Marstall Der Geldkomplex von Jürgen Kuttner und Suse Wächter


 


(No) Money makes the world go round

Nein, man erfährt nichts aufregendes über das Wesen des Geldes, sondern nur einiges über das Wesen Geld: „Ich bin tatsächlich dahingekommen, das Geld als ein persönliches Wesen aufzufassen, zu dem man eine ausgesprochene und in meinem Falle eine qualvolle Beziehung hat.“ Franziska Gräfin zu Reventlow (1871 bis 1918), lebenslang dem Mangel an Geld ausgeliefert, trieb den Gedanken an selbiges in ihrem Briefroman Geldkomplex (Roman, meinen Gläubigern zugeeignet, 1916) auf die Spitze.

In einer (fiktiven) Begegnung mit Sigmund Freud rät dieser ihr, sich in das Sanatorium des Freundes Prof. X einweisen zu lassen, wo er, Freud, sie zu therapieren gedenkt, denn sie leidet an einem „Geldkomplex“. Bald schon stellt sich heraus, dass der überwiegende Teil der Insassen ebenfalls an einem „Geldkomplex“ leiden. Lukas beispielsweise ist Nationalökonom. Er hat seinen Beruf zur Obsession gemacht und ist eifrig darum bemüht, das Geld, welches die Gräfin nicht hat, zu schützen und zu mehren. Henry war Leiter eines Goldminenprojektes in Südafrika. Auch er hat einen Geldkomplex, denn er hat kein Geld. Dafür hat er hochfliegende Pläne und die unerschütterliche Gewissheit, dass seine Projekte eines Tages von Erfolg gekrönt sein werden. Bis dahin ist er ebenso vom Geld besessen, wie alle anderen.

Das Wunderbare und zugleich Unglaubliche an der ganzen Geschichte ist, dass sie in Grundzügen autobiografisch ist. Franziska Gräfin zu Reventlow berichtete einer gewissen Maria in der ersten Person vermittels 25 Briefen. Der Leser des Buches und auch der Zuschauer im Marstall erfährt von einer Scheinehe, die Franziska auf Anraten des Dichters Erich Mühsam mit dem baltische Baron Alexander von Rechenberg-Linten einging. Dem Baron, ein bizarrer Lebemann und Alkoholiker, der sich, in Italien lebend, seiner Waschfrau zugewandt hat, drohte die Enteignung. Er ging diesen Schritt, um im Testament des Vaters, der permanent die Schulden des Juniors bezahlte, als Erbe zu verbleiben. Alle Hoffnungen der Gräfin, die mit ihrem Geldkomplex im Sanatorium saß, zielten auf das zu erwartende Erbe. Zwar war Franziska nie Insassin eines psychiatrischen (oder psychoanalytischen) Sanatoriums und auch nie Patientin von Sigmund Freud,  doch die auf der Bühne des Marstalls erzählte Geschichte ist in allen wesentlichen Geschehnissen authentisch.

Franziska könnte heute als eine der großen Vorkämpferinnen der Emanzipation gelten, wenn ihre Ziele ideologischer und nicht individueller Natur gewesen wären. In ihrem Essay „Viragines oder Hetären?“ (1899) ging sie unmissverständlich auf Abstand zur damaligen Frauenbewegung. Sie forderte zwar das Recht auf Selbstbestimmung, meinte aber die „volle geschlechtliche Freiheit“ und verfolgte damit die sexuelle Emanzipation. Von Gleichstellung der Geschlechter hielt sie hingegen gar nichts, denn „eine Vermännlichung der Frauen ließe die Erotik verkümmern“. (Hört! Hört!) „Bei mir steht und fällt alles mit dem Erotischen“, schreibt sie. Ihr Ideal: Die Hetäre. „Warum sollte das moderne Heidentum uns nicht auch ein modernes Hetärentum bringen? Ich meine, den Frauen den Mut zur freien Liebe vor aller Welt wiedergeben? [...] Die Hetären des Altertums waren freie, hochgebildete und geachtete Frauen.“ Sexuell lebte sich die wunderschöne, fragile Frau hemmungslos aus. Erich Mühsam vollführte immerhin den Kotau vor ihr, denn sie war für ihn „die wertvollste Frau, die (er) kannte“.

Inzwischen bestehen die Nachrichten in deutschen Medien fast ausschließlich aus dem Thema Geld, wohlgemerkt Geld, das nicht da ist, also Schulden. Zum Stück: Geld, Geld, Geld. Dabei ist es eines der langweiligsten Themen überhaupt. Und nun versprach auch noch ein Theaterstück Erbauliches zum Thema. Das war nur die halbe Wahrheit, denn das Thema hieß „Geldkomplex“, und das ist ein durchaus interessantes, insbesondere, wenn man den Patienten dabei zuschauen konnte, wie sie sich seelisch auf das Freudschen Sofa erleichterten. Es lag nahe, dass das Sofa einen zentraler Dreh- und Angelpunkt der Ausstattung bilden würde. Bühnenbildnerin Kati Seibert hatte gleich eine ganze Kaskade von Sofas in fünf Etagen auf die Bühne gebracht, als könne man die Gipfel der Psychoanalyse wie einen Berg besteigen.
 
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Arthur Klemt, Katharina Pichler, Carolin Conrad, Jürgen Kuttner

© Thomas Dashuber

 
 
Carolin Conrad und Katharina Pichler teilten sich die Rolle der geldkomplexbeladenen Gräfin. Sie spielten kapriziös-weiblich die extravaganten Haltungen der vom Geld und seinen Verheißungen besessenen Bohemien, die nicht als Künstlerin, sondern als legendäre „Gräfin von Schwabing“ und Lebenskünstlerin in die Geschichte einging. Regisseur Jürgen Kuttner, der zugleich die Rolle des Henry übernahm, verlangte den Darstellern sowohl physisch als auch sprachlich einiges ab. Da wurde auch schon mal ein Bergringrennen auf den Sofakaskaden veranstaltet, um ein Telgramm zu erhaschen. Dann wiederum sinnierte man in lasziven oder gelangweilten Posen, um wenig später erneut auf- und  niederzusteigen, wie Wetterfrösche, die auf seelischen Druck reagieren. Die tragende männliche Rolle oblag Arthur Klemt als Lukas, der auch den Miterben, also den versoffenen und spleenigen Ehemann Alexander, spielte. Klemt gab einen ökonomisch Rechtschaffenden oder Vernünftigen, was an sich schon komisch ist, denn inzwischen müsste auch der Letzte begriffen haben, dass Ökonomie (ohne Alternative) und Rechtschaffenheit oder gar Vernunft Anachronismen sind und das Eine das Andere ausschließt. Klemt verlieh dem bürgerlichen Buchhalter mit ökonomischer Bildung und Sockenhaltern glaubhaft Ausdruck. Ihn sollte man sich vor Augen halten, wenn die Gazetten berichten, dass die europäischen Staatschefs in ihren Ämtern von Bankern abgelöst werden.

Es war ein über die Maßen schwungvolles und komisches Spiel, in dem Musikeinlagen und Videoprojektionen nicht fehlten. Die Darsteller vermochten das Publikum mit engagiertem, lustvollem und ausdrucksstarkem Spiel zu fesseln, das Thema tat es darüber hinaus. Das wirkliche Highlight des Abends waren allerdings die Auftritte von Suse Wächter und Peter Lutz mit den Puppen Franziska, Siegmund Freud und Tod. Das grandiose und faszinierende Spiel mit den Puppen zeigte, wozu Theater fähig sein kann. Hinzu kam, dass Suse Wächter zu jeder Figur einen besonders trefflichen Sprachduktus der ihre Auftritte unvergesslich für den Betrachter macht. Das war ganz große Magie! Unbedingt sehenswert!

Jürgen Kuttner gelang eine hochartifizielle, komplexe, ästhetisch und inhaltlich geschlossene Inszenierung, die für die Zuschauer wahrhaft „gewinnbringend“ war. Beinahe erreichten es Kuttner und seinen Mitstreitern, den Glauben in das Geld zu erschüttern. Aber nur fast, denn Theater ist Theater und schon beim Verlassen der Institution wehte einen an der Kasse der Tiefgarage der neoliberale Wind ins Gesicht, der da wisperte: „Das ist gar nicht komisch! Denk daran, wie du deine Miete zahlen willst!“. Das bedeutet aber dennoch nicht, wie mancher Banker glauben machen möchten, dass das Geld ein Gott ist und die Wege dieses Gottes unergründlich sind. („Das Kapital“ von Karl Marx kann da Abhilfe schaffen. Man kann es verstehen; es wurde für Arbeiter und Handwerker geschrieben.)

Wie heißt es so schön im ungeschriebenen Handbuch des Neoliberalismus? „Jede Pleite ist eine Chance!“ So verstand es wohl auch Franziska Gräfin zu Reventlow: „Unser Dasein steht hier natürlich im Zeichen des Bankrotts, und auch das hat seinen Charme.“ Das hieß allerdings nicht, die Ärmel aufzukrempeln und arbeitsam anzupacken. Wozu auch, die heutige Politik, insbesondere die deutsche, handelt da ganz im Sinne der Gräfin: „Die ganze Atmosphäre hat eine kapitalistische Note bekommen, die ungemein wohltuend ist. Unsere Popularität ist ins Ungeheure gestiegen, wir gelten zum mindesten für Millionäre, weil wir unsere Verluste mit Würde tragen, und haben schrankenlosen Kredit. So läßt sich's ganz gut leben.“ Von wegen Angst vor Schulden: No Money makes the world go round!

Doch während das Kapital nur ein scheues Reh ist, hatte die Gräfin das Herz einer Löwin. Ihr Motto lautet zeitlebens: „Ich will überhaupt lauter Unmögliches, aber lieber will ich das wollen, als mich im Möglichen schön zurechtlegen.“


Wolf Banitzki

 


Der Geldkomplex

von Jürgen Kuttner und Suse Wächter

Carolin Conrad, Arthur Klemt, Jürgen Kuttner, Peter Lutz, Katharina Pichler, Suse Wächter

Regie: Jürgen Kuttner

Marstall UA Wer sich traut, reisst die Kälte vom Pferd nach Alexander Kluge


 

 

Prosaisch

Im Spiegel der Grammatik, welche das Feld der Sprache und der Erkenntnisse strukturiert und doch das Wesentliche nicht zu erfassen in der Lage ist, wurde ein grundlegendes Problem dargestellt. Denn seit Kant, hat sich nur wenig verändert. Und so kann die Grammatik neben einer ordnenden Funktion auch als eine gefährliche Waffe dienen. Sie ist nach Alexander Kluge die einzige Waffe, über die das Bewusstsein verfügt. Doch da Waffen, ausgenommen die Zeit der Aufklärung, immer zum Kampf genutzt werden, steht an jedem Ende fest: „Ich werde gewesen sein.“

Über die Geschichte von vier Kriegsveteranen, die dem Kessel von Stalingrad entfliehen konnten, sich in China den gegenrevolutionären Kuomintang anschließen und nach dem Sieg Maos sich nach Hongkong absetzen, wird im Zeitraffer auf die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts geblickt. Die Vier stranden anschließend in den Diensten des CIA, wo sie Karriere machen. Zwar wechseln die Männer wiederholt Seiten und Orte, doch das System „Gewalt und Krieg“ begleiten sie, sei es in Kampfhandlungen, sei es im sogenannten Kalten Krieg und so verlassen sie nach einem Atomschlag 2012 die Erde, um sich im Jahre 2103 nochmals mit ihrer Geschichte auseinander zu setzen.

„Ich werde gewesen sein.“ Dieser Regress, dieser exzessiv betriebene Rückschluss auf die Vergangenheit, auf sich selbst und sein Verhalten führt automatisch zu Paranoia. Die Geschichtsbetrachtung in Deutschland, die weit über das gesunde Maß hinaus, seit 60 Jahren über das 3. Reich betrieben wird, führt unausweichlich zur Wiederholung ebendieser Verhaltensweisen und richtet sich in dem Fall gegen sich selbst - als Volk zwischen den Mitmenschen, zwischen den Generationen, zwischen den Geschlechtern. Die Vermeidung von Vergangenheit eignet sich nicht zur Gestaltung von Zukunft. Des Veteranen Ungern-Sternberg Kostüm nahm direkt darauf Bezug – zwei Beine die vorwärts trugen und zwei Beine die gleichzeitig rückwärts gerichtet waren, verdeutlichten den Kreis der sich hier schließt. Zudem veranschaulichte die Maske, dass die Kreatur sich noch nicht mal aufgerichtet hat, trug er doch auch an den Händen Schuhe, lief symbolisch auf allen Vieren. Sein Kampfgefährte Boltzmann wurde ganz zeitgemäß von einer Frau gegeben, und hätte diese nicht ein feines stützendes Korsett getragen, so wäre sie als solche kaum zu erkennen gewesen.

Der Schwarze Krieg findet auf dem Papier statt. Gesetze, Vorschriften und Repressionen und Berge von Papier, die längst alle Lebendigkeit und Entfaltungsmöglichkeit in ihrer Flut erstickt haben, unterdrücken die letzten Lebensimpulse. „Die Erde ist gewaltig schön, doch sicher ist sie nicht ...“  und wird es auch durch die vielen schwarzen Zeichen nicht. Die verbliebenen Menschen fliehen zu den Sternen, in die Träume.

Die Retter sollen diesmal aus China kommen. Doch ist man bereit, sich dem Chinesischen System und seiner Sprache ebenso unterzuordnen, ihm nachzufolgen, wie man es nach dem 2. Weltkrieg dem Amerikanischen gegenüber tat? China verfolgt ein System welches das Ende jeglicher Mitmenschlichkeit vorstellt und den expliziten Ausdruck von militanter Hierarchie und eingebildetem Pragmatismus, sowie gelebter Emotionslosigkeit nach außen verkörpert. Die Fremdheit allein der chinesischen Sprache (die Übersetzung kam auf dem Laufband im Hintergrund), mit der die Chinesin Hong Mei die Zuschauer als Parteigenossen ansprach, machte dies deutlich fühlbar. Daran änderte auch das strahlende puppenhafte Lächeln nichts.

Kälte, bildhaft einer der apokalyptischen Reiter, ist eine Qualität innerhalb des Spektrums von  Aggregatzuständen, die bei oder nach der Überhitzung eines Gegenpols entgegensteht. Finden sich doch im All unzählige Beispiele dafür, umgibt doch eisige Kühle die strahlenden Feuer. Die Spaltung der verbundenen Kräfte im Menschen, ein atomarer Vorgang, in ein mentales und ein emotionales Feld, führt zur Freisetzung von potentieller Energie, welche extreme Ergebnisse hervorruft. Der Mensch, von seiner Natur abgeschnitten und in eine ideologische Systemhörigkeit gepresst, die Umsetzung einer Absicht auf generalisierte Weise fordert, verbrennt oder dient, trivial ausgedrückt als Brennstoff. Es bleibt egal, auf welcher Seite er dabei steht und welchem ideologischen Konzept gefolgt wird. Je heißer und konsequenter der Kampf ums Überleben geführt wird, umso kälter und rücksichtsloser reagiert der Einzelne. Diese wissenschaftliche Erkenntnisse in anschauliche Bilder zu fassen, ist ein redliches Anliegen.

Die Aufführung war Beispiel für die Schwierigkeit, intellektuellen Text als Bühnenstück umzusetzen oder kann vielmehr als eine Anstrengung, prosaische Beschreibungen bildhaft erfahrbar zu machen, gesehen werden. Die Fülle der Erkenntnisse – „... so viel gehört, doch es kam bei mir nicht an ...“  - wirkte übermächtig. Doch tatsächlich nachhaltig beeindruckten die Bilder auf der Bühne - das Bühnenbild (Christoph Ebener), die Kostüme (Petra Winterer) und die konsequente Gestaltung, ebenso wie die darstellende Umsetzung der Figuren. Regisseur Kevin Rittberger zeichnete in der Bearbeitung und der Umsetzung klare erkennbare Vorgänge.  
Ulrike Willenbacher brillierte als Boltzmann, geschlechtsunspezifisch, wie mechanisch gesteuert, ja fast roboterhaft, agierte sie zwischen den Männern. Ein bekanntes Verhalten, welches über viele Lehrgänge antrainiert wird. Da war der Umgang mit Dorfmann (freundlich vermittelnd Felix Klare) erheblich einfacher, es reichte, den Chip an seinem Hinterkopf zu aktivieren, um Antwort oder Beteiligung zu erhalten. Miguel Abrantes Ostrowski gab den ambitionierten von Ungern-Sternberg mit außergewöhnlicher Präsenz und ließ so in verschiedenen Situationen Enthusiasmus von der Bühne leuchten. Zwicki, in Tarnkleidung die ebenso gut ein haariges Fell hätte sein können, richtete seine Äußerungen reaktiv nach den Umständen. Er wurde, sich stets opportun anpassend gespielt von Sierk Radzei. Ein Nomade zog seine Spur über die Bühne, durch das Spiel. Er bewegte sich verhalten still am Rande, bewegte sich im unendlichen Feld der Erkenntnisse. Gelegentlich brachte er wissenschaftliche Beobachtungen hervor, über die Tierwelt, über gesellschaftliche Vorgänge, über das Bewusstsein. Robert Niemann schritt langsam über die Empore, erklomm die Leiter zur umfassenden Äußerung. Seine Maske war erschreckend lebensnahe und doch deutlich Maske (Nicole Purcell/Leonhard Putzgruber). Der Focus blieb in den Theaterbildern auf das die Handlungen steuernde Gefühl gerichtet. Allein aus diesen Aspekten kann die Inszenierung als absolut gelungen betrachtet werden. Hält sie zudem der Gesellschaft den Spiegel der Selbstbestätigung in einem Vergrößerungsglas vor.
 
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Ulrike Willenbacher, Sierk Radzei, Felix Klare, Miguel Abrantes Ostrowski, Hong Mei

© Thomas Dashuber

 

Regisseur Kevin Rittberger setzte leider diese bekannten Bilder um, beließ die Lösungen im Text. So stellt beispielsweise der Winterschlaf, die Wachheit ohne Sorge, jene natürliche Überlebensform dar, die das Weiterleben unter extremen Bedingungen ermöglicht. Begäbe sich die Menschheit in eine Art Winterschlaf - die Reduktion der Tätigkeiten auf das, die unmittelbare Existenz sichernde Minimum – so würden die Kräfte und Rohstoffe noch für viele Generationen ausreichen. Da diese Einsicht keine Umsetzung in visuelle Bilder fand, so verging sie als kurzer Klang im Raum.

Ebenso wurde das Urvertrauen angesprochen, welches dem Tiefschlaf des Geistes folgt, und dieses gilt es zu erfahren. Aber ist es nicht gerade jenes Urvertrauen, welches zutiefst der Natur entspringt, das die zerstörenden und erneuernden Kräfte lenkt? Es mündete in die angesprochenen drei möglichen Bilder aller Zirkusnummern, die jemals zur Darstellung kamen und sich im Schlussbild manifestierten.

 

Das Fatale an der Inszenierung: Sie beließ Antworten in kurzen Textpassagen, zeigte nur Bestätigungen, oder sind etwa die Bestätigungen die Antwort? Damit spräche man aber dem Menschen jegliche Entwicklungsfähigkeit ab und das weigere ich mich anzunehmen. Vielmehr wäre zu hoffen, dass Erkenntnis, in dieser Zeit der schwarzen Zeichen, den Blick wieder frei werden lässt. „Die Erde ist gewaltig schön, doch sicher ist sie nicht ...“

Die Aufführung sei jenen Menschen empfohlen, die in Auseinandersetzung und deutlichen Bildern Anregung suchen. Jenen, die „Die Kälte vom Pferd in dieser Zeit“ zu reißen Willens sind,  was einfach bedeuten könnte, denen noch Selbstvertrauen und die Fähigkeit zu Leben innewohnt, die Schlüsse zu Konsequenzen führen, und die diese Einsichten, wenn auch in kleinen persönlichen Schritten, umsetzen, Spuren zu hinterlassen. „Ich werde gewesen sein.“

 

 

 

C.M.Meier

 

 


UA Wer sich traut, reisst die Kälte vom Pferd
oder Wie lässt sich eine Verhängniserzählung beenden?

nach Alexander Kluge / Bearbeitung Kevin Rittberger

Miguel Abrantes Ostrowski, Felix Klare, Sierk Radzei, Ulrike Willenbacher, Robert Niemann, Hong Mei

Regie: Kevin Rittberger

Marstall Dreck von Robert Schneider


 

 

Wider den tumben Ausländerhass

Sad ist dreißig Jahre alt und illegal aus dem irakischen Basra nach Deutschland eingewandert. Er studierte daheim Philosophie und Germanistik. In die deutsche Sprache verliebte es sich wegen des Wortes „Leica“. Er hat auch einige Bilder dabei, die mit eben so einer Kamera gemacht wurden. Er selbst ist Dreck, wie auch seine Landsleute und die vielen anderen Einwanderer. Seine Kultur ist eine minderwertige. Er frisst zu viele Zwiebeln, putzt sich die Zähne nicht und stinkt naturgemäß aus dem Mund. Seine dunklen Augen, seine Haut, sein Haar sind verabscheuungswürdig. Verrat ist in den Arabern genetisch verwurzelt, also Vorsicht! Alles das erzählt er dem Publikum im Brustton tiefster Überzeugung, gleichsam Verzeihung heischend. Woher er alles das über sich weiß? Von den deutschen Parkbankmenschen, den Hinter-vorgehaltener-Hand-Tuschlern, den Menschen an den Stammtischen und inzwischen auch aus den literarischen Ausscheidungen honoriger deutscher Politiker. Ja, er versteht alle diese wunderbaren Menschen, die doch nur um ihr schönes Deutschland besorgt sind. Und darum rät er diesen guten deutschen Bürgern, Menschen wie ihn, Einwanderer, Fremdländische, Ausländer zu beschimpfen, ihnen Scherben und Messer ins unwerte, streng riechende Fleisch zu stoßen, ihnen mit Eisenstangen Schädel und Knochen zu zertrümmern. Ja, dieses Recht gesteht er den Deutschen zu, denn er versteht deren Liebe zu und deren Angst um Deutschland, liebt er es doch selbst hingebungsvoll. Er rechnet stets damit, angegriffen zu werden, wenn er abends seine Tour durch die mehr als fünfzig Kneipen macht, um seine Rosen zu erkaufen. Angst hat er nicht.

Angst und Bange wird allerdings dem Zuschauer, der erkennen muss, dass dieser Text, von Robert Schneider 1993 verfasst, keine bloße Provokation ist, sondern Realität. Eine künstlerische, ohne Frage, denn wer kann sich einen Araber vorstellen, der in seiner Selbstverleugnung so weit gehen würde. Allein, die substanziellen Aussagen bleiben deswegen unbestritten. Deutschland und ganz Europa sind bemüht, Burgenbaupolitik zu betreiben. My home is my castle! Das Boot ist voll!

Regisseurin Manuela Kücükdag hat diesen einstündigen Monolog mit Münchner Jugendlichen auf die Bühne des Marstalls gebracht. Ioanna Pantazopoulou gestaltete dafür eine Bühne, die an einen weißen Hintergrundscreen, wie man ihn aus Fotostudios kennt, erinnert, auf dem impressionistischen Landschaften und Himmel projiziert werden. Alles ist in Schwarz-Weiß gehalten. Weiße Koffer und schwarzgewandete Akteure, einheitlich blond, bevölkern die Bühne. Eine gute Lösung, wenn man deutlich machen möchte, wie sich schwarz-weißes Denken anfühlt.

Es war ein mutiger Schritt von Manuela Kücükdag, diesen harten, grausamen Text mit Laien auf die Bühne zu bringen. Das Ergebnis war mehr als verblüffend. Heraus kam eine sehr lebendige, einfallsreiche Umsetzung, die auch wegen der erstaunlichen Professionalität einiger Darsteller bestach. Regisseurin Kücükdag verwies vorsichtshalber darauf, dass es sich um spiellustige Jugendliche handelte und ließ sie vor Beginn des Stücks bei offener Bühne Stimm- und Lockerungsübungen machen. Dieser Vorgang läuft normalerweise in der Garderobe ab, wurde hier zu einem einleitenden, sinnfälligen Verweis. Durch einen Lichtwechsel (durchgängig einfallsreich und effektvoll von Gerrit Jurda eingerichtet) stieg man unvermittelt in das Spiel ein. Koffer waren in der ersten Szene Dreh- und Angelpunkt. Eine gelungener Prolog zum Thema, angesichts von Millionen Menschen, die weltweit auf der Flucht von Repression, Hunger und lebensunwürdigen Umständen sind. Dann begannen die acht Darsteller den Monolog Sads zu sprechen, zu spielen. Manuela Kücükdag hatte den Text intelligent aufgesplittet, so dass zu keiner Zeit Irritationen über den Vorgang aufkamen.
 
  dreck  
 

© Thomas Dashuber

 

Die jungen Darsteller agierten mit großer Ernsthaftigkeit, Disziplin und Verve. Ihnen war deutlich anzumerken, dass sie hinter dem Projekt standen, dass ihnen das Spiel zur Herzensangelegenheit geworden war. Das ist vielleicht der wichtigste Grund dafür, dass ihnen eine so beeindruckende Leistung gelang. Das darstellerische Vermögen der einzelnen Akteure war naturgemäß unterschiedlich. Obgleich sich alle sehr engagiert einbrachten, stach einer besonders heraus. Magnus Bauers konzentriertes, vom Wort getragenes Spiel verriet echtes Talent. Seine psychische Präsenz war zwingend, insbesondere in Augenblicken der leisen Töne. Klara Pfeiffers Präsenz war ebenso effektvoll, obgleich vornehmlich physisch. Mit erstaunlicher Wucht agierte Dorothea Mildenberger, ähnlich dem scheinbar unter Hochspannung stehenden Loris Kubeng. Durch Lisa Reuters mädchenhafter Anmut wurde der Anachronismus von Wort und Geste Fleisch. Die ungenannten Darsteller komplettierten das Spiel auf frische und unverbrauchte Weise.

Das bewegungsreiche Spiel war von der Regie in jeder Situation sinnvoll durchchoreografiert.
Manuela Kücükdag bewies ihr Talent für eine schlüssige und ideenreiche Umsetzung dieser dramatischen Vorlage, wobei besonders honoriert werden muss, wie es ihr gelang, die jungen Darsteller zu führen. Es bleibt zu hoffen, dass sie, zur Zeit als Regieassistentin am Residenz Theater beschäftigt, bald die Gelegenheit zur einer noch größeren Herausforderung bekommt. Ihre künstlerische Auffassung und ihr ästhetischer Stil würde dem Spielplan des Residenz Theaters gut zu Gesicht stehen.

Man kann diese Inszenierung nicht genug loben, denn sie erreicht insbesondere das jugendliche Publikum, also die späteren Abonnenten. Sie baut Schwellenängste vor der hehren Einrichtung Theater ab und fördert eine Inbesitznahme des Mediums durch die Jugend. Es war ein mutiger Schritt von allen beteiligten Seiten wider den tumben Ausländerhass, der sich als überaus sinnvoll erwies.

 
Wolf Banitzki

 

 

 


Dreck

von Robert Schneider

mit den Jugendlichen Dorothea Mildenberger, Klara Pfeiffer, Lisa Reuter, Tamara Theisen, Magnus Bauer, Michel Kopmann, Loris Kubeng, Til Schindler

Regie: Manuela Kücükdag

Marstall Eyjafjallajökull-Tam-Tam von Helmut Krausser


 


Dem Chaos ausgeliefert

Flughafen auf einer griechischen Insel. Abfughalle. Eine Stimme verkündet, dass aufgrund des Ausbruchs des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull und der damit verbundene Aschebelastung in der Atmosphäre sämtliche Flüge im europäischen Luftraum bis auf weiteres gestrichen sind. 55 Fluggäste sitzen fest, richten sich ein und verhalten sich: naturgemäß auf unterschiedlichste Weise. Man versucht sich vernünftig mit der Situation zu arrangieren; man geht sich auf die Nerven; man ringt um Contenance. Vergeblich, wie sich bald zeigt. Offene Aggression bricht aus. Wahrheiten werden formuliert, von denen man kaum glauben kann, dass sie sich unterdrücken ließen. Letzte Fragen werden gestellt, Fragen, die man im normalen Leben geflissentlich gescheut hat.

Der Strom fällt aus, bald auch alle Handynetze und das Fernsehen. Zweifel kommen auf, ob die Geschichte über den Vulkanausbruch überhaupt wahr ist. Eine Endzeitstimmung macht sich breit. Die Maßnahmen der Flughafenbehörde legen den Schluss nahe. Das Handgepäck der Fluggäste wird nach verborgenen Ressourcen wie Batterien und ähnlichem durchsucht. Ein surreales Szenario läuft ab, erzwungen von Umständen, die scheinbar keinen Ausweg mehr zulassen. Es geht um Schöpfung, um Leben, um Sterben und um Unsterblichkeit.

Helmut Krausser schrieb seinen Text für das gesamte Ensemble des Münchner Residenztheaters. Er erlag deutlich der Versuchung, den denkbar größten Bogen zu schlagen. Die Geschichten, die erzählt werden, und es sind so viele, dass man meinen könnte, alle möglichen Geschichten werden erzählt, sind teilweise alltäglich, jedoch nie banal. Kraussers Sprache reicht von sozial determiniert bis zu literarisch elegant. Im Text sind Sätze, die es verdienen, in Stein gemeißelt zu werden. Am Ende steht der Mythos der Entstehung der Milchstraße. Am Ende steht auch die Ahnung, dass diese Spezies verschwinden wird. Doch bis das geschieht, werden Generationen mit Problemen leben müssen, die wir uns nicht vorstellen können.
 
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© Jörg Koopmann

 

Kraussers Text an sich ist aufrüttelnd und verstörend. Dass der Name Kafka mehrfach fällt, kommt nicht von ungefähr. Vielleicht war er der einzige Dichter, der die Bedeutung der menschlichen Existenz nahe bringen konnte.

Dem Chaos ausgeliefert waren nicht nur die handelnden Personen im Stück, sondern auch die Zuschauer. Es soll an dieser Stelle nicht auf die einzelnen Episoden eingegangen werden, noch auf die schauspielerischen Leistungen. Von all dem, was vorab angedeutet wurde, erfährt der Theaterbesucher ohnehin so wenig, dass man es fast vernachlässigen könnte. Was im Marstall ablief, hatte mit Theater wenig zu tun. Der Zuschauer wurde in eine Situation gestoßen, die chaotisch war. Sie oder er bekam keinerlei Hinweise, woran man sich halten, noch, worauf man achten sollte. Theater fand auch statt, nur wusste man nicht genau wo, in welcher Reihenfolge und warum. Sehr schnell erlahmte das Interesse und private Unterhaltungen kamen auf, die allerdings nicht aus der Handlung inspiriert waren. Von der erfuhr man wenig und wenn, dann zusammenhangslos. Die eigentlich dreieinhalbstündige Inszenierung (wie im Internet) lief parallel in einer und einer halben Stunde ab, an unterschiedlichen Orten, auf verschiedenen Monitoren. Für den Zuschauer, der nicht wusste, was ihn erwartete, war der Abend ein Desaster, das nicht selten Unmut erzeugte.

Wer sich entschließen sollte, in die Inszenierung von Robert Lehniger in das Theater im Marstall zu gehen, dem sei dringendst geraten, sich die Inszenierung vorab im Internet anzuschauen. Dort allerdings kann er Grandioses erleben: den überaus fesselnden Film zum Stück. (www.residenztheater.de/tamtam)


 
Wolf Banitzki

 

 


Eyjafjallajökull-Tam-Tam

von Helmut Krausser

Stefan Konarske, Jörg Lichtenstein, Tom Radisch, Hanna Scheibe, Marie Seiser und Lukas Turtur sowie Miguel Abrantes Ostrowski, Götz Argus, Jens Atzorn, Bibiana Beglau, Guntram Brattia, Sebastian Blomberg, Sibylle Canonica, Carolin Conrad, Michele Cuciuffo, René Dumont, Gunther Eckes, Thomas Gräßle, Norman Hacker, Britta Hammelstein, Markus Hering, Sophie von Kessel, Felix Klare, Alfred Kleinheinz, Arthur Klemt, Juliane Köhler, Shenja Lacher, Eva Mattes, Barbara Melzl, Birgit Minichmayr, Tobias Moretti, Oliver Nägele, Robert Niemann, Nicholas Ofczarek, Friederike Ott, Franz Pätzold, Gerhard Peilstein, Katharina Pichler, Sierk Radzei, Jörg Ratjen, Katrin Röver, Wolfram Rupperti, Katharina Schmidt, Götz Schulte, Arnulf Schumacher, Elisabeth Schwarz, Michaela Steiger, Jürgen Stössinger, Andrea Wenzl, Ulrike Willenbacher, Paul Wolff-Plottegg, Manfred Zapatka, August Zirner, Johannes Zirner

Regie: Robert Lehniger

Marstall Satt von Marianna Salzmann


 

 

Was ist nur los mit euch?

Goscha ist satt, hat es satt! Sie, das Einwandererkind, leidet unter der Saturiertheit deutscher Wirklichkeit, in der alles ausgepreist ist, in der menschliche Wärme kaum mehr wahrnehmbar ist. Sie will aussteigen aus dem Lebensprogramm, für das es keine wirkliche Rechtfertigung mehr gibt. Als Einwanderin aus Russland, gemeinsam mit der Mutter Larissa und Schwester Susanna, misslang es zumindest den Töchtern, sich zu integrieren, anzukommen. Für die Mutter, als Medizinerin wegen ihrer Herkunft gemobbt, gab es nur harte Arbeit, um den Töchtern ein menschenwürdiges Leben zu bieten. Doch die sehen es nicht als ein solches. Susanne tritt die Flucht ins Internet an. Goscha wählt den Weg des Aufbegehrens, geht gemeinsam mit Stef, ebenfalls ein Aussteiger, ihren Weg bis an den Rand der Legalität. Alle scheitern letztendlich.

Viele Realitäten fanden Eingang in das Stück von Marianna Salzmann, Jahrgang 1985, geboren in Wolgograd und aufgewachsen in Moskau. Zweifellos kann die junge Autorin auf Selbsterlebtes zurückgreifen. Aber es sind zu viele Realitäten, was darauf schließen lässt, dass es sich bei dem Stück um ein Konstrukt handelt, gemäß den Leitlinien des „Szenischen Schreibens“, das sie seit 2008 an der Universität der Künste Berlin studiert. Ausländerfeindlichkeit, Unmöglichkeit einer wirklichen Integration, Mobbing von Ausländern, Überflussgesellschaft, gestörte Kindheit (Vater war Alkoholiker), Zynischer Umgang der Gesellschaft mit dem Lebensnotwendigen, Mangel an Solidarität, Werteverfall, Spießertum, Opportunismus, Horror des und im Cyberspace und das finale Selbstmordattentat, alles das findet sich in eineinhalb Stunden Theater.

Ein Narr, wer glaubt, er bekomme auch nur eine Antwort auf die Endlosreihe von Fragen. Hinzu kommt, dass viel über Sprache geredet, geschwatzt, gefachsimpelt wird, ohne dass die Sprache der Autorin einen künstlerischen Rang erobern kann. Einmal mehr wird die Schwäche „junger Dramatik“ deutlich. Der Beruf des Dramatikers ist inzwischen ein Job wie jeder andere, besondere Momente des Berufenseins scheinen überflüssig. Alles Nötige ist erlernbar. Und, was viel bemerkenswerter ist, tradierte Lebenserfahrungen scheinen überflüssig zu sein. Befindlichkeiten gerinnen zu dramatischen Konstrukten und reizen. Das Mediale, und Theater gehört dazu, hat sich zu einem Moloch aufgeblasen. Die Protagonisten, Dichter und andere Künstler, sind nicht mehr Mittelpunkt, sondern Vollzugbeamte. Frau Salzmann hat, sicher ohne sich dessen bewusst zu sein, ihre Rolle darin gefunden, liefert, was Theater, das längst aufgegeben zu haben scheint, eine „moralische Anstalt“ zu sein, für seinen Fortbestand benötigt: Texte. Texte, die Realität widerspiegeln, ohne über diese hinauszugelangen. Werke, im Sinn von bewusstseinsändernden Entwürfen mit künstlerischer Ästhetik, bedarf es scheinbar nicht mehr.

 
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Dennis Herrmann, Sophie Rogall

© Thomas Dashuber

 

Die größte Tugend des dramatischen Konstrukts ist die Wut, die wohl sehr authentisch direkt aus der Feder einer jungen, aufgeregten Autorin floss, und die auf der Bühne des Marstalls zum aufbegehrenden Gestus wurde. Thimo Plath beließ die Bühne in voller Größe. Darüber schwebte eine absenkbare netzbespannte Zwischendecke, die Wand oder Container wurde. Am Ende war dieses Element Verkörperung einer überirdischen Ebene, ein Himmel, der die zerstörten Mädchen aufnahm. Ein Flügel, mit Häkelborten und Familienbildchen behängt,  stellte die Wohnung der Mutter vor. Anstelle von Bühnenbild war ein Spielfeld entworfen worden, auf dem Regisseurin Stefanie Bauerochse ein dynamisches, bis an die Atemlosigkeit gehendes Spiel inszenierte. Beatrix Doderer fiel die Rolle der Mutter Larissa zu. Abgesehen von einer Szene, in der blanke Verzweifelung darüber ausbrach, dass ihr das tiefere Verständnis für die Kinder fehlte, blieb ihre Rolle farblos. Die Autorin hatte sie mit so dünnen Texten ausgestattet, dass sie über Stichwortgeberei kaum hinausgelangte.

Die drei jungen Darsteller hingegen lieferten ein Feuerwerk an Gefühlsausbrüchen und artistischer Körperlichkeit. Sophie Rogall lieferte als Goscha (vermutlich Alter ego der Autorin) eine herausragende Leistung. Der Wechsel von Anmut und Explosivität gelang ihr spielend leicht, ohne dass sie dabei ungenau wurde. Ihr zuzuschauen, war ein wirkliches Vergnügen. Zurückhaltender, jedoch mindestens ebenso intensiv agierte Dennis Herrmann als Stef. Sensibel versuchte er Goscha nahe zu sein, sie zu lieben oder ihr Hilfestellung zu geben in ihrer Sinnsuche. Das gespielte Entsetzen über die Konsequenzen seines Tuns am Ende war von erschütternder Intensität. Anna Kell gab in der Rolle der Susanna ein typisches Kind der Zeit, somnambul dem realen Leben gegenüber, euphorisch in Bezug auf alle virtuellen Vorgänge.

Der Abend war durchaus sehenswert, wenngleich er wenig Substanzielles an die Hand gab. Das natürliche und emphatische Spiel der jungen Darsteller war überaus erfrischend. Leider verließ der Zuschauer das Theater mit einem schalen Nachgeschmack, der sich mit dem letzten Satz der Mutter Larissa erklären lässt: „Was ist nur los mit euch?“ Marianna Salzmann konnte darauf keine verbindliche Antwort geben.

Wolf Banitzki

 

 


Satt

von Marianna Salzmann

Beatrix Doderer, Anna Keil, Sophie Rogall, Dennis Herrmann

Regie: Stefanie Bauerochse
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