Teamtheater Tankstelle Good Morning, Boys and Girls von Juli Zeh




Nicht Fragen, Antworten sind gefragt

‚Alles ist schon einmal dagewesen. Wir leben in einer Karaokewelt, wiederholen nur, was andere bereits getan haben. Darum muss man, wenn man Aufsehen erregen will, alles viel krasser gestalten, viel krasser!’ Das ist die These von Cold, alias Jens, der über fast neun Monate minutiös seinen Amoklauf an der Schule plant. In dreißig Szenen wird Psyche ausgeleuchtet, fiktiv, aber auch real. Das Stück beginnt mit Fantasiesequenzen, in denen Jens für CNN seine Eltern interviewt, wie sie sich denn nun fühlen, als Eltern des berühmtesten Massenmörders. Die Antworten fallen nicht so aus, wie er es sich vorstellt. Die Mutter gefällt sich noch in ihrer Ratlosigkeit (Er war doch so ein liebes Kind!), sucht verzweifelt Ausflüchte, während der Vater (Das Kind war ein Unfall!) sich komplett abwendet. Doch alles dies ist keine greifbare Realität. Einige andere, bizarre Szenen hingegen verweisen auf eine Richtung, in die vermeintliche Kritik an realen Vorgängen steuern könnte. Insbesondere, wenn Jens im Deutschunterricht die martialische Tötung von fünf Nazis beschreibt, die er mit seiner liebevoll Zoey genannten Pumpgun geradezu hingerichtet hat. Die Nazis haben drei „Ölaugen“ (Türken) tyrannisiert. Aber auch sie müssen sterben. Warum? Weil er gerade dabei war und weil sie einen Hund schlecht behandelt haben. Die Lehrerin ist begeistert von der Gestaltungskraft des Schülers, von der Bildhaftigkeit. Es gibt Lob für die Kurzgeschichte. Niemand will wahrhaben, dass diese Fantasien längst an der Schwelle zur Realität stehen.

Mittendrin immer wieder Szenen, in denen Counter Strike gespielt wird. Man spielt es im Netz gemeinsam oder gegeneinander. Es lässt sich nicht leugnen, diese Jugendlichen befinden sich in einem permanenten Kriegszustand. Cold hat noch nie ein Mädchen geküsst, aber er hat schon Tausende vermeintlicher Feinde getötet, virtuell, versteht sich, und also straffrei. Gottlob sind sich Politiker, Lobbyisten und gekaufte Psychologen darin einig, dass derartige Spiele nichts mit Amokläufen zu tun haben. Alle spielen sie, doch nur sehr, sehr wenige werden zu Amokläufern. Das ist doch beruhigend, oder? Jens wird es jedenfalls nicht. Er wird vielmehr Opfer. Diese überraschende Wendung im Stück könnte doch immerhin auch bedeuten, dass uns die Kontrolle, die Fähigkeit zur Prävention aus den Händen genommen ist. Amoklauf ist längst Bestandteil der Jugendkultur geworden. Wer jetzt entsetzt widerspricht, dem sei empfohlen, sich im Netz kundig zu machen. Es ist allen zugänglich, auch denen, die Empörung heucheln.

Das Stück ist, trotz oder gerade wegen der extremen Brisanz, nicht unumstritten, denn Julie Zeh will nicht wirklich nach Schuldigen suchen, nicht verurteilen, nicht einmal warnen. Im Stück wird permanent an Amokläufe in der Vergangenheit erinnert und es entsteht der Eindruck, dass dieses Phänomen seit gut einhundert Jahren zum festen Bestandteil des weltweiten Schulwesens gehören. Halt, nicht ganz. In Asien gibt es sie (noch) nicht. ’Haben die keine Knarren in Asien?’ Erinnern wir uns an das kollektive Entsetzen quer durch die Gesellschaft, die die Menschen hinaustrieb zu Lichterketten, Blumenniederlegungen und tränenerstickten Befindlichkeitsäußerungen. Fragezeichen auf  Asphalt, computerausgedruckte A3 Blätter mit der Frage: Warum? Was hat es genützt? Außer, dass wir jetzt die Jahrestage der Massaker begehen können, nichts! Wo ist der Zorn der betroffenen Eltern, Geschwister, Angehörigen, die, wie Blitze aus heiterem Himmel Kinder, Freunde, Angehörige verloren haben? Wann endlich werden die Politiker zur Rechenschaft gezogen für ihre Versäumnisse? Nie, denn es sind keine Versäumnisse. Es ist Vorsatz, denn der Waffenindustrie in den Arm fallen hieß, Arbeitsplätze gefährden, Steuereinnahmen und Wähler verlieren. Das System will geschmiert sein und da kann es auch schon mal Kinderblut sein.  Es sind Colateralschäden im Herzen der Gesellschaft, aber doch nur an der Peripherie einer Wirtschaft, die wachsen und wachsen und wachsen muss.

Genau diese Kritik muss sich Julie Zeh auch gefallen lassen, denn Jugendliche, und in der Premiere saßen einige, erhielten, wie die Erwachsenen ebenso, keine Antworten. Das wäre vertretbar gewesen, wenn der Ansatz ein künstlerischer gewesen wäre, wie z.B. in „Kaktus“. Hier aber wird mit Realitäten jongliert, die bekannt sind. So blieb Regisseur Philipp Jescheck kaum mehr übrig, als diese Realitäten „reizvoll“ in Szene zu setzen. Das gelang ihm, zumal er mit Benjamin Jorns die perfekte Besetzung für die Rolle des Cold/Jens fand. Der sensible junge Schauspieler erinnerte in Aussehen, Lächeln und Spielweise sehr stark an Brad Dourif in der tragischen Rolle des Billy Bibbit in „Einer flog übers Kuckucksnest“. So sehr er sich bemühte, den harten Kerl aus sich herauszustülpen, so sehr stand ihm dabei sein naturgegebener sensibler, sehnsuchtsvoller Ausdruck im Weg. Dass er am Ende nicht der Killer war, schien geradezu logisch. Alle Gewalt blieb bis dahin nur Fantasie. Ganz anders Stella Goritzki, die in der Rolle der Susanne bis zum Ende undurchschaubar blieb. Ihre Entschlossenheit, aber auch ihre Zurückhaltung definierte schließlich den Typus des Amokläufers und machte verständlich, warum diese Täter vorher nie ausgemacht werden. Allein, diese Rolle erklärte sich selbst nicht hinreichend.

Ebenfalls sehr glaubhaft agierte Maike Specht als die Lehrerin Frau Patt. Sie entblößte mit ihrem pointierten Spiel das Dilemma, in dem sich die Lehrerschaft heutzutage befindet. Sie sollen den Kindern mit Sympathie und Liebe entgegentreten, denn wie sonst sollen sie die Schutzbefohlenen dazu bringe, zu lernen, und zugleich sollen sie ihnen wie eine Polizei begegnen, mit grundsätzlichem Misstrauen. Was hat das noch mit Pädagogik zu tun? Holzschnittartig hingegen kamen Ulla Wagener als Mutter und Anno Koehler als Vater herüber. Hier ist wieder Kritik am Stück angesagt, denn beide erfüllten die Klischeevorstellungen von den karriere- und gewinnorientierten Eltern, denen die Entwicklung der Kinder gleichgültig zu sein scheint und die alles tolerieren, solange die Kinder im selben Standesdünkel leben wie sie selbst. Und wenn Statistiken hundertmal belegen, dass es eben der Typus Eltern ist, aus deren Schoß die Amokläufer entspringen, so blieb die Darstellung platter Realismus. Das kann Frau Zeh besser.

Michele Lorenzinis Bühne, er zeichnete ebenso für die Kostüme verantwortlich, bestand aus einem einzigen, riesigen Stoß Kleidung. Dieser Haufen wurde spielend wieder und wieder erklommen, als handele es sich um den Berg, auf den Sisyphos seinen Stein rollte. Es ist eine brauchbare Metapher, die vom permanenten Bemühen, den Gipfel des Besitzes, der materiellen Sachlichkeit zu erklimmen, um darauf zu thronen. Allein und unkommentiert allerdings bleibt sie wieder nur eine Plattitüde. 

Es ist unbedingt eine sehenswerte Inszenierung, die schon wegen des großen Engagements der Darsteller zu empfehlen ist. Es ist auch der sichtbare und gewiss auch ehrlich gemeinte Versuch, so viele Facetten des Problems wie möglich beleuchten zu wollen. Wenn dennoch so hart mit dem Abend ins Gericht gegangen wurde, dann nur aus einem einzigen Grund. Wenn ich die Frage nach dem Problem des Amoklaufens an Schulen stelle, dann muss ich auch deutliche Antworten geben. Sonst gerät man in den Verdacht, sich an einem Thema profilieren zu wollen, bei dem man knöcheltief im Blut von Kindern watet. Julie Zehs Integrität ist selbstverständlich unbestritten. Hier geht es vielmehr um Scheitern. Dass in Talkshows keine Antworten gegeben werden dürfen, weil es lediglich um den Meinungspluralismus geht und deren Vielfalt Quote macht, mag ja noch angehen. Theater sollte sich in diese Niederungen gesellschaftlichen und geistigen Opportunismus allerdings nicht begeben.


Wolf Banitzki

 


Good Morning, Boys and Girls

von Juli Zeh

Ulla Wagener, Anno Koehler, Maike Specht, Benjamin Jorns, Stella Goritzki


Regie: Philipp Jescheck

Teamtheater Tankstelle Motortown von Simon Stevens




Bewegendes Antikriegsdrama

Danny ist Kriegsheimkehrer. Als britischer Soldat war in Afghanistan, in Kabul im Einsatz. Er war nicht wirklich lange weg, doch immerhin so lange, dass sich inzwischen vieles verändert hat. Die Freundin Marley besteht nachdrücklich darauf, dass sie kein Paar mehr sein können, denn Dannys Briefe aus dem Krieg haben ihr Angst gemacht. Sie droht mit der Polizei, wenn er nicht aufhört, ihr nachzustellen. Untergekommen ist Danny bei seinem Bruder Lee, einem sensiblen, aber behinderten jungen Mann, der inzwischen ebenfalls ein ambivalentes Verhältnis zum Bruder entwickelt hat. Der Zuschauer erfährt wenig über den Krieg und wenn, dann auch nur andeutungsweise. Da gab es ein Interview mit Danny im Fernsehen, aufgezeichnet in Kabul. Die Eltern, Danny weigert sich, Kontakt mit ihnen aufzunehmen, hat die Berichterstattung über ihren Sohn sehr stolz gemacht. Sie sind die einzigen, die nicht gesehen habe, wie sehr sich der junge Mann im Krieg verändert hat. Lee, dem man auf den ersten Blick kaum etwas zutraut, resümiert, dass Danny kaputt ist, dass er schon im Interview keinen Satz zuende gebracht hatte, stark verändert wirkte.

Der Krieg hat Danny entmenschlicht. Und so ist es nur folgerichtig, dass er sich wieder nach einer Waffe umschaut. Die verlieh ihm im Krieg sein Selbstbewusstsein, war seine einzige Verbündete im Überlebenskampf. Und wenn (in einem Film oder auch Theaterstück) eine Waffe auftaucht, dann wird sie auch benutzt. Ein junges Mädchen stirbt. Warum? Es gab keinen triftigen Grund. Doch Danny hat wieder einmal sich selbst gespürt. Man ahnt bald, dass er in der Gesellschaft nicht mehr Fuß fassen wird. Die Gesellschaft, die ihn zum Töten ausgebildet hat, die ihn für ihre politischen Ziele gebraucht (oder sollte man sagen: missbraucht) hat, nimmt ihn nicht mehr auf. Sie wird ihn am Ende ausspeien wie einen faulen Fisch.

Der Dramatiker Simon Stephens (Jahrgang 1971) hat, ganz in bester englischer Tradition, ein hartes, unverblümtes und kompromissloses Stück über den Krieg und seine Protagonisten geschrieben. Es ist eine erbarmungslose Anklage gegen Krieg an sich und die, die ihn entfesseln im Besonderen. „Motortown“ ist ein literarisch-theatralischer Störfaktor am seichten politischen Bewusstsein, dass sich nach zwei Weltkriegen wieder mit der Tatsache eingerichtet hat, dass Kriege notwendig seien. Die Lügen über Demokratie, Freiheit und auch über Heldentum funktionieren schon wieder, - oder immer noch.

Marcel Tyrollers Bühnenbild im Teamtheater Tankstelle war die konsequente Umsetzung des Titels „Motortown“. Abgefahrene Autoreifen türmten sich links und recht am Bühnenrand bis unter die Decke. Autoreifen waren die wesentlichen Ausstattungselemente und die dominierenden Requisiten, und zwar mit einem erstaunlichen Nebeneffekt: Dieses Bühnenbild konnte man riechen! Ein paar Waffen, Kaffeebecher, Chipstüten, - das war’s, den Rest besorgten die exzellenten Schauspieler. Regisseur Andreas Wiedermann hat das Drama stringent, schnörkellos und hart inszeniert. Es war seine vielleicht beste Arbeit hier in München. Die Musik von Ernst Bartmann bei den Szenenwechseln peitschte die anschwellende Aggressivität und Dramatik zusätzlich voran. Doch Andreas Wiedermann hatte dabei nicht auf billige Effekte gesetzt, auch wenn manche Szenen an den Nerven der Betrachter zerrten. Vielmehr war es ihm gelungen, die Darsteller zu wirklich tieflotendem und dennoch komödiantischen Spiel zu verführen. Dieses Lob gebührt allen Bühnenkünstlern gleichermaßen, die gemeinsam acht Rollen gestalteten.

motortown

Axel Röhrle, Eva Kruijssen, Herbert Schäfer

© Hilda Lobinger


Axel Röhrle spielte einen Danny, dem eingangs in der einen oder anderen Szene die uneingeschränkte Sympathie galt. Doch Röhrle entwickelte die Figur unweigerlich hin zu einer monströsen, getrieben von den Bildern der Vergangenheit und von den Begegnungen mit den Zeitgenossen, die sich weder für den Krieg, noch für die Beschädigungen der Soldaten interessierten. Axel Röhrle gelang durchgängig eine erschütternde Authentizität. Die erstaunlichsten Verwandlungen gelangen Herbert Schäfer. Seinem Bruder Lee kaufte man die Behinderung ohne Einschränkung ab. Dabei war es kaum zu glauben, dass er in der nächsten Szene als versehrter, hysterisch kichernder Waffenhändler und wenig später als aalglatter, zynisch philosophierender, mit Goldkettchen beschwerter Verführer einer Teenagerin agierte. Schließlich setzte er als spießiger Lehrer noch eine weitere schillernde Facette frei, als er Danny zu einem „Dreier“ mit ihm und seiner Ehefrau zu verführen versuchte. Ohne Eva Kruijssen konnte allerdings nicht viel gestaltet werden, denn sie war als Exfreundin Marley widerspenstiges Objekt der Begierde, als Jade entsetztes und angstschlotterndes minderjähriges Mordopfer und als Helen eine Frau, die ihre sexuellen Begierden hemmungslos auslebte und deren Befriedigung radikal einforderte. Es war kaum denkbar, dass sich für dieses abgründige Drama ein besseres Ensemble hätte rekrutieren lassen. Großartig!

Mit dieser Inszenierung gelang der Theatergruppe ImPuls ein kritischer und kathartischer Beitrag zu einem leider schon wieder alltäglich gewordenen Thema. Ohne großen Aufwand, nur mit dem engagierten, aufrichtigen schauspielerischen Gestus und den Worten Simon Stephens gelang ein Statement, wie man es leider viel zu selten sieht und hört. In der alltäglichen Auseinandersetzung mit dem Thema Krieg vernebelt globale Ökonomie, wirtschaftlicher Pragmatismus und ein neuer Kleinmut den deutlichen Diskurs. Haltungslosigkeit allenthalben. Dabei haben wir aus der Geschichte gelernt, dass bereits Stillhalten Schuld bedeutet. Wann wird der Mensch endlich die Politik überwinden und ein für alle Mal Krieg ächten? Diese Frage drängt sich nach „Motortown“ im Teamtheater Tankstelle auf. Und wenn nur einer unter den Zuschauern war, der diese Frage für sich in einem humanistischen Sinn beantwortete, hat sich Theater einmal mehr als moralische Anstalt erwiesen. Prädikat: Für Jugendliche auf der Suche nach einem positiven Wertesystem besonders geeignet!


Wolf Banitzki

 

 


Motortown

von Simon Stevens

Eva Kruijssen, Axel Röhrle, Herbert Schäfer

Regie: Andreas Wiedermann

Teamtheater Tankstelle Krabat nach Otfried Preußler




Von der märchenhaften Kraft der Liebe

Der von Bettelei lebende, vierzehnjährige Weisenjunge Krabat hat jede Nacht den selben Traum. Eine Stimme fordert ihn auf, nach Schwarzkollm zu kommen, in die Mühle im Koselbruch. Die Mühle ist bei den Anwohnern gefürchtet und geächtet. Als Krabat dem Ruf Folge leistet, wird er vom schwarzen Meister als Lehrjunge angestellt. Vom ersten Tag an genießt er die besondere Zuneigung des düsteren und nach außen hin groben und brutalen Meisters. Neben dem Handwerk des Müllers lernt Karabat auch die „schwarzen Künste“. Das hat durchaus seine Vorteile, wie er bald merkt, denn mit Zauberei geht Arbeit deutlich leichter von der Hand.

Die Zuneigung des Meisters geht soweit, dass er den Lehrburschen mit an den Hof des Sachsenkönigs nach Dresden mitnimmt, wo der Meister den König in wichtigen Fragen berät. Am Ende des ersten Lehrjahres ist Krabat nicht nur drei Jahre älter, sondern muss auch erfahren, dass alljährlich in der Sylvesternacht ein Geselle sein Leben lassen muss. In diesem Jahr ist es sein Freund und Vertrauter, der Altgeselle Tonda. Das Leben in der Mühle ist hart, doch Krabat schätzt das reichliche und regelmäßige Essen und die Gemeinschaft der Gesellen. Nach dem mysteriösen Tod Tondas freundet sich Krabat mit dem gutmütige Juro an. Er ist der Koch und gilt als Dümmling. Bald schon muss Krabat erkennen, dass Juro überhaupt nicht der Trottel ist, der er zu sein vorgibt. Juro verstellt sich, duckt in gefährlichen Momenten ab, hält sich im Hintergrund auf und sammelt seine Erfahrungen. Diese Haltung hat ihm das Überleben gesichert. Juros Wissen ist inzwischen so umfänglich, dass er Krabat beraten kann. So erfährt Krabat von ihm, dass immer der Beste sterben muss, der Geselle, der gegen den Meister in Konkurrenz treten könnte.

Krabat ist die Anhängigkeit leid. Er emanzipiert sich und begehrt gegen den Meister auf. Allerdings zeigen im die Vorgänge in der Mühle, dass ein Entrinnen unmöglich scheint. Fluchtversuche der Gesellen scheitern und im günstigsten Fall kehren sie reumütig zu dem verwunschen Ort zurück. Das Verhältnis zum Meister, der, wie Krabat von Juro erfährt, einen Pakt mit dem Herrn Gevatter geschlossen hat, spitzt sich zu und Krabat begreift, dass er den Ort verlassen, den Meister überwinden oder sterben muss. Juro zeigt ihm einen Ausweg auf. Nur die Liebe eines Mädchens kann ihn aus den Klauen des Meisters befreien. Sie muss den Geliebten mit verbundenen Augen erkennen, ohne das der ihr ein Zeichen geben darf. Erfüllt sie die Prüfung nicht, so sind beide des Todes. Der Meister nimmt die Herausforderung erst an, als Krabat sein Angebot, den Meister in der Mühle zu beerben, ausgeschlagen hat. Das Mädchen, welches Krabat erretten kann und möchte, heißt Kantorka. Sie kennen sich schon geraume Zeit und lieben einander. Kantorka erklärt sich bereit, ihr Leben für die gemeinsame Liebe zu wagen. Und da es ein Märchen ist, gelingt es den Liebenden, das Böse zu überwinden.

Otfried Preußler entlehnte die Geschichte seines 1971 erschienen Romans dem Sagenkreis des Lausitzer Wenden, die in Nachbarschaft zu seiner nordböhmischer Heimat leben. Es ist eine Geschichte über den Kampf zwischen Gut und Böse, über die Fallstricke des Lebens, die unerwartete Abhängigkeiten schaffen und über die Fähigkeit des Menschen, sich durch seinen eigenen Willen aus der Unfreiheit zu befreien. Es mag kaum vorstellbar sein, doch dieses Werk galt in der Bevölkerung der DDR der 70er Jahre als ein aufmüpfiges Buch, als versteckte Botschaft für mehr individuelle Freiheit.

Neun Schauspieler und fünf Musiker des Theaters ImPuls haben Preußlers Roman auf die Bühne des Teamtheaters Tankstelle gebracht. Die Inszenierung von Andreas Wiedermann war minimalistisch, körperbetont, dramatisch und komödiantisch zugleich. Die jungen Darsteller agierten gleichberecht hochmotiviert und ambitioniert. Durch die einfachen weißen (Müllerburschen-) Kostüme von Uta Lederer-Hensel und der völlig leeren, schwarzen Bühne (Udo Ebenbeck) erinnerte die Inszenierung, ignoriert man einmal die extreme Strenge der Regeln, fern zwar, doch immerhin, an japanisches No-Theaters, das ein Gesamtkunstwerk aus Wort, Musik und Tanz ist. Die fünf Musiker produzierten musikalisch illustrierend Melodien und Lieder, aber auch Klanginstallationen und –teppiche. (Musik: Martin Schönberger)

Regisseur Andreas Wiedermann nutzte das jugendlich-kraftvolle Potenzial der Darsteller und ließ körperlich entfesselt spielen. Kontrapunkt zu den gruppendynamischen, vor Lebendigkeit strotzenden Müllergesellen, allen voran Friedrich Spieser als Krabat, war der wuchtige, donnernde, in Schwarz gewandete Clemens Nicol als Meister. Seine stimmliche Expression reichte von einschmeichelnd, wenn er um Krabat buhlt, über frostig jenseitig, wenn er ruhig seinen Willen kundtat, bis dröhnend und markerschütternd, wenn er in Wut geriet. Urs Klebe bildete einen weiteren Pol als Altgeselle Tonda, der Weisheit verströmte und mit der Überlegenheit des Alters für Frieden im Kreis der Gesellen sorgte. Erwähnenswert war auch die Leistung Franz Brandhubers, dessen Juro äußerst liebenswerte Züge aufwies.

Die Werbung des Theaters nennt die Inszenierung ein zeitloses Märchen für Erwachsenen. Tatsächlich gilt das sicher auch für ältere Kinder und Jugendliche, denn die Reduktion auf das Wesentliche der Geschichte macht die Inszenierung trotz 145 Minuten Länge kurzweilig, verständlich und eingängig. Das überbordernde Spiel ließ keine Längen aufkommen. Und die Botschaft, die von der märchenhaften Kraft der Liebe kündete, war alles andere als kitschig. Die Inszenierung ist ein gute Alternative zu Videospielen und TV. Vielleicht könnte diese Arbeit den einen oder anderen jungen Menschen mit dem Theatervirus infizieren.



Wolf Banitzki

 

 


Krabat

nach Otfried Preußler

Franz Brandhuber, Simon Brüker, Lisa Erdmann, Urs Klebe, Matthias Lettner, Christina Matschoss, Clemens Nicol, Friedrich Spieser, David Thun
Musiker: Sophia Bösl, Anja Göstl, Mathias Pitsch, Martin Schönberger, Jürgen Werner

Regie: Andreas Wiedermann

Teamtheater Tankstelle Burn Baby Burn de Carine Lacroix - en langue française




Abenteurer wie du

Am 22. Februar 2012 hatte am Teamtheater Tankstelle das französischsprachige Stück Burn Baby Burn von Carine Lacroix unter der Regie von Vincent Kraupner Premiere. Es handelte sich hierbei um eine Koproduktion mit der Cie Antéros und dem Lycée Jean Renoir, einer deutsch-französischen Schule. So sind in den weiblichen Hauptrollen die ehemalige Schülerin des Lycées Constanze Hörlin und die noch dort in der Ausbildung begriffene Theresa Weihmayr zu erleben.

Als Violettes (Constanze Hörlin) Moped irgendwo im Nirgendwo das Benzin ausgeht, steuert sie eine scheinbar verlassene Tankstelle an, in der Hoffnung, dort noch einen Rest Treibstoff zu finden. Zu ihrer großen Überraschung trifft sie dort auf Hirip (Theresa Weihmayr), die sich offensichtlich häuslich in der Baracke eingerichtet hat. Die beiden sind auf den ersten Blick vollkommen gegensätzlich: Violette kommt als Rockerbraut in schwarzer Kluft daher, gepierct und düster geschminkt. Hirip ist in alte, gefundene und viel zu große Sachen gewandet. Auch das Temperament der Mädchen unterscheidet sich sehr. Während Violette die Lässige und Unnahbare gibt, ist Hirip albern und ausgelassen. Hirip erzählt, ihre Mutter habe sie verlassen und sie führe nun ein durchaus glückliches Leben an diesem seltsamen Ort: Sie spürt die Zeit langsam verstreichen, gibt sich der Beobachtung der Vögel und Insekten hin und bekommt ab und an Besuch von „Abenteurern“, die diese abgelegene Straße noch befahren. Auch dieser Lebensentwurf ist absolut gegenläufig zu dem Violettes: Sie macht eine Ausbildung zur Frisörin, lebt mit ihren Eltern zusammen und hat einen festen Freund. Das alles findet sie „scheiße“. Es entwickeln sich Dialoge, in denen Hirip versucht, Violette zur Freundin zu gewinnen, indem sie ihr Fantasiegeschichten erzählt und sie so in den Bann ziehen möchte. Gerade als Violette ein wenig nachgiebiger wird und beschließt, sich der verlassenen Hirip anzunehmen, taucht Issa (François Goeske), der Pizzabote, auf und mit ihm eine Botschaft aus Violettes Alltag, die der Handlung eine tragische Wende verleiht.

Monika Staykova (Ausstattung) hat sich für ein wirklichkeitsnahes Bühnenbild entschieden: Eine Tanksäule neben der das gelbe Moped parkt, ein Plastikstuhl, ein paar Reifen und Kisten, einige Paneele mit den Schemen einer Steppenlandschaft. Das Licht taucht die Szenerie in Gelb-Orange und die Musik stammt meist aus der Sparte Rock/Pop.
Deutlich stehen der Text und die Darbietung der jungen Schauspieler im Vordergrund. Die einzige nennenswerte Schauspielerfahrung hat François Goeske. In ihrem Spielduktus unterscheiden sich die Darsteller denn auch sehr deutlich, womit allerdings keine qualitativen Unterschiede beschrieben werden sollen. François Goeske fällt zunächst eine Art Erzählerrolle zu: Er gibt atmosphärische Schilderungen des Schauplatzes. Später tritt  er als hinreißender Pizzabote auf, in den sich Hirip einfach verlieben muss. Goeske macht bereits einen sehr professionellen Eindruck, zeigt einen deutlichen Unterschied zwischen dem lautlichen Reichtum der Szenerie-Schilderungen und dem emotionalen Ausdruck im Dialog. Er wirkt im Vergleich sehr viel kontrollierter als seine Mitstreiterinnen. Theresa Weihmayr wird geradezu überwältigt von den Gefühlen, die ihre Rolle ihr abverlangt. Mit unglaublicher Energie stürzt sie sich in jede Szene. Sie treibt den Charakter ihrer Figur auf die Spitze, sodass Hirip entrückt und weltfremd wirkt. Ihre Emotionalität und Begeisterungsfähigkeit muten außergewöhnlich an. Sichtlich erschöpft und verstört durch diese eruptive Kraftentfaltung nimmt Weihmayr ihren Applaus entgegen. Constanze Hörlin spielt mit großer Genauigkeit die feinen Nuancen, in denen die Öffnung der Figur Violette vor sich geht.

In der Ankündigung heißt es, die beiden Protagonistinnen seien „Abbilder der 'typischen' Jugendlichen von heute“ und sie zögen sich in eine eigene Parallelwelt zurück, weil sie auf der Suche nach der eigenen Identität sich selbst verloren hätten. Offensichtlich wird hierbei auf verschiedene Gruppierungen angespielt, in denen sich manche Jugendliche zusammenschließen, um gemeinsam einem bestimmten Lebensstil nachzugehen, Bewegungen wie 'Gothic', 'Emo' oder 'Punk' und andere mehr. Als junge Kritikerin kann ich diese Darstellung nicht als realistisch bestätigen. Eine Minderheit der Jugendlichen schließt sich solchen Cliquen an und es ist nicht gesagt, dass der Grund dafür eine Resignation vor der Suche nach der eigenen Identität ist. Burn Baby Burn ist eine Darstellung, die Möglichkeiten zu einer prekären Ausnahmesituation zuspitzt. Die Figur der Violette ist dabei durchaus klischeehaft geraten. Hingegen ist Hirips Charakter sehr ungewöhnlich und mutet noch fast kindlich an.
Sicher zeigt Burn Baby Burn nicht die „'typischen' Jugendlichen von heute“, sondern vielmehr das Aufeinanderprallen zweier extremer Lebensweisen. Jedoch so unterschiedlich, wie die beiden Mädchen zu sein scheinen, eines eint sie zugegebenermaßen: Der Wunsch nach Zugehörigkeit, Geborgenheit und Liebe.


Magdalena Sporkmann

 


 


Burn Baby Burn

de Carine Lacroix - en langue française

Constanze Hörlin, Theresa Weihmayr, François Goeske

Regie: Vincent Kraupner

Teamtheater Freak Dinner von Francis Veber




Von einem Idiotenjäger und wie er selbst Opfer wurde

Es ist schon ein recht absonderlicher Spleen, den Verleger Pierre Brochant und seine Freunde pflegen. Einmal in der Woche, zumeist dienstags trifft man sich zu einem außergewöhnlichen Dinner. Jeder der Teilnehmer bringt einen Gast mit. Es ist aber nicht irgendein Gast, es muss ein totaler „Idiot“ sein. Nach dem Dinner wird dann der Teilnehmer zum Sieger gekürt, der mit dem schrägsten Vogel aufwarten konnte. Pierre Brochant ist sich sicher, dieses Mal zum Champion der Idiotenjäger ernannt zu werden. Er hat Francois Pignon, einen Finanzbeamten mit einem Faible für Streichholz-Modellarchitektur, eingeladen. Ein Freund Brochants hatte zuvor das zweifelhafte Vergnügen gehabt, eine fünfstündige Bahnfahrt mit Pignon zu verbringen. Danach schwor er Brochant glaubhaft, einem unüberbietbaren Trottel begegnet zu sein. Doch am Abend des Dinners ereilt den Verleger ein Hexenschuss. Es ist bereits zu spät, um Pignon abzusagen. Pignon, derart entzückt vom Verleger Brochant, der Interesse für die Bastelleidenschaft des Finanzbeamten heuchelt, läuft in seiner Hilfsbereitschaft zu ganz großer Form auf. Von nun an beginnt die unaufhaltsame Demontage des Lebens von Brochant. Um nicht als Spielverderber dazustehen, sei an dieser Stelle nicht mehr verraten. Nur soviel: Am Ende besteht Brochant darauf, das Dinner zu einem späteren Zeitpunkt nachzuholen. Doch dann werde Brochant, der inzwischen einsehen musste, was für ein Idiot er selbst ist, die Begleitung für Pignon sein.

Francis Veber schrieb neben der hier besprochenen Komödie das Drehbuch zu „Die Filzlaus“. Billy Wilder machte aus dieser filmischen Vorgabe von Edouard Molinaro (mit Lino Ventura und Jacques Brel) seinen Komödienfilm „Buddy Buddy“. Veber zeichnete gleichsam verantwortlich für „Der große Blonde mit dem schwarzen Schuh“ (1972 von Yves Robert verfilmt) und für „Ein Käfig voller Narren“ (I und II). Wer wenigstens einen dieser Filme kennt, weiß um das Erfolgsrezept Verbers. Es ist eine Mischung aus einem auf die spitze getriebenen Plot, dialogischer Situationskomik und nicht selten auch Slapstick. In Deutschland ist der Film um den Verleger Brochant und den Finanzbeamten Pignon unter dem Titel „Dinner für Spinner“ bekannt geworden. Ähnlich wie in „Die Filzlaus“ treffen auch hier zwei Charaktere aufeinander, die unterschiedlicher nicht sein können. Auch in dieser Komödie ist der vermeintliche Idiot in höchstem Maße liebenswert.

Regisseur Oliver Zimmer hatte sich in seiner Inszenierung vornehmlich auf den Dialogwitz verlassen. Darüber hinaus gelang es ihm aber, die Rollen der Protagonisten mit Heiko Dietz (Brochant) und Philipp Weiche (Pignon) in ihrem Wesen und ihren Erscheinungen kongenial zu besetzten. Heiko Dietz gab einen weltgewandten, von sich selbst überzeugten und auch ein wenig zynischen, aber zerknirschten und genervten, weil unter starken Schmerzen und der Anwesenheit Pignons leidenden Verleger. Die Geschichte verlangte von ihm die Darstellung des durchgängig Leidenden, also eine Rolle mit einem permanenten Handicap. Dietz gelang es bei aller Beschränkung, sich Räume für Varianten im Spiel offen zu halten, ohne dabei schmerzfrei zu wirken. Komödiantisch getragen wurde das Stück aber von Philipp Weiche. Die Dramaturgie sah vor, dass die Figur des Pignon jedermann und –frau im Spiel in kürzester Zeit und ohne Umwege in die fatalsten Situationen bringen musste. Alle wurden in den Strudel der skurrilen Ereignisse gezogen, die aus Pignons physischer und geistiger Tollpatschigkeit resultierten. Das wirklich Witzige dabei war, dass Pignons Motive seines Handelns stets lauter und gutartig waren. Dennoch machte er im entscheidenden Augenblick stets das Falsche, manchmal im Eifer, manchmal in Unbesonnenheit. Die Folgen seines „hilfreichen“ Handelns vermochte er dabei nie abzusehen, weil er geradlinig dachte und nicht in den Kategorien des Hinters-Licht-führens, wie sie in der Welt Brochant eher die Regel waren.

freakdinner

Lance Girard, Ravi Rege, Heiko Dietz,

©

Philipp Weiche hatte eine Figur erarbeitet, die wirklich zum Brüllen komisch sein konnte. Dabei war die Figur des Pignon eigentlich ein am Leben und auch an sich selbst Gescheiterter. In seiner seltsamen Gelecktheit, ein Finanzbeamter ist eben ein ordentlicher Mensch, die über die sich aufdrängende Spießigkeit per se weit hinausging, war er an sich schon komisch. Sein Spleen, großartige Architektur mit Streichhölzern nachzubilden, hatte hingegen schon wieder eine ernsthafte Tiefe, die erst dadurch komisch erschien, weil sie von einer unglaublichen (und durchaus liebenswerten) Begeisterung getragen wurde. Pignon war stets von dem unbändigen Drang beseelt, sich und seine Begeisterung anderen mitzuteilen. Er hatte allerdings längst gelernt, mit der steten Ablehnung umzugehen und bekam dadurch einen traurig-clownesken Zug.

Es ist eine wunderbare Boulevardkomödie, die sich von anderen darin unterschied, dass hier ein intelligentes Dialogfeuerwerk abgebrannt wird, das bis zum Ende hin immer heller leuchtet. Das Stück kommt ohne Türenklappen und die üblichen zahllosen Verwechselungen aus. Es gab nur eine einzige Verwechselung, die allerdings folgenschwer war. Türen konnten nicht klappen, da es keine gab und hier fiel leider ein kleiner Wehmutstropfen in den Kelch, den das Publikum gern zu leeren bereit war. Das Bühnenbild von Aylin Kaip, Wände und Möbel, alles andere als elegant, bestanden aus zusammen geschraubten Aluminiumprofilen, wirkten sperrig und verhinderten das Aufkommen von Atmosphäre. Immerhin handelte es sich um die Wohnung eines gutbetuchten Verlegers mit Geschmack. Nachdem die Kunstwerke (bemalte Tücher und an Giacometti erinnernde Skulpturen) vor Pignons Finanzamtskollegen Lucien Cheval, Daniel Pietzuch spielte ihn komischen wie einen Terrier, versteckt worden waren, fühlte man sich eher wie in einer Schlosserwerkstatt. Doch mit diesem Manko kann man leben. Die Inszenierung ist absolut sehenswert und vermag es, gerade in Zeiten tiefster Depression und Negativnachrichten, zu hemmungslosem Lachen zu verführen. Man wünschte sich mehr davon.

Wolf Banitzki

 

 

 


Freak Dinner

von Francis Veber

Ute Pauer, Heiko Dietz, Daniel Pietzuch, Ravi Rege, Lance Girard, Philipp Weiche

Regie: Oliver Zimmer