hier kommt etwas, ja, wie bei den alten Tragikern … Urmächte sind im Spiel.“

Tragisch ist die Geschichte um Magdalena, der Tochter des Kleinbauern Thomas Mayr und seiner todkranken Frau Mariann, allemal. Die noch minderjährige Magdalena war als Näherin in die Stadt gegangen, wo die Verdienstmöglichkeiten für sie besser waren, als auf dem Dorf. In der Stadt gerät sie an einen Heiratsschwindler, der sie um ihr Erspartes bringt. Um zu Überleben, muss Magdalena ihren Körper verkaufen. Sie wird vor Gericht gestellt und verurteilt, in das heimische Dorf zurückzukehren, und fortan im Elternhaus in absoluter Isolation zu leben. Die Dorfbewohner haben von der Straffälligkeit ihrer Mitbewohnerin aus der Zeitung erfahren. Mutter Mariann empfängt die gefallene Tochter mit Liebe und offenen Armen. Sie ringt ihrem Ehemann das Versprechen ab, Tochter Leni nie zu verstoßen. Das Denkbare ist jedoch nicht machbar. Der Voyeurismus der Dorfbewohner lässt die Familie, die die Mutter Mariann inzwischen zu Grabe getragen hat, nicht zur Ruhe kommen. Leni ist ein schlichtes Gemüt, unfähig sich selbst und die Vorgänge um sich herum einzuschätzen. Als sie sich, gelangweilt von ihrer „Isolationshaft“, mit dem Aushilfsknecht Lorenz Kaltner einlässt, konstatiert der verwundert: „Mögst d'as net glaab'n! De woaß heut no net, was s' to hat.“

Im Hintergrund zieht der Bürgermeister Jakob Moosrainer seine ganz eigenen Fäden, denn er sieht die Gelegenheit gekommen, die Mayrs zu vertreiben und günstig an deren Besitz zu gelangen. Als der Bauernbursche Martin Lechner seinen Kameraden erzählt, dass er bei der Leni gefensterlt und sie nach dem Beisammensein Geld von ihm gefordert habe, kippt die Stimmung im Dorf um und ein „Haberfeldtreiben“ entbrennt. Bürgermeister Moosrainer ist Wortführer in dem einstmals im Bayerischen Oberland gebräuchlichen Rügegericht. Er hat dabei einen mächtigen Verbündeten, den Kooperator Benno Köckenberger, ein Mann mit übersteigertem moralischem Sendungsbewusstsein. Staat und Kirche eröffnen in trauter Gemeinsamkeit die Jagd.

Maximilian Brückners Regiedebüt am Volkstheater erzählt die Geschichte in abgewandelter Form. Er spitzt sie zu, in dem er aus der Leni einen Leonhard macht, der in der Stadt als Stricher versucht hatte zu überleben. Homosexuelle Prostitution galt in der Entstehungszeit des Dramas als absolute Verwerflichkeit. Auch heute noch wird sie unter der Hand deutlich anders bewertet als das heterosexuelle Horizontalgewerbe. Daran ändert auch die staatlich sanktionierte und verordnete Toleranz bezüglich sexueller Orientierung nichts. Das Volkstheater ist dafür bekannt, Homosexualität immer wieder zu thematisieren. Nicht immer mit glücklicher Hand, insbesondere in ästhetischer Hinsicht. In diesem Fall jedoch gelang eine Aktualisierung, die dem Stück eine neue Dimension verlieh.

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Peter Mitterrutzner, Alexander Duda, Peter Fasching, Ferdinand Schuster, Franz Maier, Mara Widmann, Wolfgang M. Bauer

© Arno Declair

Katharina Dobner, die für Bühne und Kostüme gleichermaßen verantwortlich zeichnete, hatte einen realistischen Biergarten auf der Bühne installiert. Grüne Biergartengarnituren standen in grobem, weißen Kies. Das schuf Atmosphäre, war aber der Akustik nicht unbedingt zuträglich, denn der Kies knirschte lautstark unter den Sohlen der Akteure. In den drei Bühnenwänden waren weiße Fenster eingelassen, über denen große Jagdtrophäen prangten. Im Hintergrund, auf einer hölzernen Terrasse, stand ein Schankhäuschen. Umsäumt war der Garten von Baumstümpfen. Bei genauer Betrachtung musste der Zuschauer erkennen, dass allenthalben entleibte Natur war, abgesägt Bäume, abgesägte Geweihe. Ein wirklich gelungenes Bild, denn es entsprach sehr deutlich dem Inhalt des Stückes, in dem es vornehmlich darum ging, menschliche Natur auszublenden, schamhaft zu verstecken, zu unterdrücken oder gar zu töten. Das gesellschaftliche Regelwerk, durchsetzt von Bigotterie, die ihrerseits Aggressionen schuf, war ein ungeschriebenes, aber dennoch ein übermächtiges.

Regisseur Maximilian Brückner ließ es dann auch richtig krachen. Emotionale Ausbrüche wurden rasant körperlich, wobei Bänke und Tische zu Wurfgeschossen wurden. Man ging sich ans Leder, derb und unverblümt, wenn es galt, sein Besitz zu verteidigen, seinen Anspruch zu behaupten oder auch nur, um sich Luft zu machen. Ein herausragender Darsteller war Wolfgang Maria Bauer als Thomas Mayr. Er spielte einen bodenständigen, zupackenden Landmann, der von seinen eigenen zwiespältigen Anschauungen gehetzt und gequält wurde. Einerseits Vater, andererseits Dorfbewohner und eins mit den gängigen Auffassungen von Moral und Ordnung, streichelte oder schlug er seinen Buben Leonhard. Dieser wurde von Florian Brückner gespielt. Brückner verlieh seinem Leonhard ein Maß an Tumbheit, das den Intentionen Ludwig Thomas unbedingt entsprach. Im Nichtverstehen, im Nichterkennen (können) versteckte sich die Fußangel, die den Fall auslöste. Brückner konnte glaubhaft überzeugen, dass diese Figur keine Chance hatte, zu entkommen. Von bewegender Emotionalität war das Spiel von Ursula Maria Burkhart als Mutter Mariann. Mit ihrem Abgang ging gleichfalls die Hoffnung auf Menschlichkeit, auf ein friedliches Ende. Neben Alexander Duda, der als Bürgermeister Moosrainer staatliche Instanz und verschlagenes Großbauerntum in seinem Spiel miteinander vereinen konnte, bestach Mara Widmann als Lorenza durch kühles Understatement.

Die gradlinige und auf jegliche Mäzchen verzichtende Inszenierung war eine gelungene Neuauflage des Stoffes, der es an Modernität nicht mangelte. Allerdings sei angemerkt, dass man als Preiß (selbst als assimilierter) seine Probleme mit dem Verständnis hat. Hochbayerisch klang es nicht immer. Doch das deutliche Spiel aller Beteiligten macht die Geschichte transparent. Da konnte schon mal ein Satz untergehen, ohne dass es dem Genuss abträglich war. Der Premierenbeifall war frenetisch. Ein wenig zu frenetisch vielleicht und gewiss auch der Tatsache geschuldet, dass es für die Brückners ein echtes Heimspiel war.

Wolf Banitzki

 

 


Magdalena

von Ludwig Thoma

Wolfgang Maria Bauer, Florian Brückner, Ursula Maria Burkhart, Alexander Duda, Peter Fasching, Ercan Karaçaylı , Franz Maier, Peter Mitterrutzner, Hubert Schmid, Ferdinand Schuster, Mara Widmann

Regie: Maximilian Brückner

Volkstheater Solaris nach Stanislaw Lem




Was ist hinterm Horizont?

Stanisław Lem (1921-2006) studierte Medizin. Er konnte das Studium allerdings nicht abschließen, da er sich weigerte, der pseudowissenschaftlichen (und ziemlich hirnrissigen) Lehre des stalinistischen Agrarwissenschaftlers Lyssenko in einem Examen das Wort zu reden. Er fiel durch, konnte zwar fortan nicht als Arzt praktizieren, aber doch immerhin in der Forschung weiterarbeiten. Er verlegte sich in dieser Zeit schon auf das Schreiben. Lem avancierte zu einem Schlüsselautor der modernen Science-fiction, womit er immer noch unterschätzt wurde, denn im eigentlichen Sinn war er ein Philosoph, dessen Denken nicht nur eine neue Begrifflichkeit schuf, sondern die Grenzen des Vorstellbaren in die Tiefen des Universums hinaus verschob. Während die meiste SF-Literatur in den vornehmlich destruktiven Denkweisen der Menschheitsgeschichte verharrt, sinnierte Lem bereits in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts über Formen von Intelligenz, die das Animalische, das Kriegerische, das individuell Egoistische nicht kennt. Damit hinterfragte er das Wesen Mensch auf die radikalste Weise, denn er forderte damit Antworten ein, die über den Fortbestand unserer Spezies entscheiden werden. Damit war Lem auch im Sozialismus, der vorgeblich freiesten und zukunftsträchtigsten Gesellschaftsordnung, ein Subversiver.

Lems 1961 verfasster Roman „Solaris“ wurde bis dato drei Mal verfilmt: 1968 von Boris Nirenburg, 1971 von Andrej Tarkowski und zuletzt 2002 von Steven Soderbergh. (Nebenbei, Lem lehnte die beiden letztgenannten Verfilmungen ab.) Allein diese Tatsache beweist, dass der Roman für die Künstler jeder Generation seit seiner Entstehung eine permanente Herausforderung war und ist. Das mag vielleicht daran liegen, dass die meiste moderne SF-Literatur überwiegend das Bedürfnis nach Unterhaltung und nach technischen Spezialeffekten bedient, oder aber zu Propagandazwecken entsteht. (Zahlen darüber, wie oft das amerikanische Pentagon im Hintergrund als Produzent fungiert, sollte die Alarmglocken schrillen lassen!) Tatsächlich gelang es den letzten beiden Filmen mit dem Titel „Solaris“ lediglich, eine Ahnung von den Dimensionen des philosophischen Anspruchs zu vermitteln.

Lem hält sich in seinem Buch nicht mit der Urangst der menschlichen Spezies auf, allein im Universum zu sein, er beantwortet diese seit Anbeginn im Raum stehende  Frage nach anderen Wesen vielmehr damit, dass er anmerkt, es könnte dem Menschen in seiner Unvollkommenheit nur schwer oder gar nicht gegeben sein, die möglichen Spielarten von Intelligenz zu erkennen oder zu begreifen, oder gar mit ihr korrespondieren zu können. Damit entgrenzt er das Denken dergestalt, dass sich der Homo sapiens sapiens seiner „kleinen“, menschlichen Denkweise schämen sollte, bekommt er doch in der heutigen Realität aufgrund seiner charakterlichen Schwächen nicht einmal die simpelsten Probleme in den Griff. Lem fordert den Menschen auf, ohne es zu artikulieren, den real existierenden Menschen zu überwinden und, wie es Nitzsche nannte, „Übermensch“ zu werden.

solaris

Stefan Ruppe, Robert Merdzo, Robin Sondermann, Pascal Fligg

© Arno Declair

Ort der Handlung ist ein kleiner Planet, ein Trabant, genannt Solaris. Forscher entdeckten bei ihrer Suche nach extraterrestrischem Leben, dass dieser kleine, fast gänzlich von einem Ozean bedeckte Himmelkörper scheinbar nicht den physikalischen Gesetzmäßigkeiten unterliegt. Eine Raumstation wurde errichtet, nachdem man vermutete, es handle sich um die Anwesenheit von Intelligenz. Doch aller Versuche der Kontaktaufnahme scheiterten. Die Forscher greifen zu härteren Methoden und setzten den Ozean „harter Strahlung“ aus. Die Nachrichten, die die Erde danach erreichen, sind besorgniserregend. Der Astronaut Gibarian hat sich das Leben genommen. Ein anderer, Fechner, verschwindet bei einem Aufklärungsflug. Die Erde schickt den Psychologen Kris Kelvin zur Station, um Aufklärung zu erhalten. Dort befinden sich Snaut und Sartorius, beide hochgradig verstört und zu keiner vernünftigen Kommunikation, die Aufklärung schaffen könnte, fähig. Dass die beiden regelmäßig Besuch erhalten, erfährt Kelvin erst, als er selbst von einer Erscheinung, seiner zehn Jahre zuvor verstorbenen Frau, heimgesucht wird. Harey, sie erscheint als dreidimensionales, sehr realistisches Abbild, hatte sich nach der Trennung beider das Leben genommen. Kelvin hält sich selbst für hochgradig schuldig. Langsam dämmert es dem Psychologen, dass sie nicht verrückt sind, sondern, dass Solaris, ein hochkomplexer Organismus, auf diese Weise mit den Menschen kommuniziert. Solaris hält dem Menschen den Spiegel vor und entblößt dessen Unzulänglichkeit erbarmungslos.


Regisseurin Bettina Bruinier konnte am Volkstheater mehrfach mit überaus intelligenten und künstlerisch hochwertigen Inszenierungen aufwarten. Ihre Arbeiten zeugten immer von einem freien und weitgreifenden Geist. Vermutlich wollte sich die Künstlerin mit dieser Theaterarbeit den Traum erfüllen, dem großartigen Werk Lems Fleisch und Stimme zu geben, wie die drei Filmregisseure vor ihr. Zumindest über die zwei letztgenannten Filme gelangte sie hinaus, indem sie dem Roman verhaftet blieb. Allerdings stellt sich die Frage, ob der Stoff sich dafür eignet, auf eine Theaterbühne gebracht zu werden. Das kann nicht verneint werden, da die Geschichte für den, der ihr folgen konnte (Es wurde mit umfänglicher physikalischer Terminologie hantiert.), spannend war. Unverständnis erzeugte naturgemäß das Gegenteil: Langeweile. In diesem Sinn wäre es anmaßend, den Stab über Sinn oder Unsinn der theatralen Einrichtung des Romans zu brechen. Sicher ist doch, Bescheidenheit im Anspruch gehört nicht ins und aufs Theater, sondern bleibt den sittlich Lauen außerhalb der Kunst vorbehalten.

Bühnenbildner Markus Karner hatte eine Raumstation geschaffen, dessen großes Panoramafenster Einblick in eine nüchterne Raumstation ermöglichte. Es war kein Ort des Lebens, vielmehr eine Arbeitsstätte, streng strukturiert und ohne lebendige Farbe. Stets präsent im hinteren Teil der Bühne auf einem kleinen Podest agierte der Musiker Robert Merdzo. Er verlieh den Vorgängen einen Sound, was der Grundidee sehr zugute kam, da ja die Intelligenz des Planeten Solaris ständig anwesend, aber nicht sichtbar war.  Robert Merdzo machte nicht nur sie fühlbar, sondern auch die inneren Vorgänge der Protagonisten. Den größten Teil der Geschichte hatte Pascal Fligg als Kris Kelvin zu leisten, was er auch mit engagiertem Spiel tat. Dabei musste er extreme emotionale Höhen und Tiefen glaubhaft machen, denn seine Figur befand sich vom ersten Augenblick an in Ausnahmesituationen. Hilfe konnte er dabei nicht erwarten, weder vom kettenrauchenden, völlig apathischen und zynischen Snaut (Stefan Ruppe), noch vom beinahe emotionslosen, völlig in sich zurückgezogenen Sartorius (Oliver Möller). Die Auftritte Gibarians, ebenfalls eine Projektion von Solaris, verwirrten den Psychologen bis an die Grenzen des Erträglichen. Robin Sondermann verlieh seiner Figur den Ausdruck einer abgeklärten Glückseligkeit, die nur bedeuten konnte, dass sie sich der außerirdischen Intelligenz hatte nähern können und wissend war. Gänzlich aus dem Rahmen fiel Lenja Schultze als Harey. Das lag in der Natur der Rolle, denn sie war fehl am Platze, verstand ihre eigene Anwesenheit über lange Zeit nicht. Die Amplitude ihre Gefühlswallungen schlug bis in jeden möglichen Winkel des Raumes aus.

Die Inszenierung sei unbedingt den Freunden von anspruchsvoller SF-Literatur (auf keinem Falle denen von Fantasy) empfohlen, denn die werden den Roman kennen und einen leichteren Zugang zur Arbeit von Bettina Bruinier haben. Sie soll aber auch all jenen Theaterfreunden empfohlen werden, deren Erwartung nicht darin besteht, dass Theater nur leichtzugängliches Vergnügen sein soll. Manchmal kann aus intellektueller Anstrengung auch ein großes Vergnügen gezogen werden, zumal, wenn sie mit so einer spannenden Geschichte gepaart ist.
Es war ein unspektakulärer Theaterabend, der aber gewaltige Denkanstöße geben konnte, ein Abend für Neugierige in Sachen Philosophie und am Thema „Was ist hinterm Horizont“ Interessierte.



Wolf Banitzki

 

 


Solaris

nach dem Roman von Stanisław Lem

Bühnenfassung: Bettina Bruinier und Katja Friedrich

Pascal Fligg, Oliver Möller, Stefan Ruppe, Lenja Schultze, Robin Sondermann

Regie: Bettina Bruinier
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