Residenztheater In Agonie von Miroslav Krleža


 

 

Keine Gründe für Hoffnung

Die Parallelen zu „Die letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus waren unübersehbar, wenngleich sich Kraus, bei vielleicht zehnfachem Umfang des Dramas (knapp 650 Seiten), nur auf die Kriegsjahre des 1. großen Weltenbrandes des 20. Jahrhunderts beschränkte. Er stellte seinem Drama eine Warnung voran, die, wie auch bei Miroslav Krležas Trilogie, das schier Unbegreifliche fassbar machte: „Theatergänger dieser Welt vermöchten ihm nicht standzuhalten. Denn es ist Blut von ihrem Blute und der Inhalt ist von dem Inhalt der unwirklichen, undenkbaren, keinem wachen Sinn erreichbaren, keiner Erinnerung zugänglichen und nur in blutigem Traum verwahrten Jahre, da Operettenfiguren die Tragödie der Menschheit spielten.“ Das trifft haarfein auch auf die Trilogie "Die Glembays", "Galizien" und "In Agonie" zu. Allein, Miroslav Krležas Dramen, von Martin Kušej in einem gut sechsstündigen Abend auf die Bretter des Residenztheaters gebracht, sind weniger detailversessen und greifen historisch weiter als das dramatische Monstrum von Kraus.

In "Die Glembays" entwickelte der 1893 in Zagreb (seinerzeit K.u.K. Monarchie Österreich-Ungarn) geborene Miroslav Krleža die gesellschaftliche Ausgangssituation für den 1. Weltkrieg. Der nach sechszehnjähriger Abwesenheit heimkehrende Sohn Leo stellt in wütenden Attacken die dekadenten und maroden Familienverhältnisse an den Pranger. Krleža skizzierte ein komplexes Gebilde an schuldhaften Verstrickungen und gesellschaftlich bedingten Abhängigkeiten, aus denen sich die meisten Protagonisten nur durch Suizid oder Tod lösen konnten. Leo selbst gelang dies nicht, denn auch er war am Ende nicht der Held, der die gesellschaftlichen Missstände überwinden konnte. Ein Herzinfarkt des Vaters führte zum familiären Kassensturz. Man konnte nur noch einen umfänglichen Bankrott erklären. Doch dann kamen die Mobilmachung und die Kriegserklärung Deutschlands an Russland. „Das wird uns retten!“ Man hatte der Rendite wegen auch in die Rüstung investiert.

In "Galizien" beschrieb Krleža den Wahnsinn des ersten „industriell“ geführten Krieges der Menschheitsgeschichte, der „leider“ wenig effizient war, verglichen mit heutigen Kriegen, weil die Macher noch ihrer feudalen Kaste, und hier kommt das Operettenhafte ins Spiel, verhaftet waren und nicht hinreichend neoliberal, also wirtschaftlich, dachten. Doch diese Überlegungen sind im 2. Drama eher marginal, denn Krleža ging es vornehmlich um die Dehumanisierung des Individuums, um die Verrohung und Pervertierung, die heute, wie Kraus es in seinem Vorwort beschrieb, kaum „denkbar, keinem wachen Sinn erreichbar“, und die dennoch Realität war. Erörtert wurde das Thema an der Person des Musikers Horvat, der als Kadett Dienst tun musste und der in einem perfiden Racheakt gezwungen wurde, das Todesurteil an einer alten Frau zu vollstrecken. Krleža, selbst zeitweise von dieser Problematik betroffen, handelt dabei auch gleich das Verhältnis von Kunst und Dissidenz ab.

"In Agonie" spielte im Modesalon der Baronin Laura Lenbach, die nach dem Krieg versuchte, sich eine Existenz aufzubauen. Boykottiert wurde sie dabei von ihrem Ehemann, einem abgehalfterten Offizier, der, ganz Kind seiner Kaste, nicht bereit war, seinen Anteil an der gemeinsamen Existenz zu erbringen. Er trank und verspielte das Geld seiner Frau. Sie hatte eine Affäre mit dem Juristen Dr. Ivan Edler von Križovec. Als sich der Baron Lenbach das Leben nahm, hoffte die junge Frau auf eine Zukunft mit ihrem Geliebten. Doch der entpuppte sich ebenso als ein Betrüger, der nicht gewillt war, sein Wort einzulösen und der sich mittels „juridischer“ Sophistik so unverbindlich wie möglich gab. Am Ende griff die Baronin selbst zur Pistole.

  InAgonieGlembays  
 

Die Glembays - Sophie von Kessel, Manfred Zapatka, Johannes Zirner, Arthur Klemt, Gerhard Peilstein

© Thomas Aurin

 

Regisseur Martin Kušej trat vor Beginn der Münchner Premiere vor das Publikum, um eine Verletzung von Sophie von Kessel zu entschuldigen, die ihre Rollen ungeachtet dessen bravourös spielte. Dabei versprach Kušej sehr selbstbewusst bestes Theater, denn: ‚er mache nur bestes Theater’. Er versprach tatsächlich nicht zuviel. Die sechs Stunden (inklusive zwei Pausen a 30 Minuten) waren spannend und kurzweilig. Gespielt wurde in beeindruckenden historischen Kostümen von Heide Kastler. In den unterschiedlichsten Bühnenbildern von Annette Murschetz agierten die 16 Darsteller in 31 Rollen (Statisterie nicht inbegriffen). Dabei ging es längst nicht so unübersichtlich zu, wie man vermuten könnte, denn das jeweilige Drama wurde vornehmlich von den Protagonisten getragen, die die Konflikte ausfochten. Die Nebenrollen assistierten hilfreich. Für "Die Glembays" hatte Frau Murschetz einen in Karmesinrot gehaltenen Salon entworfen, der überladen war mit Sitzmöbeln aus der Belle Epoche. Die Möbel standen so eng, dass der wütende Johannes Zirner in der Rolle als verlorenen Sohn Leo auch schon mal auf den Lehnen den Raum durchquerte. Manfred Zapatka als angeschlagener und in die Defensive getriebener Vater Ignaz verlieh diese Enge eher Halt, und dem unausweichlichen Sterben war sie im metaphorischen Sinn eher hinderlich. Sie hielt wie ein Korsett aufrecht, was längst hinüber war.

"Galizien" spielte in den Trümmern einer Grundschule, deren Boden übersät war mit Büchern, zu Bruch gegangenen Möbeln, Militärutensilien und den privaten Habschaften der Offiziere und Soldaten. Leichen von Kindern wurden nach und nach weggeräumt. Der Raum war in permanenter Dunkelheit gehalten. Aufschluss über das Grauen gaben die Geräusche (Musik: Bert Wrede), das entsetzliche Kanonendonnern und Gewehrknattern, gepaart mit einem unaufhörlichen Regen. Shenja Lachers Kadett Horvat war kein larmoyanter Duckmäuser, der seinem Widerpart Oberleutnant Walter, von Norman Hacker als ein Offizier gespielt, dem jegliche Menschlichkeit abhanden gekommen war, aufrecht entgegentrat. Der Showdown dieses Dramas beeindruckte vor allem wegen seiner absoluten Konsequenz.

Britta Hammelsteins Laura Lenbach in "In Agonie" war eine starke, aber müde und desillusionierte Frau, die ihrem Ehemann, den von Götz Schulte in aller Erbärmlichkeit gestalteten Baron Lenbach, kaum mehr als Verachtung und Gleichgültigkeit entgegenbringen konnte. Im blendend weißen, völlig sterilen Raum, einziges Utensil darin war ein Telefon, sezierten sich diese Menschen gnadenlos gegenseitig. Der „juridisch“ stets  korrekte Dr. Ivan Edler von Križovec war unbedingt eine Paraderolle für Markus Hering. Als sich Britta Hammelstein die Pistole an die Schläfe setzte, war es ebenso der Moment der Erlösung für das Publikum, dessen Ausdauer auf eine harte Probe gestellt worden war. Dennoch, es war großartiges Ensemblespiel, bei dem gewaltige Bilder gezaubert wurden, und darum auch unterhaltend.

Einziger Wehrmutstropfen war vielleicht, dass die Überfülle an Ideen, die in den erstaunlichen Texten von Miroslav Krleža stecken, dass die Doppeldeutigkeit der spielerischen Umsetzung, dass das Symbolhafte und das Metaphorische angesichts des Umfangs unmöglich bei einmaligem Anschauen rezipiert werden konnte. Zuviel blieb nur Ahnung. Und zurück blieb der etwas diffuse Eindruck, vieles nicht wahrgenommen zu haben. Immerhin aber blieb zuletzt der Eindruck, an etwas Großem und Großartigem beteiligt gewesen zu sein. Allerdings, eines wurde in diesem Menschheitsdrama mit Sicherheit nicht geliefert: Gründe für Hoffnung.

Schön wäre es, die einzelnen Dramen auf drei Abende verteilt noch einmal erleben zu können. Damit könnte man ganz sicher den Leistungen aller Beteiligten gerechter werden.

 

Wolf Banitzki



 

In Agonie
Trilogie - "Die Glembays", "Galizien" und "In Agonie"
von Miroslav Krleža

Jens Atzorn, Michele Cuciuffo, René Dumont, Gunther Eckes, Norman Hacker, Britta Hammelstein, Markus Hering, Sophie von Kessel, Arthur Klemt, Shenja Lacher, Franz Pätzold, Gerhard Peilstein, Tom Radisch, Götz Schulte, Manfred Zapatka, Johannes Zirner

Regie: Martin Kušej

Residenztheater Zement von Heiner Müller


 

 

Warum Heiner Müller? Warum Zement?

Heiner Müllers Stück „Zement“ ist die Adaption des gleichnamigen Romans von Fjodor Gladkow, veröffentlicht 1925. Auf die Frage der Schauspieler, ob das Stück nicht zu weit entfernt und zu unbekannt sei, erklärte Regisseur Dimiter Gotscheff: „Was heißt unbekannt? Durch dein Alter vielleicht. Es ist aber doch nicht unbekannt, dass da ein gesellschaftlicher Entwurf geträumt und entworfen wurde. Das ist der Grund, warum ich Müller ausgesucht habe: weil ich mich selbst entfernt habe von dem Entwurf, weil ich selbst Fett angesetzt habe. (...) Müller greift in eine Zeit, die mit unserem geopolitischen Raum wenig zu tun hat: Revolution, Utopien. Ein kurzer Augenblick der Menschheit, wo ein uralter Traum gelebt und selbst zunichte gemacht worden ist.“ (Zitat Programmheft zur Inszenierung)

Tatsächlich sind die Ideen des Kommunismus scheinbar völlig aus dem Bewusstsein der Gesellschaft getilgt. Sie taugen gerade noch für dümmliche Wahlkampfdrohungen einer liberalen Partei, dabei stets den Umstand missachtend, dass die Ideen, wie jede Revolution, gute Gründe hatten und dass für diese Ideen Millionen Menschen gestorben sind, resp. getötet wurden. Dabei hat der Kapitalismus seinen Zenit längst überschritten und das wissen auch deren Protagonisten, die von einer Krise in die nächste schlittern. Der Kapitalismus ist längst zum Totengräber geworden, ängstlich darauf achtend, dass nur keine Ideen aufkommen, die über ihn selbst hinausgehen könnten.

Es ist eine lobenswerter Umstand, dass es Intendant Martin Kušej gelang, Dimiter Gotscheff  für eine Inszenierung zu verpflichten. Dieser Regisseur steht nicht für bürgerliches Amüsiertheater und das können wir, angesichts der brodelnden Situation weltweit, auch nicht unbedingt gebrauchen. So betrat der gebürtige Bulgare und studierte Veterinärmediziner, der seit 1964 mit Heiner Müller bekannt war, die zementgrau ausgeschlagene Bühne mit schiefer Ebene von Ezio Toffolutti, um aus „Mommsens Block“ von Heiner Müller zu zitieren. Der aus dem Jahr 1992 stammende Text von Müller bezieht sich auf den Sockel des von Adolf Brütt geschaffenen Denkmals für den Historiker und Literaturnobelpreisträger (1902) Theodor Mommsen (Enthüllung 1909), dessen Standort vor der Humboldt Universität in Berlin war. Die Machthaber der DDR hatten das Denkmal des Historikers entfernt. Es musste einem Denkmal für Karl Marx weichen. Quintessenz des Müllerschen Textes ist die Enttäuschung des Autors über die politische Entwicklung im Nachwendedeutschland. Er führte dabei Mommsens nicht geschriebene „Spätrömische Geschichte“ ins Feld und artikulierte parallelisierend die Vermutung, dass Mommsen das Zeitalter der römischen Dekadenz einer wissenschaftlichen Betrachtung für unwürdig erachtete. Müller war der erste Schriftsteller, der mit der Wiedervereinigung das Zeitalter der Dekadenz einläutete. Selbst liberale Politiker stolperten inzwischen über diesen Begriff.

Müller war, wie Theodor Mommsen auch, Geschichtspessimist. Das hielt ihn jedoch nicht ab, an den Idealen des Kommunismus festzuhalten. Er rechtfertigte in seinen Stücken, die vom immerwährenden Kampf, ähnlich den Bemühungen des Sisyphos, kündeten, auch deren Opfer. In „Hamletmaschine“ von 1977 hatte Müller bereits die Hoffnung verloren, einen menschlichen Sozialismus/Kommunismus zu erleben und versank über die Resignation hinaus in „Lebenshass und Daseinsverzweifelung“ (Georg Hensel). Allein die gesellschaftliche Größe, der Mythos vom Protagonisten waren noch von Bedeutung für Müller, was vielleicht auch seine späte Bekanntschaft mit und sein Interesse für Ernst Jünger zu erklären vermag.

  Zement  
 

Sebastian Blomberg, Schauspielstudierende der Otto-Falckenberg-Schule und der Bayerischen Theaterakademie August Everding

© Armin Smailovic

 

 In „Zement“ wird die Geschichte des Kriegsheimkehrers Gleb Tschumalow erzählt, der drei Jahre auf Seiten der Bolschewiki für die Revolution als Regimentskommissar gekämpft hat. Die Rede ist vom Bürgerkrieg 1917/18 – 1920, der 8 bis 10 Millionen Opfer gefordert hat. Nach dem Sieg der Bolschewiki über Truppen der „Konterrevolution“, der Entente und der Mittelkräfte, kehrt Gleb in seine Heimat zurück. Dieser Krieg hatte wahrhaft archaische Dimensionen, der verbrannte Erde zurück gelassen hatte. Jeder handelte nach der Devise, wer nicht für uns ist, der ist gegen uns. Es herrschte Hunger und Elend, was nicht nur Folge des Krieges war, sondern auch ein Ergebnis eines Jahrhunderte währenden Zarismus. Gleb findet nichts mehr, wie es war. Seine Frau hat sich emanzipiert, ist Kommunistin geworden und verweigert sich ihm, dem einstigen „Besitzer“. Ihr Kind lebt in einem Kinderheim. Das Zementwerk ist in einen Ziegenstall umgewandelt worden und in der Bevölkerung herrscht Agonie. Der Kriegskommunismus kämpft um das eigene, wie auch um das Überleben der Bevölkerung. Anstelle einer effizienten Verwaltung  entsteht eine Bürokratie. Als sich die Lage nicht bessert, führt Lenin die „Neue Ökonomische Politik“ als „taktischen Rückzug“ ein. Damit kehrte der Kapitalismus ins Land zurück und eine kleine reiche Schicht entstand, während die Massen weiterhin hungerten. Diese Politik erfuhr dann eine Umkehr durch die „ideologischen Säuberungen“.

Dimiter Gotscheff inszenierte das Müllersche Stück mit der Wucht eines antiken Dramas. Das lag ganz in den Intentionen Heiner Müllers, der den Text mit antiker Mythologie hinterlegt hatte. Wenn Sebastian Blomberg als selbstbewusster, entschlossener Revolutionär auftritt, wälzt er einen großen Stein vor sich her. Der versinnbildlicht die prometheische Existenz des aufbegehrenden Menschen. Prometheus, der sich gegen die Götter erhoben hatte, war von diesen an die Felsen des Kaukasus geschmiedet worden. Bibiana Beglaus Dascha Tschumalowa war eine Frau, die ihren Geist, ihren Willen und auch ihren Körper in den Dienst der Revolution gestellt hat. Der Grad der Ideologisierung war so stark, das sie weder tiefer gehendes Empfinden als Ehefrau, noch als Mutter hatte. Als die Tochter Njurka im Kinderheim starb, brach sie zwar zusammen, fand aber in eben jenem Bekenntnis zur politischen Arbeit die Kraft, wieder aufzustehen und zu gehen, und zwar weg von ihrem Ehemann. Valery Tscheplanowas Njurka nahm die Rolle eines körperlosen Wesens an, das die Geschichte mit ihren antiken Erzählungen kontrastierte und ihr die archaische Dimension verlieh, die es letztlich ermöglichte, von der blutigen Realität zu abstrahieren.

Die menschlichen Figuren neben den Trägern der Ideale waren die Opfer oder die Täter der Geschichte. Badjin als Bezirkssekretär war ein pragmatischer und linientreuer Machtmensch. Aurel Manthei steigerte diese Figur bis in das Diktatorenhafte, das sowohl stalinistische, wie auch Züge Hitlers trug. Paul Wolff-Plotteggs Kleist, verkörperte die historische Desillusion. Als Erbauer des Zementwerkes wurde er zwar durch sein Wissen und seine Fähigkeiten geschützt, doch alles das war von Gleb „verstaatlicht“ worden. Sein Individualismus, der ihm genommen worden war, war ihm heilig und so konnte man ihm eigentlich nichts mehr nehmen. Ihm lag an diesem Leben nicht mehr allzu viel. Lukas Turtur als Sergej Iwagin und Genija Rykova als Polja Mechowa verkörperten die voranstürmende Jugend, geblendet von den Idealen der Revolution. Dass sie Opfer werden mussten, deutete bereits das beeindruckende komödiantische Spiel von Lukas Turtur an. Er hatte sich gegen seine Familie gewandt, die ein Relikt der bürgerlichen Welt vorstellte. Er agierte mit Gefühlen und nicht mit Argumenten, mit Enthusiasmus, anstatt mit Vernunft. Sein Bruder Dmitri Iwagin, Robert Niemann verlieh seinem Tanz auf dem Vulkan diabolische Züge, wurde sein Stolperstein. Er hatte von Anbeginn keine Begeisterung für die Revolution gezeigt und schlug sich ins Lager der Konterrevolutionäre. Unter den kriegskommunistischen Verhältnissen war Sippenhaft die Normalität. So nahm die Partei nicht Rache an Einzelpersonen, sondern gleich an deren ganzen Familien. Sergej Iwagin und Polja Mechowa wurden aus der Partei ausgeschlossen. Die Revolution hatte begonnen, ihre Kinder zu fressen.

Unberührt von den Wirren blieben Menschen wie Tschibis, die Vollstrecker des Systems. Götz Argus richtete den moralisch gestrauchelten 19jährigen Kommunisten Makar (Robert Niemann) mit Eiseskälte. Er zweifelt nicht an seinem Tun, denn es ist von der Partei abgesegnet. Man nennt es gemeinhin Befehlsnotstand und viele Täter haben sich zu allen Zeiten erfolgreich dahinter verschanzt. Am Ende gleicht Gleb Tschumalows Kampf dem des Herakles mit der Hydra. Auch dieser gewaltige Text wurde von der beeindruckenden Njurka-Darstellerin Valery Tscheplanowa wie aus einem Maschinengewehr ins Publikum gefeuert. Es ging an diesem Abend scheinbar um alles oder nichts.

Dimiter Gotscheff schuf eine grandiose bis monströse Inszenierung, deren Pathos, das im Text verankert ist, er immerhin durch wundervolle szenische Einfälle durchbrechen konnte. Dazu bediente er sich nicht zuletzt eines antiken Chores, bestehend aus Schauspielstudenten der Falckenberg-Schule und der Theaterakademie. Die gut dreistündige Inszenierung, die sich am Premierenabend wegen einer technischen Panne noch weiter ausdehnte, war harte Arbeit, sowohl für die Darsteller, wie auch für das Publikum. Nach diesem Abend war die fern geglaubte Geschichte gar nicht mehr so fern. Dank der starken Ästhetik haben vermutlich viele Zuschauer die Bilder mitgenommen, die genug Diskussionsstoff bieten. Bleibt zu hoffen, dass sie auch stattfinden möge. Heiner Müller, der viel zu früh aus dem Fokus geratene Dramatiker, entlässt uns aus dieser Pflicht nicht: "Was man braucht ist Zukunft und nicht die Ewigkeit des Augenblicks. Man muss die Toten ausgraben, wieder und wieder, denn nur aus ihnen kann man Zukunft beziehen". Aus Müllers Mund klingt diese dichterische Weisheit, die auch ein politische sein sollte, fast wie ein Drohung.


Wolf Banitzki



 

Zement
von Heiner Müller

Valery Tscheplanowa, Sebastian Blomberg, Bibiana Beglau, Aurel Manthei, Lukas Turtur, Genija Rykova, Paul Wolff-Plottegg, Götz Argus, Robert Niemann

Lena Eikenbusch, Jonas Grundner-Culemann, Thomas Hauser, Ines Hollinger, Lukas Hupfeld, Johanna Küsters, James Newton, Klara Pfeiffer, Philipp Reinhardt, Anna Sophie Schindler, Benjamin Schroeder, Jeff Wilbusch

 

Regie: Dimiter Gotscheff

Residenztheater Kabale und Liebe von Friedrich Schiller


 

 

Liebe in Unzeiten

Die Welt ist aufgeteilt in eine innere und eine äußere. Auf der Bühne des Münchner Residenztheaters wurde diese dualistische Welt simpel und mühelos von Stéphane Laimé in seinem Bühnenbild definiert. Ein dreh- und begehbarer, jedoch nicht einsehbarer Würfel mit einer Außenhaut aus streng und kleinkariert strukturiertem Schaumgummi stellte die innere Welt vor. Die Struktur schien undurchdringlich wie eine visuelle trutzhafte Panzerung. Kaum sichtbar waren Türen eingelassen, durch die nur die Auserwählten oder ihre Adlaten gelangten und das häufig nur mit Mühe, denn diese Welt muss geschützt werden vor denen, die keinen Zugang haben sollen, weil sie der falschen Partei, des falschen sozialen Standes oder der falschen Einkommensklasse angehören. Alles was sich außerhalb des Würfels befand, war äußere Welt. Wichtigstes Merkmal dieser Welt war, dass sie nur aus „verbrannter Erde“ bestand. Asche bedeckte den Bühnenboden. Die wuchtige Symbolik, nur Behauptung vorerst, hatte durchaus auch etwas beängstigendes.

Wie sollte es nun gehen, ein bürgerliches Trauerspiel, das gut zwei Jahrhunderte auf dem Buckel hat, glaubhaft und unterhaltsam ins Heute zu transponieren. So schwierig war das gar nicht, wie sich schnell herausstellte. Die Welt hat sich ohne Frage verändert, doch besser ist sie darum nicht geworden. Was Schiller in seiner tragischen Liebesgeschichte erzählte, war mutige Zeitkritik, aber auch eine Analyse des menschlichen Wesens. Die Liebe zwischen dem adligen Major Ferdinand von Walter und der bürgerlichen Tochter des Stadtmusikanten Miller scheitert auch, doch nicht nur, an den sozialen Schranken der Zeit. Mag die Dünkelhaftigkeit in der heutigen harmoniesüchtigen Gesellschaft zwar kein allzu offenes Thema sein, so gibt es doch immerhin ein stummes Einverständnis in ein Regelwerk, das ebenso perfide funktioniert. Die moderne Sozietät ist gespalten in arm und reich, in Bildungsbürger und bildungsferne Schichten, auch in Landsleute und Fremde. Dafür, dass der Adel seine degenerativen Posen heute ebenso pflegt wie zu Schillers Zeiten, liefert die Burdapresse beredte Bilder. Was für eine Vielzahl der Bürger Unterhaltung darstellt, ist für etliche blaublütigen Protagonisten elitär zynisches und menschenverachtendes Weltverständnis. Sie müssen die Guillotine ja auch nicht mehr fürchten.

Regisseurin Amelie Niermeyers ambitionierte Arbeit leistete im Ergebnis deutlich mehr, als man gemeinhin von einer zeitgenössischen Inszenierung von „Kabale und Liebe“ erwarten würde. Sie griff über das Schicksal der zarten Luise Miller und ihrem geliebten Ferdinand hinaus und stellt die Frage nach dem Wesen von Liebe. Heraus kam, dass Liebe, so absolut sie von Luise und Ferdinand eingefordert wird, immer auf Unzeit stoßen muss. Diese Liebe war, ist und bleibt ein Idee und führt zu einem Idealismus, über den viele Zeitgenossen schmunzeln, weil er wegen der zahllosen Zwänge, die der heutige Erdenbewohner ausgesetzt ist, unzeitgemäß erscheint. Absurd an diesem Vorgang ist jedoch, dass gerade diese Schmunzler sich wie jeder andere auch nach eben dieser Liebe sehnen.

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Andrea Wenzl, Michael Klammer

© Matthias Horn

 

Beweis dafür, dass es Frau Niermeyer vornehmlich um die Problematik Liebe ging und sie die Kabalen mehr oder weniger als dramaturgisches Vehikel nutzte, war der Schluss. Ihr Drama endete mit dem Tod der Liebenden und nicht mit der Selbstüberstellung des Präsidenten Walter an die Justiz. Handelte es sich dabei vielleicht auch um die tiefere Einsicht darüber, dass diese Schillersche, geradezu apotheotische Form von Rechtsbewusstsein, in dem moralisches und juristisches Recht kongruent wird, auch nur ein unerfüllbarer Idealismus ist? Wenn ja, was bleibt dann noch? Es bleibt die Flucht in den religiösen Glauben an Liebe und Gerechtigkeit als Minimalforderung, um die lebenswichtigen Ideale nicht irgendwann ermüdet abzutun, wie es heute nicht selten geschieht, und einem umfänglichen Fatalismus zu huldigen.

Amelie Niermeyer vermittelte ihre sinnfällige Botschaft auf wundervoll leichte und über weite Strecken auch komödiantische Weise. Sie hat das Schillersche Drama kräftig geklopft und sich des Inszenierungsstaubs entledigt. Dabei konnten zumindest zwei Figuren ziemlich neu entdeckt werden. Eine der überzeugendsten Leistungen des Abends bot Götz Schulte als Vater Miller. In vielen Inszenierungen wurde diese Figur als strenger, in Selbstdisziplin faltig gewordene Vorzeigebürger gegeben, dessen bürgerliche  Integrität nicht selten stocksteif und moralinsauer daher kam. Schultes Miller hingegen war ein leidenschaftlicher, vor Liebe zu seiner Tochter überquellender Mann, der erst am Ende an seiner Ohnmacht zerbrach. Eine weitere Figur, die es neu zu entdecken gab, war Shenja Lachers Wurm. Sie ist im Trauerspiel ein moralisch niedriger, feiger, subalterner Geselle, der soviel Rückgrad hat wie ein Wurm. Das lag wohl auch in der Intention Schillers, als er ihm den Namen gab. Lacher behielt die Lächerlichkeit der Erscheinung wie bei Schiller beschrieben zwar bei, erhob den Mann aber zu einem echten Spielmacher, der sehr wohl um die Gefahren wusste, in die er sich mit seinen Intrigen brachte. Amelie Niermeyer legte ihm die Worte eines anderen großen Intriganten der Weltliteratur in den Mund, gemeint ist Jago, Widerparts von Shakespeares Othello. So endet denn auch einer seiner hasserfüllten Monologe mit dem Satz: „Der Neger muss weg.“

Das machte in zweierlei Hinsicht Sinn. Wurm bekam auf diese Weise ein wirkliches Format und andererseits ist Darsteller Michael Klammer tatsächlich farbig. Klammers Ferdinand war frisch, fröhlich und verträumt, trug nicht den altbekannten Waffenrock, der ihn in die Konventionen seines Ranges und seines Standes schnürte. Sein Spiel war voller Temperament und befreit. Der Text lässt, man höre und staune, alles das auch zu. Andrea Wenzl gab ihrerseits eine Luise, die nicht von dieser Welt zu sein schien. Getragen auf den Luftkissen der Liebe, um das Wort Schwingen zu vermeiden, und von den Armen Ferdinands wurde sie zum zerbrechlichen Gegenstand der Ränke und Intrigen. In ihrem Vermögen lag es ohnehin nicht, die Vorgänge zu steuern. Ungeachtet dessen wusste sich Andrea Wenzl zu behaupten, als sie sich mit Hanna Scheibes Lady Milford messen musste. Diese Rolle ist eine der wunderbarsten Frauenrollen in der Literaturgeschichte. Auch sie ist ein tragische Figur, weiß aber ihre Würde aus dem Sumpf feudaler Verwesung zu retten. Hanna Scheibes Milford hatte etwas von einer gestürzten, doch darum nicht gebrochenen Königin.

Für die Komik im Stück war bislang hauptsächlich die Figur des Hofmarschall von Kalb, gespielt von Miguel Abrantes Ostrowski, zuständig. In Frau Niermeyers Inszenierung wurde deutlich, dass Kalbs Erscheinung (über den Text) eine recht platte und zweidimensionale Komik beinhaltet. Schiller karikierte und denunzierte den dekadenten Adel mit dieser Rolle. So bestand Ostrowskis Aufgabe darin, das/den lächerliche(n) Kalb zu spielen. Ernstzunehmender Repräsentant seiner Klasse ist im Stück ohnehin nur der Präsident von Walter. Guntram Brattia gestaltete ihn je nach Bedarf jovial, bösartig, verschlagen oder offen machtlüstern und sich in seinen Untaten gefallend. Moderne Politik blitzte hier und da auf.

Die Inszenierung war ein wirkliches Erlebnis, spannungsgeladen, überraschend und voller neuer Facetten. Wer sich von der Genrebezeichnung „Ein bürgerliches Trauerspiel“ bislang abschrecken ließ, dem sei versichert, dass er einen kurzweiligen, tiefgründigen und komödiantischen Abend erleben kann. Auf die wundervolle Sprache Schillers sei ebenfalls unbedingt noch einmal verwiesen. Es gelang ein modernes, inhaltlich zeitgemäßes und in der Tragik anrührendes Werk, das sich auch durch seine Eignung empfiehlt, jüngeren Besuchern Geschmack auf Klassik zu machen.

 

Wolf Banitzki



 

 


Kabale und Liebe

von Friedrich Schiller


Guntram Brattia, Michael Klammer, Miguel Abrantes Ostrowski, Hanna Scheibe, Shenja Lacher, Götz Schulte, Andrea Wenzl

 

Regie: Amelie Niermeyer

Residenztheater Die Ballade vom traurigen Café nach Carson McCullers


 

 

Südstaatenblues über die Einsamkeit der Herzen

Carson McCullers Novelle „Die Ballade vom traurigen Café“ ist eine gut gebaute Geschichte, die zwar aufregende Momente hat, von der es etliche gibt mit ähnlichem Plot. Was diese Geschichte so aufregend macht, ist der Anteil ‚Carson McCullers’ darin. Die Frau, deren Leben eine einzige Leidensgeschichte war und die mit gerade einmal 50 Jahren nach drei Herzinfarkten und einem Schlaganfall starb, hatte eine ganz besondere Sensibilität für Menschen, denen von der Natur einige wichtige Lebensvoraussetzungen vorenthalten wurden. Ihre Figuren fielen stets aus dem Rahmen, waren physisch behindert oder hatten eine von der „Norm“ abweichende sexuelle Neigung. In „Die Ballade vom traurigen Café“ ist beides zutreffend.

Der Ort der Handlung ist einer jener trostlosen Orte, deren erste Beschreibung den Leser oder Zuhörer bereits in den Existenzialismus katapultiert. Vom Nichts ist allzu häufig die Rede. Hier lebt Miss Amelia. Sie ist ein herbe, unnahbare, androgyne Frau, die pragmatisch ihren Geschäften nachgeht. Erfolgreich, wie in der Beschreibung durchschimmert. Ein Weg, „Andersartigkeit“ gegenüber der Gesellschaft zu kompensieren ist, (ökonomisch) erfolgreicher zu sein als die anderen. Tyrannei hatte in nicht selten diese „Andersartigkeit“ zum Ausgangspunkt. Als psychologisches Motiv durchzieht sie die gesamte Weltgeschichte.

Eines Tages taucht ein buckliger Gnom namens Lymon auf, der behauptet, Amelias Vetter zu sein. Zur Überraschung aller öffnet Amelia Vetter Lymon ihr Haus und gibt ihm ein Bett. Mit Lymons Einzug verändert sich alles. Amelia lebt auf, eröffnet ihr Café wieder und der Ort bekommt ein Herz. Das Getuschel über die unheilige Allianz der beiden Sonderlinge verstummt bald, denn dem Ort und seinen Bewohner wurde dadurch ein glücklicheres Leben geschenkt. Doch dann kehrt ein Mann in den Ort zurück, der durch die Welt gezogen war und auch im Gefängnis gesessen hatte: Marvin Macy. Marvin ist der rechtmäßige Ehemann von Amalia. Die Ehe war allerdings (im Bett) nie vollzogen worden und hatte Marvin aus der Bahn geworfen. Auch er war jetzt ein „Andersartiger“, der Vetter Lymon anzog, wie das Licht ein Motte. Und da es eine Südstaatengeschichte ist, ist auch die Katastrophe, die alles mit sich reißt, unabwendbar.

Regisseur Walter Meierjohann erzählte die Geschichte, die eine tragische ist, unaufgeregt und ohne platte Effekthascherei. Er steuerte geradlinig in den Abgrund, der gerade wegen der Unaufgeregtheit des Fortgangs und seiner zwingenden inneren Logik, Entsetzen erzeugt. Dieses Entsetzen ist jedoch nicht der Brutalität der Vorgänge geschuldet, sondern der Brutalität des Ausweglosigkeit. Die wichtigsten Pfunde, mit denen Meierjohann wuchern konnte, war einerseits die Rolle des Vetters Lymon, grandios und aufwendig von Markus Hering als agiler, missgestalteter kleiner Mann gestaltet, der einer fantastischen Geschichte E.T.A. Hoffmanns entsprungen sein könnte. Hering beließ es nicht dabei, ein skurriles buckliges Äußeres vorzustellen, auch seine wilde, z.T. animalische Gestik, seine Direktheit im Spiel und seine Ambivalenz in bodenlosen Situationen war faszinierend anzuschauen. Dem gegenüber, und somit sehr spannungsvoll, die robuste Darstellung der Miss Amelia durch Juliane Köhler. Gänzlich widersprüchlich zu ihrem weichen und wohlklingenden Namen war diese Frau eingebettet in einem Panzer aus radikaler Selbstbehauptung. Sie ließ an ihrem Anderssein keinen Zweifel aufkommen. Die wenigen Momente von Weiblichkeit waren nicht mehr als Haarrisse in ihrem Panzer, die lediglich Ahnungen durchscheinen ließen.

  Balladevomtraurigen  
 

Markus Hering, Michele Cuciuffo, August Zirner

© Thomas Dashuber

 

Michele Cuciuffo gab den dramaturgischen Stolperstein Marvin Macy, an dem sich der Konflikt zu einer monströsen Bedrohung aufbaute. Der Macho, der keine Blume ungepflückt ließ, hatte sich in Amelia verliebt. Er änderte sein Leben, verleugnete sein Natur, nur um ihr zu gefallen. Auf die Frage, ob sie ihn heiraten würde, antwortete Amelia: „Warum nicht?“ Hinter diesem „Warum nicht?“ verbarg sich das ganze Dilemma, denn Marvin bekam nichts für seinen Schwur. Michele Cuciuffo spielte sowohl den Macho, als auch den kleinlauten Bewerber, als auch den blindwütigen Rächer seiner selbst mit donnernder Geste, aber ebenso verzweifelt und kalt. Mittendrin der Bruder von Marvin, Henry Macy. August Zirner flanierte mit sehnsüchtigem, melancholischem und resignativem Tonfall als der Bruder Marvins und zugleich als Erzähler durch die Geschichte. Zirners sanfte und unaufdringliche Art kontrastierte die Brutalität der Geschichte.

An der Peripherie der Geschichte die üblichen Verdächtigen. Aurel Mantheis Stumpy war der propere Macher mit Realitätssinn. Das ganze Gegenteil verkörperte Sierk Radzei als Merlie, der stets neben der Spur laufend auch schon mal hanebüchene Theorien entwickelte. Katrin Rövers Emma war die notorische Klatschbase und neiderfüllte Aufwieglerin, denn sie war das einzige weiblich Wesen, das von Marvin Macy nicht bestiegen worden war. Und so weiter ...

Die Mitglieder des Ensembles agierte durchaus prägnant, wenn ihnen Raum gegeben war. Leider ging aber auch manche Wortmeldung unter, weil die Akteure sich gelegentlich in der „Menge der Leute“ verloren. Das ist jedoch auch der einzige Kritikpunkt, der aber immerhin dazu führte, dass hier und da Konzentration im Spiel verloren ging. Wesentlich für den Erfolg, und als ein solcher ist die Inszenierung unbedingt zu sehen, war das Bühnenbild und die Kostüme von Johanna Pfau. Die Bühne hatte etwas von einer ausgedörrten Steppe, vereinzelt sprossen ein paar karge Büsche oder Grasstauden aus dem Boden. Der Hintergrund wurde begrenzt von eine weißen, den gesamten Bühnenraum umspannenden Wand, die effektvoll vom Licht (Gerrit Jurda) eingefärbt wurde und die Stimmungen eingängig kommentierte. Die Tristesse, mit der der Zuschauer begrüßt wurde, kippte augenblicklich, als aus dem Bühnenboden Amelias Haus/Geschäft und später Café herabschwebte, ein transparenter, zweistöckiger Holzbau, der viel Atmosphäre verströmte. Als das Café wieder eröffnet und von bunten Lampen illuminiert wurde, verwandelte sich die Szenerie in einen lebenswerten Ort, der nicht frei war von Heimeligkeit. Dergestalt wurde der Ort zum Mittelpunkt, zum Herzen des winzigen Städtchens, - ein guter Ort.

Am Ende lag alles das, was für eine kurze Zeit die Seele des Städtchens gewesen war, in Trümmern. Begleitet wurde diese Zerstörung von der bluesschwangeren Musik Jacob Suskes. Sie suggerierte im wesentlichen das, was gemeinhin unter dem Topos Südstaaten verstanden wird, Hitze, Schweiß und Einsamkeit.  Einsamkeit war denn auch das zentrale Thema des Abends. Bei Carson McCullers finden die Betroffenen keine Erlösung und so fließt Blut. Die Autorin bezeichnete die Einsamkeit als eine amerikanische Krankheit. Damit hat sie wohl nicht ganz Recht, denn dass diese Krankheit kein amerikanisches Phänomen ist, bewies die Inszenierung, die auch hier in München verstanden wurde. Ein bedrückende Bild, das die Problematik erklärt, geistert immer wieder durch das Stück. Es ist mehrfach die Rede von den Strafgefangenen aus dem nahen Gefängnis. Sie sind während der Arbeit mit Fußketten aneinander gefesselt und singen gemeinsam im Takt ihrer Tätigkeit. Dieses Bild wurde unvermittelt zu einem Synonym für ein „Wir“, dem man sehnsüchtig hinterher schaute. Was für eine Welt?

 

Wolf Banitzki



 

 


Die Ballade vom traurigen Café

Ein musikalischer Abend aus dem amerikanischen Süden
nach der Novelle Carson McCullers in der Bearbeitung von Edward Albee


August Zirner, Juliane Köhler, Markus Hering, Michele Cuciuffo, Aurel Manthei, Gunther, Tom Radisch, Sierk Radzei, Katrin Röver, Marie Seiser, Sharyhan Osman, Laurie Stettner, Jacob Suske (Musiker)

Regie: Walter Meierjohann

Residenztheater Die Anarchistin von David Mamet


 


Schuld und Sühne – Eine fragwürdige Angelegenheit

„Die Gesellschaft liegt im Sterben.“ „Die Gesellschaft ist tot!“ Damit scheint David Mamet angekommen zu sein am Endpunkt seiner Gesellschaftskritik, die bislang darin bestand, die Verrohung und den kulturellen Niedergang anzuprangern. Der 1947 in einer jüdischen Familie geborene Autor gehört zu den erfolgreichsten schreibenden Künstlern der USA, Oscar-nominiert, Tony Award und Pulitzerpreisträger. Mamet, der sich selbst auch schon mal einen „hirntoten Linken“ nannte, kennt weder Grenzen in den Genres, noch in seiner sprachlichen Gestaltung und wurde nicht selten mit Harold Pinter verglichen.

In seinem Drama „Die Anarchistin“ stellt er konsequenteste Fragen zum Thema Terrorismus, Rechtsphilosophie, vor allem aber zum Thema Staat, wobei er keinen Zweifel an dessen repressiven Charakter lässt, seine Notwendigkeit aber nicht grundsätzlich in Frage stellt. Ausgetragen wird diese Thematik zwischen Ann, staatlich bestellte Gutachterin, und Cathy, seit 35 Jahren wegen Polizistenmord in einer Strafanstalt einsitzend. Die Exterroristin wird nicht behandelt wie jeder andere Mörder; sie sitzt bereits die vierfache Zeit dessen ab, womit ein „normaler Mörder“ bestraft worden wäre. Warum? Der Staat fürchtet sie, die in den 70er Jahren in bissigen und emotionalen Pamphleten die Jugend zum Aufstand antrieb. Das abstrakte Monstrum Staat fürchtet um die Freiheit deren, die ihm das Mandat zur Machtausübung verliehen haben. Diese Machtausübung geschieht dennoch nicht objektiv oder mechanisch, denn sie wird von Menschen ausgeübt, Menschen mit Ängsten, Sehnsüchten und Frustrationen.

Eine von ihnen ist Ann, die ein letztes Mal ein Gutachten anfertigen soll. Danach geht sie in den Ruhestand oder, wie Cathy meint, ins Nichts, denn da Cathy frei ist, ihr Leben aber dennoch den Gefängnisinsassen verschrieben hat, erwartet sie außerhalb der Mauern kein wirkliches Leben mehr. Ihr eigenes Leben hat sie an die Leben der Gefangenen gekoppelt, hat deren Leben für eine begrenzte Zeit mitgestaltet, in dem sie über sie Recht gesprochen hat. In den blitzgescheiten Dialogen, die letzte Fragen zum Thema „Schuld und Sühne“ aufwerfen, schält sich endlich heraus, dass die Leben beider Frauen auf unseligste Weise miteinander verstrickt sind, dass sie beide daran arbeiten, der jeweils anderen das größtmögliche Unglück zu bereiten. Beide pochen sie dabei auf das Recht auf Freiheit. Cathy meint ihr eigenes, welches ihr nach 35 Jahren Sühne zustehe, Ann hingegen will das Recht auf Freiheit in der Gesellschaft schützen. Beide sind auf die denkbar grausamste Weise unfrei.

Was zwischen den beiden Frauen abläuft ist ein erbarmungsloser Krieg. Cathy hantiert mit der Religionskeule, beteuert, zu Gott gefunden zu haben, was bekanntermaßen (insbesondere in den USA) ein probates Mittel ist, die Haftzeit zu verkürzen. Sie widerspricht nicht einmal, als Ann Zweifel am Wahrheitsgehalt der weltanschaulichen Wandlung anmeldet. Cathy ist Realistin genug und spricht aus, was auf der Hand liegt: Jeder Mensch würde in ihrer Situation jede nur erdenkliche Lüge benutzen, um in die Freiheit zu gelangen. Darin sind sich beide Frauen einig. Dennoch gibt es gute Gründe, Cathy zu glauben. Sie will auf das immense Erbe, welches sie erwartet, zu Gunsten der Opfer verzichten; sie will ihrem sterbenden Vater die Möglichkeit geben, ihr zu vergeben, und sie will in ein Kloster gehen, um zu beten und zu arbeiten. Nur eins will sie nicht: Sie will nicht den Aufenthaltsort ihrer Kampfgefährtin preisgeben, die ebenfalls des Polizistenmordes schuldig ist und die sich der Justiz entzogen hat. Diese Gefährtin war und ist zugleich ihre große Liebe.

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Sibylle Canonica, Cornelia Froboess

© Matthias Horn

 

Ann, als Vertreterin des Staates, sieht in dieser Weigerung zu denunzieren, einen eindeutigen Beweis für die mangelnde Kooperationsbereitschaft. Sie „muss“ davon ausgehen, dass Cathy nach wie vor eine Bedrohung für die Gesellschaft darstellt. Argumentativ, mag sie nicht Unrecht haben, doch hinter der Fassade der gestrengen und objektiven Gutachterin steckt ein Frau, die weder Liebe, noch Zärtlichkeit, noch Leidenschaft erlebt hat. Alles dies hatte Cathy im Übermaß und die scheut sich nicht, ihrer Peinigerin, als die sie Ann empfindet, deren Manko aufzurechnen. Der Ausgang der Geschichte liegt nahe.

Stefan Heynes Bühnenbild bestand aus einem nicht allzu großen guckkastenartigen Raum ohne menschliche Eigenschaften, ein Konferenzraum in einer Strafanstalt eben. Ein Tisch, ein Stuhl, mehr brauchte es nicht. Die hintere Wand war aus milchigem Glas, das durch das Licht (Tobias Löffler) für Szenenwechsel genutzt wurde. Die waren von schmerzhafter Grelle gekennzeichnet. Abweichend von diesem Konzept war das letzte, berührend starke Bild, in dem Cathy in einem Bannkreis, in einem Kegel aus Licht unbeweglich und stumm hockte.

Es war der Abend zweier großer Darstellerinnen, deren Bilder man so schnell nicht mehr aus dem Kopf bekommen wird. Sibylle Canonica als Ann war eine herbe, durch Kostüm (Sabine Volz) und Maske sehr unsinnlich gestaltete Figur. Das zweiteilige steife Kostüm ließ es kaum zu, darin die Frau zu entdecken, in der Sehnsüchte brodelten. Ihr Ton war kalt und schneidend, der Rhythmus ihrer Sprache auf die gedanklichen Attacken abgestimmt, die sie unentwegt gegen ihre vermeintliche Widersacherin ritt. Cornelia Froboess steckte in einem grünen Overall mit Häftlingsnummer auf dem Rücken und in einer grünen Wolljacke. Ihre Cathy war ein müde, abgekämpfte, aber intellektuell immer noch wache, ja, sogar angriffslustige Frau. Cornelia Froboess entgegnete süffisant zynisch, lauthals verzweifelt oder weinerlich bettelnd. Bei ihrer Cathy ging es um alles und so sparte ihre Darstellerin nichts aus. Beide Frauen ergänzten sich kongenial und überzeugten. Die Texte David Mamets hingegen verstörten, weil die Fragen nach heutiger „Schuld und Sühne“ plötzlich eine philosophische Tiefe bekamen und mit juristischen oder moralischen Phrasen nicht mehr abzutun waren. Mamet gab keine wirklichen Antworten, denn dann hätte er die Systemfrage stellen müssen. Aber seine Exkurse zeigten auf, dass viele Positionen nur als gesichert erscheinen, weil sie festgeschrieben wurden, aber schon den leisesten Fragen vom Standpunkt einer menschlichen Moral nicht standhalten. „Schuld und Sühne“, wie es sich in der bürgerlichen Gesellschaft, in der sich viele Menschen von ihrer natürlichen Verantwortung freizukaufen suchen, darstellt, ist und bleibt unter den gegebenen Prämissen eine fragwürdige Angelegenheit.

Selten machte Theater im Hier und Heute soviel Sinn, wie die Inszenierung von „Die Anarchistin“ von Martin Kušej am Residenztheater. Mit dieser Arbeit brach Kušej einen Stab für ein politisches Theater, für ein Theater des weltanschaulichen Inhalts und weniger der vordergründigen Form. Und gerade darum war es formvollendetes Theater.

 

Wolf Banitzki

 

 


Die Anarchistin

von David Mamet

Sibylle Canonica und Cornelia Froboess

Regie: Martin Kušej