Cuvilliéstheater  Die Befristeten nach Elias Canetti


 

 

Von Tod, Leben und Freiheit

Von Verdun bis Auschwitz und Hiroshima breitete der Tod seinen Mantel über Menschen, etwa 90 Millionen wurden ihm in einer Zeitspanne von kaum 50 Jahren übergeben, der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Elias Canetti war Zeitzeuge dieser gewaltigen Massenvernichtungen und in seinen Werken finden sich Spuren der Auseinandersetzung, denen zu folgen den geistigen Horizont deutlich erweitern kann. In seinem, 1953 entstandenen Hörstück „Die Befristeten“ erzählt er von einer Gesellschaft, die sich in dem Wahn bestätigt, durch die Kenntnis der Lebensspanne zu mehr Sicherheit, Zufriedenheit und Kontrolle gelangt zu sein. Ein unübersehbar faschistoider Ansatz, der dem Zeitgeist entsprach auf den man sich in der nationalsozialistischen Idee geeinigt hatte, die das Leben anderer klassifizierte und nach Gutdünken damit verfuhr. Und dies, obwohl die ursprüngliche Idee zu dem Werk dem scheinbar simplen Vorgang des Lesens von Schicksal aus den Linien einer Hand entsprang. Die Nutzung von Anmaßung und Glauben sollte zur Vermittlung von Gewissheit dienen.
„Der Tod als Drohung ist die Münze der Macht. Es ist leicht, hier Münze auf Münze zu legen und enorme Kapitalien anzusammeln. Wer der Macht beikommen will, der muss den Befehl ohne Scheu ins Auge fassen und die Mittel finden, ihn seines Stachels zu berauben.“  (Masse und Macht, E. Canetti)
Die Angst des Menschen im Leben, um sein Leben ist allgegenwärtig und so umfassend, wie es wohl die Überforderung mit ebendiesem ist. In Bewegung hält den Vorgang der Begegnung mit der Existenzangst die Generierung von Macht und Unterdrückung. Hier treffen sich Individuum und Masse gleichermaßen. In einem Zeitalter, in dem durch die technischen Aufrüstungen die Vernichtung von allem Leben und dem gesamten Planeten Erde möglich ist, nimmt die Angst überproportionale Ausmaße an. Sie wird unterdrückt und ist doch spürbar allgegenwärtig. Ihre Pervertierung schleicht durch die Gesellschaft, wird stellenweise legitimiert. Auswirkungen finden sich im Versuch der wissenschaftlichen und erwerbbaren Körperperfektionierung ebenso, wie  im „gewaltsamen“ Erhalt von Leben, dem die Freiheit zu altersbedingtem selbstbestimmtem Tod genommen wird. Macht über das Dasein zu erlangen – ein Traum des Individuums – der in der Bewegung der Masse immer entartet.

Zur Biennale für neues Musiktheater griffen Regisseurin Nicola Hümpel und Komponist Detlev Glanert das Werk „Die Befristeten“  auf, um eine Inszenierung in der Sprache, Musik und Körper gleichermaßen Beachtung zukam, zu erarbeiten. Das Stück, eine Szenenfolge von alltäglichen Situationen, bietet neben den Grundproblemen auch eine Reihe von Anknüpfungspunkten, die aktuell in der Gesellschaft diskutiert werden. Der Ausgangspunkt dazu ist der einzelne Mensch in seiner jeweils gegenwärtigen Verfassung, die an der Gewissheit seines Todestages festgemacht scheint. Der rational materielle Umgang mit dem Tod und der zur Verfügung stehenden Lebenszeit hat oberste Priorität, der alles untergeordnet wird. Ausbildung, Berufs- und Partnerwahl und letztlich der Fatalismus mit dem das Ende als schicksalsgegeben hingenommen wird. Diese Ordnung, der Gesellschaftsvertrag welcher vom Kapselan (Gottesebenbild bzw. gesetzlicher Ordnungsvertreter), aufrecht erhalten wird, gilt als  unabänderlich und wird nicht in Frage gestellt. Die Masse beugt sich dem Gesetz solange, bis Einer es in Frage stellt. Durch den Widerspruch beginnt das System sich aufzulösen ...

Auf einer Töpferscheibe in der Mitte der, von Oliver Proske gestalteten, Drehbühne stand eine üppige Venusfigur aus Ton, an welcher sich der Kapselan künstlerisch versuchte. Paul Wolff-Plottegg erforschte dazu auch seinen Körper, untersuchte seinen Arm mit genauem Blick, drehte sich sinnbildhaft um seine eigene Achse. Die Musik blieb eher im Hintergrund unterlegend, bisweilen wie im Film beiläufig und doch die Momente unterstreichend, welchen es galt nachzuspüren. Die Bühne begann sich zu drehen, die Zeit nahm ihren Lauf und der Prospekt kam ins Blickfeld. Yui Kawaguchi tanzte auf dem Haus, ihre Bewegungen zeugten von feinsinniger, geradezu perfekter  Körperbeherrschung und akrobatischem Können. Damit kamen Schönheit und Verletzlichkeit ins Spiel. Aus dem Hintergrund erschien eine Gruppe, trat an Rampe und Michaela Steiger erklärte mit kraftvoller, keinen Widerspruch duldender Stimme, die gemeinsamen Glaubenssätze. Wolfram Rupperti, Marie Seiser, Tom Radisch und Philipp Caspari verkörperten Figuren dieser Welt, welche ihren Alltag ausbreiteten. Götz Schulte spielte anspruchsvoll, doch unaufdringlich den Verweigerer, dessen Überzeugung zu Freiheit führte.  Bisweilen unterbrach vorsätzliche Komik, suchte Beifall im Publikum und löste sich auf im nächsten Bild. Einige Weiterführungen des Textes ins Heute wirkten langatmig und gewollt aufklärend, ganz wie im realen Raum zelebriert, lösten sich auf im nächsten Bild. Die Bühne, deren Boden Plastikreste und nicht Gras zierte, trug die Zeit voran - mal sehr langsam, mal kontinuierlich, mal schnell oder angehalten - Mauer und Häuser wechselten bis am Ende die Figuren durch die Öffnungen ins Freie getragen schienen.

  DieBefristeten  
 

David Caspari, Wolfram Rupperti, Tom Radisch, Yui Kawaguchi,

© Adrienne Meister

 
 
Was in der Gesellschaft fehlt, ist das natürliche Verhältnis zwischen Leben und Tod. Die Angst und die Verdrängung, Unterdrückung eben dieser Angst, lähmen Wandel, bzw. schränken den Erfahrungsraum drastisch ein und brachten neuzeitlich eine Art Android hervor, welcher voll mechanisch agiert und beispielsweise befristete Verträge für die Leistungsabgabe in Hamsterrädern erfüllt, um sich dabei geilzustressen, zu verschleißen und verkümmern, getrieben von dem vergeblichen Versuch Ängstlicher Macht unter Kontrolle zu halten und in Floskeln leere Geheimniskrämerei zu Recht zu fertigen. Ein ebenso industrieller Produktionsvorgang zur bloßen Selbstbestätigung der Kapselane – der Betreiber des Systems. Das Stück verdeutlichte damit zudem einen inneren Vorgang, wie er auch in den Gehirnen stattfindet. Die Amygdala, das Glückszentrum der Menschen verkümmert zu einer geschlossenen Kapsel, in der Einbildung einen körperlichen Zustand von Leben ersetzen soll, und, welches erst durch den Tod seine Bestätigung findet, wie es die Religionen preisen. Parallel dazu: Die dem Frontallappen durch das allgegenwärtige Brett vor dem Kopf übermittelten Botschaften leiten die Figuren. Das Öffnen der brettartigen Apparate ist verboten (das Hinterfragen der Inhalte), denn diese sind leer, dienen sie doch nur der Übertragung willkürlicher beliebiger vorsätzlicher Wichtigkeiten. Dennoch scheint der Mensch ohne diese flachen „Kapseln“ hilflos und Chaos breitete sich aus, doch wäre es das Chaos, welches eine Neuordnung erst ermöglichte. „Das Gefährlichste an der Technik ist, daß sie ablenkt von dem, was den Menschen wirklich ausmacht, von dem, was er wirklich braucht.“ E. Canetti.

Die letzten Bilder der Inszenierung wirkten eindringlich und zeigten die Verlorenheit der Gestalten durch Erkenntnis und den damit einhergehenden Verlust der ehemals vereinbarten und akzeptierten Werte und Richtlinien. Valerie Pachner, mit Brille und Kostüm, stand dafür – ratlos, im Angesicht der Freiheit. Eine unmissverständliche Aufforderung zu Aufbruch in mehr Lebendigkeit wurde geboten und damit der Akzeptanz des Daseins per se, das durch Zusammenwirken, die Komposition klassischer und freier Elemente von Musik und Tanz, Schwingung und Bewegung der schöpferischen Kräfte getragen wird. Es war eine erlebenswerte anregende Inszenierung welche den Künstlern gelang, die die Vielfalt einer universellen Metapher umzusetzen verstanden. Das Konzept der achtsamen prozessbezogenen Zusammenarbeit ging auf und stand sinnbildlich für einen möglichen neuen Weg. Was kann ein Musktheaterstück mehr leisten? Um es mit Elias Canetti zu sagen: „Prinzip der Kunst: mehr wiederfinden als verloren gegangen ist.“

 

C.M.Meier


 


Die Befristeten

Musiktheater von Detlev Glanert und Nicola Hümpel nach Elias Canetti

David Caspari, Yui Kawaguchi, Valerie Pachner, Tom Radisch, Wolfram Rupperti, Götz Schulte, Marie Seiser, Michaela Steiger, Paul Wolff-Plottegg

Ensemble Piano Possibile – Thomas Hastreiter, David Jäger, Evi Keglmaier, Chris Lachotta, Jinny Lee, Philipp von Morgen, Julia Schölzel, Tobias Weber

Regie/Konzept/Kostüme: Nicola Hümpel
Komposition: Detlev Glanert

Cuvilliestheater Bunbury oder Von der Notwendigkeit, ernst zu sein von Oscar Wilde


 

 

Amüsement garantiert

Über ein Werk Oscar Wildes den Stab zu brechen ist leicht, folgt man einfach der Sichtweise des Autors. Der wurde einmal befragt, ob eine kürzlich stattgefundene Premiere denn von Erfolg gekrönt gewesen sei? Wilde gab ohne jeglichen Selbstzweifel zurück: „Das Stück war ein großer Erfolg; das Publikum ist allerdings durchgefallen.“ Tatsächlich war Oscar Wilde wie kaum ein anderer Künstler seiner Zeit erfolgsverwöhnt. Das hing durchaus auch damit zusammen, dass er nicht müde wurde, von seiner eigenen Genialität und Meisterschaft zu schwärmen. Er war seiner Zeit und der viktorianischen Gesellschaft in der Tat meilenweit überlegen. Seine Kommentare zur Realität waren desavouierend und zeugten von einer absoluten Ausnahmeintelligenz. Immerhin war Wilde selbstkritisch genug zu erkennen, dass er diese Intelligenz im Leben und nicht im Werk vergeudet hatte. Trotzdem war sein künstlerisches Werk, wenngleich einem extravaganten und zwecklosem Ästhetizismus verpflichtet, wegweisend. Der Einfluss seines Denkens ist noch heute spürbar. Viele seines Bonmots haben den Status von Sprichwörtern erlangt. Nachdem der Narziss und Ästhet wegen seiner homosexuellen Neigungen und Praktiken eine zweijährige Zuchthausstrafe in Reading verbüßt hatte, war er ein gebrochener Mann. Sein Geist indes blieb aufrecht und auf die Frage nach Selbstmord antwortete er: „Selbstmord ist das größte Kompliment, das man einer Gesellschaft machen kann.“

Mit der gefeierten Aufführung von „Bunbury oder Von der Notwendigkeit, ernst zu sein“ im Jahr 1895 stand Wildes Stern im Zenit. Dann machte er den Fehler, sich auf die Provokation des Marquess von Queensberry, mit dessen Sohn „Bosie“ Wilde eine intime Freudschaft unterhielt, einzulassen. Der Marquess hatte den Dichter in einer offenen Karte der „Somdomie“ bezichtigt, wobei er sich nicht scheute, seine orthografischen Schwächen öffentlich zu machen. Von „Bosie“ angetrieben, dem ungeliebten Vater den Prozess zu machen, schlitterte Wilde in die für ihn größtmögliche Katastrophe: Er wurde Katholik.

In besagter Komödie entwickelte Wilde die Philosophie des „Bunburysierens“. Dabei handelt es sich um die Schaffung einer virtuellen Parallelwelt, die es dem Protagonisten ermöglicht, aus den Zwängen des Alltags auszusteigen, um anderenorts seinen Lüsten zu frönen. Erfinder dieser Philosophie oder auch Lebensart ist Algernon Moncrieff. Um sich seinen gesellschaftlichen und häuslichen Pflichten zu entziehen, schuf er Bunbury, einen siechen Freund, der nach Bedarf erkranken konnte. Algernons Freund John Worthing, genannt Jack, hat sich seinerseits einen „versauten“ jüngeren Bruder (Marius von Mayenburgs Übersetzung) mit Namen Ernst zugelegt, dem immer wieder wegen seiner liederlichen Lebensweise aus der Patsche geholfen werden muss. Das System gerät ins Wanken, als beide bunburysierte Welten aufeinanderprallen und es zu Interessenskonflikten kommt. Algernon verliebt sich in Jacks Mündel Cecily, der er als Ernst entgegentritt. Algernons Cousine Gwendolen verliebt sich im Gegenzug in Jack, jedoch in dem festen Glauben, er sei Ernst. Der Schwindel fliegt irgendwann auf und es besteht Erklärungsbedarf. Da es sich um eine Komödie handelt, bekommt natürlich am Ende jeder was er sich wünscht.

Oskar Wildes Kritik an der viktorianischen Welt hat sich im Grunde längst überlebt, denn weder der Typus des fremdbestimmten, von gesellschaftlichen Zwängen korsettierten Gesellschaftsmenschen, noch die Prüderie des Viktorianismus existieren weiterhin. Trotzdem gibt es den grundsätzlichen Ansatz zum Ausbrechen aus gesellschaftlichen Normen oder privaten Befangenheiten noch immer. Beinahe jeder Ehebruch geht mit einer Bunburysierung einher. Und da wir in einer Genuss- und Suchtgesellschaft leben, entpuppt sich diese Technik als probates Mittel der Verschleierung. Bunburyismus ist eine Idee von Oscar Wilde. Und nimmt man die Maxime Wildes: „Die öffentliche Meinung existiert nur dort, wo es keine Ideen gibt!“ wörtlich, begreift man, wie wichtig solche Ideen sind.

  Bunbury  
 

Genija Rykova, Lukas Turtur

© Matthias Horn

 

Marius von Mayenburgs Übersetzung/Bearbeitung weicht nur geringfügig von den üblichen Übersetzungen ab und diente vornehmlich dazu, die kleine begrenzte viktorianische Gesellschaft Londons in einen internationalen Jetset zu verwandeln. So ließt Jack seinen Bruder Ernst nicht in Paris sterben, sondern in Las Vegas. Diese Perspektivverlagerung wurde im Bühnenbild deutlich, denn wichtigstes Element auf Nina Wetzels Bühne war eine große Leinwand. Dort flimmerten unentwegt surreale, verfremdete und gelegentlich sehr witzige Bilder von gigantischen metropolischen Stadtlandschaften. Im zweiten Akt wurden diese von  von ländlichen Bildern abgelöst, an deren Horizonte gewaltige Schlote giftigen Rauch ausstießen und kurioser Weise auch einatmeten, texanische Ölpumpen den Reichtum einer kleinen Gesellschaft, die die Protagonisten repräsentieren, aus dem Boden saugten. Allein diese Videos waren ausgesprochen sehenswert.  

Regisseur von Mayenburg inszenierte darüber hinaus in bester Boulevardkomödienmanier, ließ mit hohem Tempo spielen, trieb die Darsteller zu überzeichneter Darstellung an und sparte Slapstick nicht aus. Lukas Turturs Algernon war ein Bo in bester Wildeschen Tradition. Seine Darstellung ließ vermuten, dass sich Autor Oscar in dieser Rolle ein Stück weit selbst verewigte. Gunther Eckes John Worthing oder auch Jack war hingegen von Selbstzweifeln beherrscht. Sein Selbstvertrauen in Bezug auf seine Liebeswerbung war eher gering und so löste jeder kleine Erfolg in seinem Werben um Gwendolen Übersprunghandlungen aus, wie man sie von jungen Hunden kennt. Die Angebetete Gwendolen wurde von Katrin Röver gespielt. Von Mayenburg hatte die Figur mit einem Handicap ausgestattet, das sich als running Gag wunderbar verkaufen ließ. Sie litt unter Narkolepsie und wann immer sie in große Erregung geriet, fiel sie schlafend und schnarchend zu Boden. Genija Rykovas Cecily zeigte durchgängig eine starke Neigung zu perversem Sadismus. Selbst im letzten Bild noch zückte sie einen Revolver und tötete einen Dalmatiner. Der wurde, wie auch die Butlerrollen Lane und Merriman von Simon Werdelis gespielt. Seine Darstellung entbehrte gänzlich der üblichen Klischees. Ganz anders als die Rolle Dr. Canon Chasubles. Thomas Gräßle spielte die Rolle des Geistlichen als einen vordergründig perversen Fummler, der sowohl nach der Hauslehrerin Miss Prism (Beatrix Doderer) wie auch nach dem Messdiener gierte, der korrupt, eitel und machtlüstern seinem „Geschäft“ nachging. Und schließlich gab es noch Lady Bracknell, Gwendolens Mutter. Cornelia Froboess verwandelte diese Rolle in einen gesellschaftlichen Pitbull. Sie selbst war von der unerschütterlichen Vorstellung besessen, dass das ganze Empire ohne sie und ihre ordnende Hand längst untergegangen wäre.

Der Abend war nicht nur sehenswert, weil die Schauspieler sämtlich zu Hochform aufliefen und es richtig krachen ließen. Er war auch ästhetisch sehr einprägsam Dank der Transformation einer muffigen, auf Wortwitz und Skurrilität angelegten Salongeschichte in die großen Bilder des weltweiten, nicht minder dekadenten Jetsets. Nun könnte man konstatieren, dass wir mit der Geschichte kaum mehr etwas anfangen können, denn sie hält einem Vergleich mit der Realität in der Form nicht mehr wirklich und überzeugend stand. Abstrahiert man einmal von der Realität, erkennt man durchaus einige menschliche Eigenschaften und Charakterzüge, deren Halbwertszeit über die Bildungsmaßnahmen vergangener Gesellschaften hinausreichen. Aber auch das machte den Wert des Abends nicht aus. Der bestand unbestritten in seiner Unterhaltung. Und diesen Wert sollte man nicht geringschätzen. Es war Amüsement auf hohem intellektuellem und darstellerischem Niveau. Also, nichts wie hin und anschauen!

 

Wolf Banitzki

 

 


Bunbury oder Von der Notwendigkeit, ernst zu sein

von Oscar Wilde

Gunther Eckes, Lukas Turtur, Thomas Gräßle, Simon Werdelis, Cornelia Froboess, Katrin Röver, Genija Rykova, Beatrix Doderer / Ulrike Willenbacher

Regie Marius von Mayenburg

 

 

Cuvilliéstheater  Stiller nach Max Frisch


 

 

Frischs „Stiller“ zwischen Mensch und Puppe

 

Ein reizvoller Gedanke, seine Biografie Knall auf Fall zu beenden und eine völlig neue zu beginnen. Das ist Freiheit! Ist es das wirklich? Frisch stellte seinem Roman zwei Zitate von Sören Kirkegaard, einem Stammvater des Existenzialismus, aus dem Buch „Entweder – Oder“ voran. Kirkegaard setzte den Willen vor die Vernunft. Folglich kommen dem Menschen die Einsichten erst nach der Entscheidung für oder gegen das Etwas. „Die Subjektivität ist die Wahrheit!“, meinte Kirkegaard. Eine rationale Ethik lehnte er ab, präferierte eher eine religiöse und brachte sich damit selbst in die Nähe der Romantiker. Nichts anderes zeichnete Frisch in seinem Roman auf. Hier offenbarte sich einmal mehr der große Konflikt, in dem sich Frisch, der Architekt, der Technikgläubige, der Rationalist lebenslang befand, und der in seinem Roman „Homo Faber“ seine deutlichste Ausformulierung fand. Das Leben ist nicht berechen- und damit nicht bis ins letzte Detail planbar. „- Sieh, darum ist es so schwer, sich selbst zu wählen, weil in dieser Wahl die absolute Isolation mit der tiefsten Kontinuität identisch ist, weil durch sie jede Möglichkeit, etwas anderes zu werden, vielmehr sich in etwas anderes umzudichten, unbedingt ausgeschlossen ist.“ Kirkegaard – Oder, etwas laxer formuliert: Es gibt ein Entrinnen vor sich selbst.

 

Stillers Leben ist eine gelebte Realität. Doch plötzlich muss der Mann feststellen, dass es nicht sein Leben ist, nicht das Leben, das er zu Leben gedenkt. Im ganzen Roman findet sich allerdings kein Anhaltspunkt dazu, wie sein Leben aussehen könnte. Nur soviel: Sein Leben ist ein Plagiat. Er zieht die Konsequenzen und flieht aus dem Leben als Bildhauer, aus seiner Ehe mit der schönen und erfolgreichen, aber kranken Julika und aus der Liebschaft mit Sibylle. Bei der erneuten Einreise in die Schweiz nach gut 6 Jahren erkennt man ihn und setzt ihn fest, nachdem er einen Zöllner geohrfeigt hat. Doch Stiller behauptet, ein gewisser James Larkin White aus den USA zu sein. Er hält selbst dann noch daran fest, als die Beweise erdrückend werden. Insbesondere dem Staatsanwalt Rolf, er ist der Ehemann von Sibylle, Stillers Ex-Geliebten, ist daran gelegen, White in sein altes Leben als Stiller zurück zu befördern, denn der Mann ist ein Ärgernis und er stört die Harmonie des (Schweizer) Universums.

 

Stiller bleibt hart. Er wird dennoch verurteilt, Stiller zu sein und muss seine aufgelaufenen Schulden tilgen. Eine der letzten beschriebenen Szene aus der Feder Stillers ist die Begegnung mit dem Vater in Stillers Atelier, den Stiller natürlich verleugnet. Es ist ein Lokaltermin, bei dem Stillers Anwalt die Wahrheit provozieren will. Über die Frage Julikas, „Liebst du mich?“ gerät Stiller derart Wut, dass er die Gipsskulpturen zertrümmert: „Mumien, nichts als Mumien“. Staatsanwalt Rolf weiß am Ende (2. Teil des Romans) zu berichten, dass Stiller neuerlich eine Beziehung mit seiner Ehefrau Julika zu leben versucht. Doch es funktioniert nicht. Als Julika an der nochmals ausgebrochenen Tuberkulose stirbt, zieht sich Stiller gänzlich in die Einsamkeit zurück.

 
  Stiller  
 

Wolfram Rupperti, Thomas Gräßle, Aurel Manthei, August Zirner, Barbara Melzl

© Thomas Dashuber

 
 

Tina Lanik (Regie) und  Mervyn Millar (Puppenregie) haben sich des Romans von Max Frisch angenommen, um ihn in dramatischer Form zu einem hochartifiziellen Theaterabend umzugestalten. Das brachte das übliche (und bereits oft benannte) Problem mit sich, dass weite Teile der Handlung in reflexiver Prosa passierten, was zweifellos unterhaltsam ist, jedoch selten so spannend wie ein Theatertext, weil Dialoge wesentlich direkter wirken. Diesem Problem konnten die Macher in diesem Fall allerdings geschickt aus dem Weg gehen, denn das Sprechtheater wurde mit Puppentheater (Handspring Puppet Company - Basil Jones and Adrian Kohler ) kombiniert. Die wichtigen Protagonisten wurden durch Pendants in Form von Puppen (Puppendesign: Edmund Dimbleby) unterschiedlichster Größen kontrastiert und/oder ergänzt. Die Wirkung war frappant und fast hätte man meinen mögen, in dieser Konstellation könnte wohl jede Geschichte ästhetisch funktionieren.

 

Stefan Hageneiers Bühnenbild war letztlich auch mehr auf das Puppenspiel, denn auf das Sprechtheater zugeschnitten. Der perspektivisch gestreckte Raum, ein Zellentrakt des Untersuchungsgefängnisses, war die wunderbar simple Umsetzung einer mit lockerer Hand hingeworfenen Bleistiftzeichnung. Durch zwei durchsichtige Vorhänge konnte der Raum verkürzt oder aber auch vertieft werden. Außer August Zirner, der einen grantelnden, phantasierenden und unzugänglichen Stiller gab, waren alle anderen Darsteller eingesetzt, die Puppen zu bewegen. Sibylle Canonicas Julika war eine fragile Schönheit, deren Bedeutung so vage blieb in dem ganzen Spiel, wie der Rauch ihrer vielen Zigaretten. Ihre Figur stand für die Vergänglichkeit.

 

Oliver Nägeles opportunistischer Staatsanwalt, hatte, insbesondere wenn es um seine Ehefrau ging, etwas Mitleid erregendes. Er hatte wunderbar komische Momente, insbesondere, wenn seine Mitmenschen ihm Schmerz zufügten. Barbara Melzls propere, sehr direkte Sybille fügte gerade ihm Schmerzen zu. Sie war eine verwöhnte Tochter aus reichem Haus, für die nur ein einziger Mensch wirklich zählte: sie selbst. Thomas Gräßle gestaltete komödiantisch den genervten Anwalt Stillers (Bohnenblust) für den es nur eine Wahrheit gab, die des Augenscheins, und dem jegliches Verständnis für Abweichungen von seiner Wahrheit fehlte. Ganz im Gegensatz zu diesem Pragmatiker gab Robert Joseph Bartl einen beinahe poetisch anmutenden Gefängniswärter Knobel. Knobel war übrigens der einzige Mensch, der Stiller Glauben schenke, zumindest so lange, bis der sich nach seinem dritten Mord, den er begangen zu haben vorgab, in Widersprüchen verstrickte.

 

Max Frischs Roman ist seit seinem Erscheinen Gegenstand von Interpretationen, die sogar vereinzelt soweit gehen, die Frage nach der Identität Whites/Stillers immer wieder neu zu stellen. Tina Lanik fügte der Vielzahl der Interpretationen, auch der Lesarten keine wirklich neue hinzu. Das war auch nicht nötig, denn Frischs Roman aus dem Jahr 1954 ist inzwischen Klassiker und viele Versuche, Klassiker um jeden Preis neu zu interpretieren, enden nicht selten in der Lächerlichkeit oder sie müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, das Werk beschädigt zu haben. Es ist tatsächlich ein großartiger philosophischer Roman, der auf erschreckend nüchterne und zugleich subtile Weise den sich selbst entfremdeten Menschen und damit auch die Gesellschaft, die diesen Menschen hervorgebracht hat und immer noch hervorbringt, anzweifelt. Die Frage, ob es Tina Lanik mit der Inszenierung auch gelungen ist, das Essentielle des Romans, das Prinzip der Selbstentfremdung zu transportieren, muss eindeutig mit einem Ja beantwortet werden.

 

Die Mischung aus Schauspiel und Puppenspiel hat sich als probates Mittel erwiesen, Denkprozesse durch Verfremdung und Verlangsamung zu schärfen und ihre Komplexität freizusetzen. Dabei entstanden Bilder, die einerseits fremdartig, auch befremdend wirkten, in denen sich der Betrachter andererseits aber auch wieder finden konnte. Wirkung entsteht durch Spannungen, das gilt in der Physik ebenso wie in der Kunst. Dass es sich um ein gelungenes Experiment handelte, meinte auch das Publikum, das die Vorstellung mit deutlichem und lang anhaltenden Applaus honorierte.


 

 

Wolf Banitzki



 

 


Stiller

nach Max Frisch

In Zusammenarbeit mit der Handspring Puppet Company

Robert Joseph Bartl, Sibylle Canonica, Thomas Gräßle, Aurel Manthei, Barbara Melzl, Oliver Nägele, Katrin Röver, Wolfram Rupperti, Marie Seiser, August Zirner

Regie: Tina Lanik
Puppenregie: Mervyn Millar
Künstlerische Leitung Handspring Puppet Company Basil Jones + Adrian Kohler

Cuvilliéstheater Hotel Capri von Thomas Jonigk


 

 

Verschenkt

Ein schmuddeliges Hotelzimmer wird vom Hotelbetreiber Bruchmoser mit viel Emphase schöngeredet. Geradezu paradiesisch ist die Vision, die allerdings erst in drei oder vier Jahren Gestalt annehmen wird. Bis dahin, nun ja … Werner von Späth ist es egal. Ihn interessiert das Hotelzimmer im derzeitigen Zustand, denn er ist nach Jahrzehnten an diesen Ort zurückgekommen, um Erinnerungen zu beschwören, Erinnerungen an seine erste große Liebe oder auch nur seine ersten angstfreien sexuellen Erfahrungen. Franz war derjenige, der ihm damals bescherte was bislang nur Fantasie war. Also haben sich Werner und Franz im Hotel Capri, im Zimmer Nummer 11 verabredet. Die Zeit bis zum Eintreffen von Franz, dem Werner aus gutem Grund mit Unbehagen entgegen sieht, gestaltet sich überaus burlesk. Plötzlich steht Christine, eine redselige, schrille Blondine im Raum und behauptet, sie hätte das Zimmer Nummer 11 ebenfalls angemietet. Doch da sie ein Problem mit dem Alleinsein hat, und sie ist allein, denn sie hat sich gerade von Hubert getrennt, fügt es sich doch für beide, wie sie meint, prächtig. Werner ist selbstverständlich anderer Meinung, zumal er herzkrank ist und seine Medikamente starke Nebenwirkungen wie Wahnvorstellungen und Halluzinationen bereiten. Nur mit diesen Nebenwirkungen ist es erklärbar, warum er sich plötzlich Jahrzehnte zurückversetzt sieht und dem Liebesspiel zwischen sich und Franz beiwohnen kann. Als Franz endlich erscheint und ihm an den Kopf schmettert: „Du hast mein Leben ruiniert!“ bewahrheiten sich seine schlimmsten Befürchtungen. Doch in „Hotel Capri“ gibt es viele Momente und Augenblicke, die gänzlich anders sind, als sie scheinen.

Thomas Jonigks Auftragsarbeit für das Residenztheater ist eine melancholische Komödie zum Thema Homosexualität. Gebaut ist das Stück wie ein szenisches Puzzle. Erst am Ende kennt der Zuschauer die ganze Wahrheit. Im Programmheft zur Inszenierung hat Jonigk einige Gedanken zum Thema, und warum es noch immer aktuell ist, geäußert. Quintessenz des Textes ist, dass sich Schwulenfeindlichkeit nicht über der reinigenden Flamme der Vernunft verflüchtigt hat. Schwule sind noch immer ein willkommenes Feindbild (Russland, Polen, Ukraine oder Ungarn). Aber auch in Deutschland gestaltet sich das Verhältnis seltsam. Die scheinbar unerschütterliche Bundeskanzlerin verlor die Contenance, als sie zum Thema Adoptionsrecht für homosexuelle Paare befragt wurde. Die Umarmungen der Politiker gerade in der Wahlkampfphase lassen ganz nebenbei den Schluss zu, dass Homosexuelle ja auch Wähler sind. Die Wirtschaft hat längst erkannt, dass in dieser Bevölkerungsschicht viel Kapital schlummert. Thomas Jonigk bringt es auf den Punkt: „Kapitalismus macht’s möglich!“ Und trotz allem Toleranzgebaren äußerte ein prominenter Ex-Fußballer erst kürzlich öffentlich, dass er es besser fände, wenn sich schwule Fußballer nicht outen würden. Die Brisanz des Themas ist also unbestritten.

  HotelCapri  
 

Lambert Hamel

© Thomas Dashuber

 

Jonigks Text hat zweifellos nicht nur komische Qualitäten und bei der Starbesetzung mit Juliane Köhler (Christine) und den mit dieser Inszenierung an das Residenztheater zurückgekehrten Lambert Hamel (Werner von Späth) hätte der Abend zu einem Riesenspaß werden können. Juliane Köhler gab eine nicht mehr ganz taufrische high-speed-Tussi in Rosa, die ätzender und penetrierender kaum hätte sein können. Naturgemäß war sie vom Autor als der Gegenentwurf zum alternden Apotheker von Späth gedacht, um ein größtmögliches Spannungsfeld zu erzeugen, doch Lambert Hamel blieb so blass,  dass er über weite Strecken gar nicht anwesend zu sein schien. So verpuffte das nicht selten mechanisch klingende Sprachfeuerwerk Juliane Köhlers ohne nennenswerte Farben. Beinahe jede Pointe, jeder Sprachwitz wurde verschenkt, ging unter in der pseudoanarchischen Mischung aus Realem und Wahn.

Tina Lanik bewies mit dieser Inszenierung einmal mehr, dass psychologisches Theater nicht unbedingt ihre Stärke ist. Ihr Metier sind Bilder. Eines schuf sie immerhin noch am Ende, wenn die Schmuddelbude von Bühnenbildner Stefan Hageneier ihrer Wände entkleidet wurde und der Betrachter den „Durchblick“ auf den rotleuchtenden Schriftzug „Hotel Capri“ bekam. Der Wahn hob ab. Dieser Einfall konnte jedoch nichts mehr retten, denn die Zuschauer waren längst ausgestiegen aus der Geschichte. Wenn überhaupt, schufen Katrin Röver als cellulitebeschwertes Zimmermädchen Jessica mit Hang zu klaren Aussagen („Das Telefon ist im Arsch!“) und Götz Schulte als visionärer und selbstbetrügerischer Hotelier Bruchmoser fassbare Figuren aus Fleisch und Blut, die glaubhaft waren und das Wenige, was ihnen ihre Rolle bot, wirkungsvoll ans Publikum brachten. Wolfram Rupperti blieb als Hubert, eine plakative Witzfigur mit Drogerieladen, der seiner Liebsten in seinem Geschäft auch nach der Trennung 10 % Rabatt auf alles - außer Elektrogeräte - einräumte, in der Geschichte ebenso unverbindlich wie Arnulf Schumacher in der Rolle des Franz.

Schade, denn es hätte ein vergnüglicher Abend werden können, der nur dann, und so war es vom Autor wohl auch gedacht, seine Botschaft transportiert hätte. So blieb das Stück von durchschlagender Wirkungslosigkeit. Fazit: Verschenkt! Bleibt zu hoffen, dass „Hotel Capri“ eine weitere Chance bekommt.

 

Wolf Banitzki



 


Hotel Capri

von Thomas Jonigk

Lambert Hamel, Juliane Köhler, Arnulf Schumacher, Wolfram Rupperti, Katrin Röver, Götz Schulte, Simon Werdelis, Clemens Ansorg

Regie: Tina Lanik

Cuvilliéstheater  Lola Montez


 

 

Die Frau mit dem sexy Geist

 

Ihr wirklicher Name war Elizabeth Rosanna Gilbert. Sie wurde 1821 als Tochter eines schottischen Offiziers und einer irischen Landadeligen geboren. Ihr erster Lebensort war Indien. Mit fünf Jahren kehrte sie nach England zurück, wo sie ab 1837 in Bath ein Internat für höhere Töchter besuchte und in dem ihr eine anständige Schulbildung zuteil wurde.1842 kam Elizabeth Gilbert nach London zurück, wo sie die spanische Sprache und spanische Tänze erlernte. In einem allerdings recht kurzen Spanienaufenthalt vertiefte sie beides. Schließlich kehrte sie 1843 unter dem Namen Maria de los Dolores Porrys y Montez alias Lola Montez wieder nach London zurück und gab sich dort als spanische Tänzerin aus Sevilla aus. Am 3. Juni 1843 gab sie ihr Debüt, wurde aber sehr schnell als Hochstaplerin entlarvt und floh aus England.

 

Sie reiste durch ganz Europa und verursachte durch zahllose Liebesaffären tumultartige Zustände. Liebhaber duellierten und erschossen sich für sie. Gekrönte Häupter lagen ihr zu Füßen und Polizeischergen waren ihr wie Bluthunde auf den Fersen. Zu ihren Verehrern gehörte neben Vater und Sohn Dumas auch Franz Liszt. Häufig zwangen sie Ausweisungen zum Weiterziehen. Am 5. Oktober 1846 traf sie nach zwei Jahren Aufenthalt in der Pariser Halbwelt in München ein, wo sie im Bayerischen Hof abstieg und sich um Auftrittsmöglichkeiten bemühte. Sie war eine sehr zielbewusste Frau und sprach, nachdem ihr der Intendant der Münchener Hofbühne einen Auftritt versagte, direkt beim König Ludwig I. vor. Der 60jährige König verfiel ihren Reizen und er erwählte die 25jährige zu seiner Geliebten. Lola avancierte zum Dauerärgernis in der Stadt und verursachte permanent Tumulte. Sie wurde mit einem Adelstitel gekrönt und erhielt während ihres Aufenthaltes finanzielle Zuwendungen von annähernd 160.000 Gulden (ca. 2,3 Mio €). Zudem bekam sie vom König eine Villa in der Barerstraße Nr. 7 geschenkt. Sie legte sich eine studentische Leibgarde zu und stolzierte Zigarre rauchend gemeinsam mit ihrer Dogge durch die Stadt. Als der Könige ihre Einbürgerung befahl, trat das Kabinett zurück. In den studentischen Körperschaften kam es zum Aufruhr, woraufhin der König sämtliche, außer der Alemannia auflösen ließ. Hohe Beamte und Professoren wurden entlassen und als die Studenten handgreiflich gegen Lola wurden, schloss Ludwig die Universität kurzerhand für ein Semester. Am 10. Februar 1848 zogen Studenten und andere Bürger vor die Residenz. Ludwig musste sich den Protesten beugen und verbannte Lola aus München und Bayern.

 

Die bisherige Beschreibung war keine Geschichtslektion, sondern Inhalt des im Cuvilliéstheater am 25. Januar aufgeführten Dramma per musica, mehr oder weniger jedenfalls, denn das Stück beschränkt sich auf den Münchner Aufenthalt der sagenumwobenen Dame. Gehuldigt, anders kann man es nicht sagen, wurde einer Frau, die mit ungeheurem Selbstbewusstsein der Männerwelt Mitte des 19. Jahrhunderts die Stirn geboten, mehr noch, sie herausgefordert hat. Damit avancierte ihr Name für ein Gattungsbegriff, der sich durch die ganz Geschichte nach ihr zog: Lola, Lolita, Lulu ... Der Name stand fortan für Verruchtheit, womit natürlich der Figur an sich ebenso Unrecht geschieht, wie der konkreten Lola Montez. Das Urteil ist oberflächlich und kehrt ihren revolutionären Charakter unter den Teppich. Darauf machte die Inszenierung von Tom Kühnel und Jürgen Kuttner deutlich.

 
  LolaMontez  
 

Katrin Röver, Genija Rykova

© Matthias Horn

 
 

Jürgen Kuttner, der auch als Impresario oder Zirkusdirektor, durch die Geschichte moderierte, erklärte den Zuschauern, warum es sich bei der Wahl der Bühnenästhetik nur um eine „Operette“ handeln konnte. Lola Montez setzte das Rauchen im öffentlichen Raum durch. Das wurde allerdings unlängst wieder abgeschafft und somit fällt die Bayerische Geschichte in die Lola Montez-Vorzeit zurück, womit die Operette die einzig adäquate Kunstform für diese Thema sein kann. Wenn doch alle Kunst so leicht erklärbar wäre! Dem aufmerksamen Leser wird spätestens an diesem Punkt deutlich, dass die ganze Geschichte nicht allzu ernst genommen werden darf, und er täte gut daran, denn dann kommt er durchaus auf seine Kosten. Das Regie Duo Kühnel/Kuttner ließen es richtig krachen. Zur Unterstützung hatten sie sich die Pollyester Band und zehn weitere (durchaus seriöse) Musiker geholt. Das musikalische Spektrum reichte von Technopop bis Bayernchor, Anleihen ließen schmunzeln und gelegentlich lugten auch Brecht/Weill verschmitzt hervor. Es wurde mit Verve musiziert und gesungen. Dabei waren die Gesangseinlagen nicht selten hochgradig absurd. Das Vorsingen beim König bescherte dem Publikum eine höchst interessante Fassung von „I’m a cliché“. Doch was soll’s, denn Oliver Nägele, der an diesem Abend der wahre König der Komödianten war, leistete uneingeschränkte Vergebung. Er machte die Geschichte der Emanzipation der Frau, die eigentlich zum Heulen ist, da sie, wie Kuttner durchaus mit Recht bemerkte, noch längst nicht zuende zu sein scheint, erträglich bis heiter.

 

Katrin Röver und Genija Rykova verkörperten jeweils eine innere und eine äußere Lola. Es liegt auf der Hand, dass diese Frau, um zu überleben, zwei Persönlichkeiten haben musste. Und wie sie überlebten! Wie sie tanzten, sangen, dirigierten, intrigierten, - das hatte Grandezza. Ihren gefährlichster Gegenspieler verkörperte dabei Götz Argus in der Rolle des Polizeidirektors von Pechmann, der die historische Lola schließlich zur Strecke brachte. In seiner Figur wurde deutlich, dass auch im verbeamteten Bayern eine gehörige Portion preußischer Stumpfsinn und Bösartigkeit stecken kann. Katharina Pichlers Emerenzia Klachtmoser indes demonstrierte bajuwarisches Temperament. Da soll noch einer behaupten, in Bayern gäbe es keine Vulkane! Zurückhaltender agierte neben Arthur Klemt als Maler Stieler, er schuf das berühmte Porträt der Lola, auch Wolfram Ruperti als Leutnant Nussbaumer. Sie waren mehr oder weniger Gliedmaßen des Königs und folglich ohne viel eigenen Willen. Ein Darsteller jedoch war weitestgehend mitverantwortlich für den gelungenen Erfolg des Abends: Lukas Turtur. Als Bébé, der schwule Begleiter Lolas, entfesselte er die Energien, die es braucht, eine Show richtig auf Touren zu bringen.

 

Der Abend gefiel allgemein und das aus durchaus gutem Grund. Es wurde endlich einmal ein Bild von einer Frau gezeichnet, die im Bewusstsein der meisten Menschen nicht anders existierte, wie im Bewusstsein ihrer stumpfsinnigen Zeitgenossen. Lola Montez starb 39jährig an einer Lungenentzündung, ungebrochen und als autarkes Wesen. Sie war ein so starke Frau, dass München ihr ein Denkmal setzen sollte. Sie hat die Bürger dieser Stadt mehr aus der Fassung gebracht, als die zeitgleich stattfindende Revolution. Sie war eine Revolution. Aber es liegt in der Natur der Sache, dass ihre Unterwäsche interessanter ist, als ihre theoretischen Auslassungen über den Zeitgeist, die allemal pikanter waren.

 

Was ist geblieben von Lola Montez in München? Der Graf Maximilian von Arco-Zinneberg ergatterte den wohl letzten Zigarettenstummel von Lola Montez, den sie während ihrer Flucht aus Bayern wegwarf. Zur Erinnerung beschriftete der Graf ihn und heute kann er im Münchener Stadtmuseum bestaunt werden. Dringlicher als die Begutachtung dieses Reliktes soll dennoch die Inszenierung empfohlen sein. Sie ist nicht unbedingt authentischer, dafür aber viel wahrer und vor allem lauter, bunter und lustiger. Die Kippe kann in zehn Jahren noch bestaunt werden.

 

 

Wolf Banitzki



 

 


Lola Montez

Dramma per musica von Peter Kreuder und Maurus Pacher in einer Fassung von Tom Kühnel und Jürgen Kuttner

Katharina Pichler, Katrin Röver, Genija Rykova, Götz Argus, Arthur Klemt, Jürgen Kuttner, Oliver Nägele, Wolfram Rupperti, Lukas Turtur

Musiker: Manu Dacoll (dr), Manuela Rzytki (keyb), Thomas Wühr (dr), Ulrich Wangenheim (cl, bcl, fl), Blerim Hoxa (vio), Eugen Bazijan (cello), Manfred Manhart (akk), Leo Gmelch (tuba, btb), Ludwig Estl Herrenchor

Musikalisches Arrangement: Rudolf Gregor Knabl + Pollyester
Regie: Tom Kühnel + Jürgen Kuttner