Teamtheater Tankstelle Juri von Fabrice Melquiot


 

 

Der Wahnsinn zieht seine Kreise

Anja begrüßt ihren Patrick-Schatz mit einem Geschenk. Der genießt es, von Anja-Schatz verwöhnt zu werden und freut sich über das Verwöhnprogramm mit Sofa, Martini und einem neuen Hemd in seiner Lieblingsfarbe. Das Paar hat es geschafft; sie sind beruflich erfolgreich und gesund. Nun ja, ganz geschafft haben sie es wohl doch nicht, denn bislang hat sich bei ihnen noch nicht der erhoffte und ersehnte Kindersegen eingestellt. Patricks Spermatozoen sind nicht die agilsten und auch alle medizinische Nachhilfe hat noch zu keinem brauchbaren Ergebnis geführt. Anja ist es leid, zu warten und handelt. Und so präsentiert sie ihrem Ehemann an diesem Abend einen frisch adoptierten Sohn namens Juri.

Gefunden hat sie ihn bei den Tiefkühltruhen bei Rewe. Der Knabe ist, wie sich später herausstellt, 19 Jahre alt, scheint geistig völlig zurückgeblieben zu sein und spricht kein Wort, vermutlich, weil er nichts versteht. Warum Juri? Weil er russisch aussieht! Und warum Russe? Weil er Juri heißt! Patricks Entsetzen über die augenscheinliche Entführung und das völlig inakzeptable Benehmen des vermeintlichen Idioten, er pisst in die Ecken des Wohnzimmers, beginnt zu schwinden, als Juri an seine Brust gekuschelt einschläft. In Patrick erwachen Vatergefühle, in Anja Neid. Dennoch wird Juri, der, warum auch immer, halber Afrikaner und halber Chinese ist, das Paar glücklich machen. Warum und wie, ist eine Geschichte voller anarchischer Wendungen, Aberwitz und Wahnsinn. Logik? Fehlanzeige, dafür umso mehr Komik, auch Klamotte - und warum auch nicht.

Autor Fabrice Melquiot ist der neue Stern am Himmel der französischen Dramatik. (Zitat: Politis) Der 1972 geborene Schauspieler begann mit Stücken für „junges“ Publikum. Inzwischen schreibt er ausschließlich, z.B. als Hausautor für „La Comédie de Reims“. Er hat keinen festen Wohnsitz mehr und wechselt beinahe monatlich seinen Aufenthaltsort. Das erinnert durchaus an die Figur des Juri, der in das Dasein eines Paares der „Yuppiegesellschaft“ tritt oder auch verschleppt wird, deren Leben er grundlegend verändert und wieder verschwindet. Das Stück handelt von Migration und dem Verhältnis der „Eingeborenen“ dazu, von Familie und den Bildern davon und menschlichen und unmenschlichen Verhaltensweisen. Das Stück ist weder politisch korrekt, noch hat es eine didaktische Botschaft und es bedient beinahe jedes denkbare und auch undenkbare Klischee. Dennoch, oder vielleicht gerade darum, entspringt es der Mitte unserer Gesellschaft, in der der Wahnsinn seine Kreise zieht.

Andreas Wiedermann hat dieses Stück „nackter Wahnsinn“ auch als solchen inszeniert.
Theresa Hanichs Anja war in jeder Hinsicht eine „moderne“ Frau. Sie gab viel auf moderne Haushaltsführung und beschäftigte sogar einen Saugroboter. Sie sparte Spießigkeit nicht aus, denn schließlich stammt sie aus der Generation: „Wenn ich mal groß bin, möchte ich Spießer werden.“ Bei alldem war sie sehr berechnend und pragmatisch. Den Vorwurf, Juri gekidnappt zu haben, wischte sie mit dem Argument vom Tisch, er habe so traurig neben den Tiefkühltruhen gestanden und die Eltern hätten es doch gar nicht besser verdient, als dass man ihnen ihr Kind nimmt. Sie vereinnahmte, was sie begehrte und moralische Skrupel waren für sie vernachlässigbar. Ganz anders Patrick, vom hühnenhaften Clemens Nicol gespielt. Er begriff den Wahnsinn auch als solchen, fand aber schließlich Gefallen daran und ließ sich alsbald willig auf das Spiel ein. Dennoch brachten ihn die rasant wechselnden Situationen häufig an den Rand der Atemlosigkeit. Juri wurde von dem sehr jugendlich und zerbrechlich wirkenden Friedrich Spieser gespielt. Da sein Text aus kaum mehr als zwei Sätzen bestand, war Gestik und Mimik gefragt. Dabei ging es nie schamhaft zu, was durchaus einen gewaltigen Reiz der überaus unterhaltsamen Inszenierung ausmachte.

Im richtigen, der Situation (halbwegs) glaubhaft angemessenen Kontext gibt es eigentlich keinen Tabubruch. Diese Situationen wollen allerdings herbei geführt werden und das gelang Andreas Wiedermann und seinen Mitstreitern allemal. Ein wirklich kurzweiliger Abend, der aus vielerlei Gründen im Gedächtnis bleiben wird. Einer war unbestritten die dramatische Vorlage von Fabrice Melquiot, die auch den von der Werbung versprochene Tiefgang lieferte. In jedem Fall machte die Inszenierung neugierig auf kommende Arbeiten des Autors.

 

Wolf Banitzki

 


DEA Juri

von Fabrice Melquiot

Theresa Hanich, Clemens Nicol, Friedrich Spieser

Regie: Andreas Wiedermann

Teamtheater Tankstelle  In Stahlgewittern von Ernst Jünger


 

 

Beklemmende Parallelen

Fast ohne mediales Aufsehen und vor einem nicht einmal zur Hälfte ausverkauftem Haus fand am 29. Januar im Teamtheater Tankstelle eine Premiere statt, die unbedingt mehr Beachtung verdient hätte. Mit „In Stahlgewittern“ eröffnete Andreas Wiedermann und sein Theater ImPuls eine „Europa-Trilogie“. „Europe – The Past“ beschreibt vermittels des gleichnamigen Prosatextes von Ernst Jünger den ersten Krieg industrieller Prägung in der Menschheitsgeschichte. Jünger erlebte ihn als Stoßtruppführer. Er zog sich an die zwanzig Verwundungen zu und genoss das große Schlachten mit Schaudern, aber auch als Rauschzustand. Für seinen Wagemut und seinen Kampfeswillen wurde der Hauptmann Jünger am 18. September 1918 mit dem Pour le Mérite, eine der höchsten militärischen Ehrungen, von Friedrich den Großen 1740 gestiftete, dekoriert.

Als Freiwilliger suchte er, wie viele seiner vornehmlich intellektuellen Zeitgenossen, der zunehmend materialisierten Welt zu entfliehen. Den Untergang der Ideen zugunsten eines banalen Pragmatismus konnte und wollte der Schwärmer nicht hinnehmen. Wenngleich dieser Krieg ihm auch keine Erlösung brachte, so hielt er doch in aller Konsequenz an seinen Ideen fest: „Was zählt ist das Beispiel, der Tod bedeutet nichts.“ Selbst als der Krieg, der nach klassischem Vorbild die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln bedeutete, gescheitert war und in bloße Zerstörung ausartete, wurde Jünger nicht müde, den Krieg an sich zu preisen. So ließ er einen Kameraden festhalten: Einem Soldaten sollte es verboten sein, das Wort Frieden in den Mund zu nehmen!

Ernst Jünger war einer der umstrittensten Autoren des 20. Jahrhunderts, das er mit seinen 102 Lebensjahren (1895-1998)  beinahe gänzlich durchmaß. Er war ein Unangepasster, ein Solitär, der alles erlebte, alles probierte, viel Kritik übte und viel Kritik und auch Häme einstecken musste. Die Linken sahen in ihm ein Verklärer und Propagandisten des Krieges, die Rechten einen idealistischen Heroen, der sich auch heute noch leicht vor den Nationalismuskarren spannen lässt. PEGIDA-nahe Medien tun dies jedenfalls. Tatsächlich war er wohl einer der letzten großen Tragöden in der Kunst, von Heiner Müller bewundert und Frank Castorf zitiert. Eben diesen Anspruch befeuerte er mit aller Extravaganz, die einem Intellektuellen im Jahrhundert der Katastrophen zur Verfügung stand. So kann man den „preußischen Anarchisten“ durchaus als einen „aristokratischen Dandy“ sehen, der aber vor allem eins war, ein „heroischer Nihilist“.

Regisseur Andreas Wiedermann brachte den Text als „szenisches Konzert“, als musikalische Prosa, als Endzeitrequiem furios auf die kleine Bühne des Teamtheater. Neun Darsteller rezitierten Ernst Jünger und setzten dabei eindrucksvoll in Szene, was sie sprachen. Wiedermann forderte ihnen dabei viel  ab. Es begann artig wie eine Lesung, bis im Text der erste Tote zu beklagen war. Unvermittelt streckte es einen der Darsteller zu Boden. Nach einer guten Stunde „Krieg“ in Wort und Spiel stiegen die Darsteller in Uniformen, wurden Masse, Kanonenfutter, und beschmierten sich mit dem Schlamm des Schützengrabens, aus dem sie sich wegen der Unerbittlichkeit des Krieges nur noch um den Preis der Selbstvernichtung erheben konnten.

Die starke und bildhafte Sprache Jüngers schuf „Sprachkulissen“, die ein opulentes Bühnenbild (Udo Ebenbeck) weitestgehend überflüssig machte. Die raumgreifende Darstellung zwischen melodischen Wortkaskaden, bellenden Mutmachparolen, brüllenden Kameradschaftsakkorden und ausgefeiltem Totentanztheater konterkarierte die heroischen und kitschigen Kriegerposen, die Jünger in Körper und Geist immer wieder einnahm. Die suggestive rhythmische Untermalung der Percussionistin Agnieszka Engelsdorf machte den Krieg zudem akustisch erfahrbar. Es gab Momente, die Gänsehaut erzeugten und die die Herzfrequenz anschwellen ließen.

Wiedermann und seinen Darstellern gelang eine eindeutige und unmissverständliche Haltung, ohne irgendwelche Interpretationsansätze mitzuliefern oder einzufordern. Die künstlerische Brechung des Berichtes von Ernst Jünger ließ nur ein Gefühl zu, das des Abscheus und des Entsetzens über diese Kriegsbegeisterung. Jünger hat sein Buch „In Stahlgewittern“ bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts immer wieder umgeschrieben, wohl auch, um dem Vorwurf zu entgehen, Kriegsbegeisterung schüren zu wollen. In der vorliegenden künstlerischen Aufarbeitung ist ein echtes Antikriegsstück entstanden, das beim Zuschauer durchaus kathartische Wirkung erzeugte.

Und noch etwas hämmerte das gut zweistündige Werk in das Bewusstsein der Zuschauer - eine brandgefährliche Aktualität. Nicht nur, dass sich die ideenarmen (ideologiereichen) Zeiten heute und vor dem I. Weltkrieg durchaus ähneln, der alte Kriegertypus à la Jünger ist wieder auferstanden. Noch einmal zur Erinnerung: „Was zählt ist das Beispiel, der Tod bedeutet nichts.“ Das klingt wie ein Bekennerschreiben des „Islamischen Staates“. Dieser Satz ist tauglich, als Definition für „Selbstmordattentat“ zu bestehen. Und noch eine Parallele drängt sich auf, die Ratlosigkeit in Gesellschaft und Politik. Möge der Inszenierung noch viele Zuschauer beschieden sein. Es lohnt sich. Großes Lob den Darstellern und Herrn Wiedermann!

 

Wolf Banitzki

 


In Stahlgewittern

von Ernst Jünger

Requiem für zehn Spieler und ein Grammophon

Simon Brüker, Friedrich Custodio, Agnieszka Engelsdorf, Urs Klebe, Matthias Lettner, Christina Matschoss, Clemens Nicol, David Thun, Matthias Wagner, Johanna Weiske

Regie: Andreas Wiedermann 

Teamtheater Tankstelle Cyrano, Poet und Haudegen von Edmond Rostand / Roets / Vissers


 

 

Wie die Nase eines Mannes, … so auch sein Selbstbewusstsein

Es ist eine romantische Liebesgeschichte, deren Plot zu hemmungslosen Tränen rühren könnte, wäre da nicht das Ding, das stets im Weg ist, dass sich in jedermanns Bewusstsein bohrt und das den wunderbaren und liebenden Helden Cyrano de Bergerac, Poet und Feingeist mit geschliffener Zunge, verstummen lässt im Angesicht der Angebeteten. Das begehrte Weib ist die Cousine Roxane. Das Ding ist die Nase Cyranos, ein wahrhaft gewaltiger Zinken, dessen Anblick manchem Mitbürger das Leben kostet, denn einzig Cyrano ist es erlaubt, Scherze über das Monstrum zu machen. Wer dies vergisst, sieht sich mit der Degenspitze des adligen Hauptmanns konfrontiert. Einer, der sich dergestalt gefordert sieht, ist der Comte de Guiche, Marschall von Frankreich. Der alte Zausel hatte der schönen Roxane den Hof gemacht und um ihre Hand angehalten. Cyranos Degen brachte ihn jedoch vom Freierspfad ab, was den nachtragenden Marschall zutiefst verletzte. Seine Stunde der Vergeltung würde kommen, soviel war gewiss. Roxane indes hatte sich in einen dümmlichen, aber schönen Laffen namens Christian von Neuvillette, wie Cyrano Gascogner Kadett, verliebt. Sie bittet ihren mannhaften Cousin, seine starke Hand über den Neuling im Regiment zu halten.

In seiner tiefen Liebe zu Roxane und angesichts der Tölpelhaftigkeit des auserwählten Christian, leiht Cyrano dem stupiden Liebhaber sein poetisches Talent und seine tiefen Gefühle, um das Mädchen glücklich zu machen. Er schreibt ihr Liebesbriefe und Gedichte und betört sie sogar unerkannt mit eigener Stimme. Christian fährt die Ernte ein und heiratet sie. Doch er kann die Früchte nicht genießen, denn es ist die Stunde des Grafen Guiche, der, gerade zum Oberbefehlshaber der französischen Truppen gegen die Spanier ernannt, Cyrano und Christian an die Front schickt. Cyrano schreibt der Angebeteten im Namen Christians täglich zwei Briefe und bringt diese des Nachts sogar durch die feindlichen Linien. Als Roxane auf dem Schlachtfeld auftaucht, um dem Ehemann ihre Aufwartung zu machen, fällt dieser. 14 Jahre verbringt Roxane in einem Kloster, erfüllt vom Andenken ihres einzigartigen Mannes. Pünktlich jeden Samstag erscheint Cyrano bei seiner Angebeteten. Er vermag die Illusion aufrecht zu erhalten bis zum Tag seines Todes. In einem Attentat schwer verletzt, erscheint er bei Roxane, die in diesem Augenblick erkennt, wen sie tatsächlich geliebt hat. Doch es ist zu spät. Cyrano stirbt in ihren Armen.


Das von Edmond Rostand 1897 verfasste romantisch-komödiantische Versdrama feierte am 28. Dezember 1897 am Pariser Théâtre de la Porte Saint-Martin seine glanzvolle Uraufführung. Das Stück hat alles, was ein Erfolgsstück braucht, eine betörende Liebesgeschichte, Sex and crime und action. Darum ist es auch in seiner mehr als hundertjährigen Geschichte vielfach adaptiert worden. Die Produktion des FRITZ-Theaters Chemnitz mit dem Titel „Cyrano, Poet und Haudegen“ kam am 15. August auf die Bühne des Teamtheaters Tankstelle. Es war eine springlebendige, schmissig-komische und komödiantische Interpretation des Stoffes um den langnasigen Helden. Antonio da Silva verkörperte einen properen Cyrano, dem man sowohl die physische Gefährlichkeit wie auch den poetisch-geistvollen Liebenden abnahm. Da Silva gelang es mit physischer Agilität die Erwartungen, die man gemeinhin an ein Mantel- und Degenstück hat, hinreichend zu entsprechen. Es gelang ihm aber ebenso, sensibel das Leiden des vermeintlich ungeliebten Mannes sichtbar zu machen und Momente voller Tragik zu erzeugen, die nie rührselig wurden. Das war wohl die wichtigste Qualität der gelungen Inszenierung, denn allzu verführerisch ist es bei diesem Stück, das Publikum mit plattem Witz und rüdem Haudrauf zu unterhalten.


Für die Inszenierung zeichnete Hardy Hoosman verantwortlich, der gleichsam fast alle anderen Rollen gestaltete. Dem hageren, hoch aufgeschossenen Schauspieler mit kantigem Charaktergesicht fiel es dabei wahrlich nicht leicht, einen schönen, jungen Liebhaber mit den „Locken eines griechischen Gottes“ zu spielen. Allein, dieser Christian war ein recht blöder Geselle und so stand Hoosman die der Figur innewohnende Komik rettend zur Seite. Die lebte er ebenso hemmungslos als kriegsversehrter, aber immer noch eine wackere Klinge schlagender Comte de Guiche mit Handprothese und ohne jegliche Gefühlsmimik aus. Als grimassieren Soldat indes schien er einem Slapstickfilm entsprungen zu sein. Isabelle Weh spielte ihre Roxane leichtfüßig und erfrischend. Sie war keine vom Aphrodisiakum der Liebe benebelte Barbie, sondern ein bodenständiges Mädchen mit aufrichtigen Träumen.


Der Spielraum war von Elke Scheuermann entworfen und von Carsten Linke und Lars Erik Lang umgesetzt worden. Er bestand aus zwei begehbaren goldfarbenen Türmen mit einem laufstegartigen Möbel, aus dem Podeste herausgelöst werden konnten, das aber auch Schubladen für Spielutensilien und sogar Kanonen beinhaltete. Es war ein wahrhaft praktisches Bühnenmöbel, das viel vorstellen, aber auch viel beinhalten konnte.


Die knapp zweistündige Inszenierung war kurzweilig und unterhaltsam, weil rasant, lebendig und über weite Strecken komisch bis saukomisch. Szenische Lösungen überraschten, Texte berührten und manche Geste sprang als zeitgenössisch über die Rampe. Dem Publikum gefiel es und so bedachte es die guten Leistungen der Darsteller mit viel ehrlichem Applaus. Wer also auch im Sommerloch (Was immer das sein mag?) nicht auf Theater verzichten möchte oder kann, dem sei diese Inszenierung wärmstens empfohlen. Sie ist bis zum 6. September von Mittwoch bis Samstag und ab dem 31. August bis zum 7. September auch jeden Sonntag zu sehen. Also: Nix wie hin!

 

Wolf Banitzki

 


Cyrano, Poet und Haudegen
poetisches Abenteuer von Edmond Rostand / Roets / Vissers
Eine Produktion des FRITZ- Theaters Chemnitz

Isabelle Weh, Antonio da Silva, Hardy Hoosman

Regie: Hardy Hoosman

Teamtheater Tankstelle Fast Perfekt von Nicole Moeller


 

 

Von der Vergeblichkeit, Wahrheiten zu schaffen

Gibt es eine Wahrheit, die Wahrheit, die allen und allem gerecht wird? Nein, denn die Wahrheit kann nur außerhalb von uns existieren. Sobald wir objektive Realität reflektieren, wird sie subjektiv und kann keine Wahrheit mehr sein. Doch wir können und wollen ohne Wahrheit nicht leben, einige von uns jedenfalls, und darum lassen wir nichts unversucht, in den Besitz der Wahrheit zu gelangen. Die Wahrheit ist uns so wichtig, weil sie uns vielleicht Erlösung bringen könnte aus Konflikten, die wir nicht bewältigen können, mit denen wir aus objektiven oder auch aus subjektiven Gründen überfordert sind.

Leider ist die Wahrheit, die vermeintliche oder auch die wirkliche, oder das, was wir dafür halten, auch zu einer Ware geworden. Das Business, das damit handelt, nennen wir Medien. Wahrheit dient heutigentags allerdings nicht unbedingt dem Wissenszuwachs, der Erweiterung von Weltanschauung, sondern vornehmlich der Unterhaltung, der Befriedigung unseres Voyeurismus, der die ursprüngliche menschliche Neugierde völlig ersetzt zu haben scheint. Dem entsprechend haben ausgewählte Themen, insbesondere Gewalttätigkeiten und andere menschliche Katastrophen Konjunktur. Selbst im öffentlich rechtlichen Fernsehen gibt es ganze (Vorabend-) Sendungen, die über Entführungen, Vergewaltigungen, Suizide, Auslöschungen ganzer Familien durch Amokläufe gescheiterter Familienväter, Überfälle oder Einbrüche „informieren“.

Mit „Fast Perfekt“ (An Almost Perfect Thing) von der kanadischen Autorin Nicole Moeller bescherte uns das Teamtheater unter der Spielleitung von Dieter Nelle eine Variation zum Thema. Die Geschichte erzählt von der achtzehnjährigen Chloe, die mit zwölf Jahren entführt wurde und nach sechs Jahren unvermittelt wieder auftaucht. Weder die Polizei, noch Psychologen können dem sensiblen Mädchen entlocken, was ihr in den sechs Jahren tatsächlich widerfuhr. Sie selbst erwählt Greg, einen mittelmäßigen Journalisten, um sich ihm anzuvertrauen, denn er hatte sechs Jahre zuvor von ihrer Entführung berichtet. Chloe kannte diese Artikel, die ihr ein Stück der verloren gegangenen Realität in ihren Kerker brachte. Der Dritte im (theatralen) Spiel um die Wahrheit war Mathew, der Entführer. Der nahm auch nach der Flucht Chloes weiterhin „mitfühlend“ an ihrem Leben teil, denn Journalist Greg versuchte in einer wöchentlichen Kolumne der Wahrheit über Chloes Martyrium soweit nahe zu kommen, dass die Identität des Entführers offenbar werden würde.

Soviel vorab: Voyeurismus wurde hier keinesfalls bedient und Wahrheit fand sich nur in der Handlung, nicht in der Reflexion derselben. Am Ende stand der Betrachter mehreren schwer fassbaren Varianten von Wahrheit gegenüber, die sämtlich unbefriedigend waren, denn unsere (zumeist klischeehaften) Vorstellungen und Erwartungen erfüllten sich nicht. Zwar gab es so etwas wie Gerechtigkeit, doch die hinterließ viel Verunsicherung und ein Wechselbad der Gefühle beim Zuschauer.

Regisseur Dieter Nelle wählte für sein Regiekonzept eine besondere Perspektive. Ausstatterin Aylin Kaip schuf ihm dafür drei leichte und durchscheinende Raum-Versatzstücke: die Wohnung von Greg, die Wohnung von Mathew und Chloes Gefängnis. Da die Texte von Nicole Moeller mosaikartige Brocken waren, die häufig den räumlichen Bezug wechselten, platzierte Dieter Nelle die Darsteller nicht in die Räume, sondern bracht die Räume durch Drehen oder Verschieben zu den Darstellern. Damit blieb die Erzählkontinuität gewährleistet.

Die sensiblen Texte, am Anfang von gegenseitiger Verweigerung geprägt, fanden erst langsam zu einem Fluss. Mit ihnen wandelten sich zunehmend auch die Haltungen der Darsteller. Elisabeth Grünebachs anfänglich unbedarft und noch kindlich wirkende Chloe entwickelt sich im Verlauf der „Wahrheitsfindung“ zu einer Frau mit Sehnsüchten und Begierden. Das „Opfer“ offenbarte bald Machtansprüche und verriet Strategien, die Schaudern machte. Bald schon wurde deutlich, dass diese Entführungsgeschichte und ihre Aufarbeitung sehr ambivalent abliefen.

Sascha Maazs Täter Mathew erfüllte so gar nicht das Bild eines Entführers. Vielmehr entpuppte er sich als ein simpel gestrickter, psychisch instabiler, stotternder Mann, der unbeholfen Liebe einforderte, die er bislang, wenn überhaupt, nur von seiner Mutter bekommen hatte. Nach dem Tod der vermutlich sehr dominanten Frau war Mathew mit seinen Sehnsüchten allein geblieben. Er hatte keinen anderen Weg als die Entführung gefunden, einem Menschen nahe zu sein und ihn an sich zu binden. Sascha Maaz spielte dieses armselige Geschöpf als einen innerlich zerrissenen Mann, der neben seiner explosiv-aggressiven Haltung gegenüber der Welt durchaus auch zärtliche Züge aufwies. Die gelungene Darstellung führte zu einer Verständlichkeit der Figur, verführte allerdings nicht zu einem Mitleid, das sein Tun entschuldigte. Er blieb in jedem Fall der Täter.

Täter war allerdings auch der Journalist Greg. Stefan Maaß stattete ihn anfänglich mit einer glatten Fassade aus, die bald zu bröckeln begann. Dahinter verbarg sich ein erfolgshungriger Mann,  der mit dieser Geschichte unbedingt seinen Durchbruch erreichen wollte. In seiner Gier nach journalistischem Ruhm lotete er immer wieder die Grenzen der Belastbarkeit Chloes aus. Die, selbst nur auf der Suche nach ein wenig Nähe, Liebe und Geborgenheit, bediente sich indes durchaus erfolgreich der Strategien ihres Peinigers Mathew.

Es war ein Spiel um Macht, um die unbedingte Durchsetzung der ureigenen Wahrheit. Doch es gab mindesten drei Wahrheiten, die keinen Konsens zuließen. Es war im Grunde eine tragische Geschichte für alle Beteiligten. Das Ringen um die perfekte Erklärung aller Vorgänge scheiterte, wie jeder Versuch, Perfektion zu erreichen, scheitern muss. G. L. Borges brachte es sehr treffend auf den Punkt: „Perfektion ist keine Tugend, sie ist nur die Abwesenheit von Fehlern.“ Es ist nicht nur die menschlichste aller Eigenschaften, Fehler zu machen, es ist auch das Privileg des Menschen. Und daran wird die Wahrheit immer unweigerlich scheitern. Es bleibt stets nur „Fast perfekt“, - im Teamtheater großartig als spannender Thriller inszeniert und gespielt, den man unbedingt gesehen haben sollte.             

 

Wolf Banitzki

 


Fast Perfekt

(An Almost Perfect Thing)
von Nicole Moeller

Stefan Maaß, Elisabeth Grünebach, Sascha Maaz

Regie: Dieter Nelle

Teamtheater Tankstelle Baskerville. The Lost Cases of Sherlock Holmes. von Arthur Conan Doyle


 

 

Sherlock Holmes Diskurs

Wer kennt ihn nicht, den englischen Romanschriftsteller Sir Arthur Conan Doyle (1859 - 1930), Vater des Meisterdetektivs Sherlock Holmes und seines Freundes Dr. Watson? Holmes ist der Ahnherr aller Romandetektive. A.C. Doyle selbst veröffentlichte in  knapp vierzig Jahren mehr als fünfzig seiner abenteuerlichen Geschichten. Er war nicht nur ein genialischer Schriftsteller, er war auch ein Weiser in Fragen Moral und Psychologie. Seine akribisch ausgefeilten Ideen verweisen immer wieder darauf, dass Wahrnehmung die unbedingte Fähigkeit eines Detektives sein sollte: „Es gibt nichts Trügerischeres, als eine offensichtliche Tatsache.“ Seine kriminalistischen Methoden sind dabei durchaus alltagstauglich. Doyles Rat: „Es ist ein kapitaler Fehler, eine Theorie aufzustellen, bevor man entsprechende Anhaltspunkte hat. Unbewusst beginnt man Fakten zu verdrehen, damit sie zu den Theorien passen, statt dass die Theorien zu den Fakten passen.“

Nicht von ungefähr wurde der Autor und Schöpfer der Figur des Sherlock Holmes mit derselben identifiziert. Das lag wohl daran, dass dieses kapriziöse und höchst eitle Wesen in hohem Grade glaubhaft war. Zudem nimmt eine Figur, wird sie vom Autor durch vier Jahrzehnte ausgeführt, unweigerlich einige seiner Eigenschaften und Züge an.

Das Projekt „Baskerville“ vom Theater ImPuls stützte sich auf die späten Werke, da für den abgeklärten A.C. Doyle Moral darin zu einer fragwürdigen Angelegenheit geworden war. Die fragmentarisch, wie ein Puzzlespiel zusammengesetzten Fallszenen zeigten auf, dass „am Ende aus juristischen Tätern moralische Opfer und umgekehrt werden“.

Im Programm werden die beiden Detektive wie folgt charakterisiert: „Als obsessive Beobachter menschlichen Handelns werden Sherlock Holmes und John Watson zu Figuren unserer Zeit, wissenschaftsgläubig, blasiert, autistisch, asozial, überinformiert und gleichgültig – Chirurgen der Gesellschaft, Nerds, die wie Voyeure menschliche Leidenschaften im Monitor des Lebens betrachten, bis sich der Londoner Nebel verdichtet…“ Letzteres stimmt nicht ganz, denn der letzte Nebel waberte über das Moor von Baskerville, wo Holmes seinen letzten Fall löste. Das Vorhaben, die beiden Figuren über ihr kriminalistisches Handeln zu sezieren, klingt erst einmal interessant. Die aufgezeigten sieben Fälle boten genug Anlässe für den Meisterdetektiv, seinen Intellekt, seine Wahrnehmungsgabe, seine inspiratorischen Fähigkeiten und seine Rhetorik blitzen und funkeln zu lassen. Allein, diesen Glanz konnte das Vorhaben nicht in gewünschtem Maße entfalten.

Udo Ebenbecks Bühne bestand aus zwei Sesseln, links und rechts auf der vorderen Bühne platziert, die die Bakerstreet 221b vorstellten. Hier wurden Besucher empfangen und hier fabulierten der Meister und sein Gefährte vor sich hin. Im Hintergrund befand sich ein breiter, schaufensterartigen Glaskasten, in dem man Vorgänge und Taten wie in einem Terrarium beobachten konnte. Nicht selten basierte der Erfolg der beiden Detektive, scheinbar unlösbare Fälle zu entwirren und aufzuklären, auf der Dummheit und der Ignoranz der Polizei. Dieser Aspekt blieb in Andreas Wiedermann Inszenierung weitestgehend unbeachtet. Dabei brachte eben diese Konstellation eine gehörige Portion Humor in die Geschichten Doyles, auf die der Zuschauer im Teamtheater allerdings verzichten musste, von einigen, eher kläglichen Versuchen abgesehen, Zeitgenossen zu persiflieren. Urs Klebe war bemüht, der Figur eine ignorante Arroganz zu verleihen, was ihm allerdings körperlich nicht gelang. Da überzeugte David Thun als Dr. Watson schon eher. Das Spektrum seiner Haltungen war nicht nur größer, sondern auch präziser. Urs Klebe verharrte zumeist tief im Sessel versunken und zog so allzu selten die Konzentration auf sich, die nötig gewesen wäre, seinen brillanten Gedankengängen die nötige Leuchtkraft zu verleihen.

Präzision und Konzentration waren die Eigenschaften, die der Inszenierung mangelten. Vielleicht hätte man sich auf weniger Fälle beschränken sollen, diesen aber mehr Raum zum atmen gelassen. Dann wären die Darsteller, deren Bemühungen durchaus anerkennenswert waren, nicht so unter Druck gewesen, die unvermeidlich hohe Zahl der Rollen gestalten zu müssen. Man kam als Zuschauer zugegebenermaßen auch schon mal durcheinander, wenngleich sich die Irritationen im Verlauf der Geschichten wieder verflüchtigten. Weniger Geschichten wären einprägsamer gewesen und darüber hinaus wäre der Subtext, die philosophischen und ethischen Bonmots, eingängiger und lustvoller gewesen. Und um diesen Subtext, liest man das Programm aufmerksam, ging es den Machern doch vornehmlich.   

Schade, etwas weniger wäre mehr gewesen. Abgesehen davon haben derartige Vorlagen immer auch den Nachteil, dass der Zuschauer seine Erinnerungen bemüht, denn, ist er ein wenig betagter, kennt er die Geschichten aus Büchern und vor allem aus Filmen, denn die Geschichten sind z.T. mehr als einmal auf Zelluloid gebannt worden. So kann sich, geht die theatralische Performance nicht deutlich über die Erinnerung hinaus, allzu schnell Überdruss einstellen.

Dabei hatte Arthur Conan Doyle das Verhältnis zwischen Realität und Fiktion ziemlich eindeutig definiert. Es fällt nicht unbedingt zugunsten der Fiktion aus: „Das Leben ist unendlich viel seltsamer als irgendetwas, das der menschliche Geist erfinden könnte. Wir würden nicht wagen, die Dinge auszudenken, die in Wirklichkeit bloße Selbstverständlichkeiten unseres Lebens sind.“ Die Herausforderung war nun, den Zuschauern diese Wirklichkeit unterhaltsam und vor allem spannend zu vermitteln. Das gelang nicht in dem erhofften Maße. So blieb es eher ein Sherlock Holmes Diskurs.

Wolf Banitzki

 


Baskerville. The Lost Cases of Sherlock Holmes.

von Arthur Conan Doyle

Franz Brandhuber, Simon Brüker, Urs Klebe, Christina Matschoss, Clemens Nicol, Andreas Niedermeier, Friedrich C. Spieser, Micky La Rosée, David Thun, Matthias Wagner und Stefan Fischer/Jakob Rudi.

Regie: Andreas Wiedermann

Wir benutzen Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.